Zum Inhalt springen
Qries Qries Qries Qries Qries Qries

Empfohlene Beiträge

 

Das Gleichgewicht zwischen Diesseits & Jenseits

 

 

„Vom Bauch der Mutter kamen wir zum Marktplatz,

nur ein Leichentuch kauften wir und ließen uns begraben“

Mevlana Dschalal ad-Din ar-Rumi

 

Als Nasreddin Hodscha gefragt wurde, wo das Zentrum der Erdkugel sei, sagte er, es sei genau da, wo er selbst gerade stehen würde. Gewiss war es nicht Hodschas Intention, sich selbst ins Zentrum der Erde zu stellen. Jedoch kann aus dieser kleinen Erzählung eine wichtige Erkenntnis herausgelesen werden: Jeder Mensch ist der Hauptdarsteller seines eigenen Lebens und sieht sich im Zentrum seines Seins und damit auch des Diesseits.

 

Bleiben wir beim Zweiten. Das Diesseits ergreift jeden Menschen. Wie sollte es auch anders sein? Der Mensch lebt und fühlt in ihr. Er liebt und hasst. Isst und schläft. Arbeitet und zeigt Fleiß. Während all dies Mittel für höhere Ziele sind, vertieft sich der Mensch jedoch so tief in diese Angelegenheiten, dass die Mittel zu Zwecken werden. Das eigentliche Ziel, das Jenseits zu einem friedvollen Ort zu verwandeln, wird sekundär.

 

Das diesseitige Leben ist also nur eine Vorstufe, ein Feld, auf dem für das Jenseits „geackert“ werden muss. Das geprüfte Individuum soll hier seine Prüfung ablegen, doch dabei niemals das eigentliche Ziel vor den Augen verlieren. Im Diesseits soll man sich das Jenseits verdienen. Somit werden das Diesseits zu einem Ort des „Zeitvertreibs“ und der Anstrengung und das Jenseits zum eigentlichen Ort der Belohnung und des Friedens.

 

Unser Schöpfer weist im Koran mehrmals auf diese Wahrheit hin:

 

„Das Leben in dieser Welt ist wahrlich nichts als ein Spiel und Vergnügen. Und wahrlich, die Wohnstätte des Jenseits ist für jene besser, die gottesfürchtig sind. Wollt ihr (das) denn nicht begreifen?“ (1) Wahrlich begreift der Mensch diese Tatsache nicht. Materieller Genuss und Überfluss lassen ihn vergessen.

 

Auch in den kommenden Versen wird das Leben im Diesseits immer wieder als Spiel bezeichnet:

 

„Dieses irdische Leben ist nichts als ein Zeitvertreib und ein Spiel; die Wohnstatt des Jenseits aber - das ist das eigentliche Leben, wenn sie es nur wüssten!“ (2)

 

„Wahrlich, das diesseitige Leben ist nur ein Spiel und Zeitvertreib, und wenn ihr gläubig und gottesfürchtig seid, so wird Er euch euren Lohn geben und wird nicht euer Gut von euch verlangen.“ (3)

 

„Wisset, dass wahrlich das diesseitige Leben nur ein Spiel und ein Zeitvertreib ist und ein Prunk und Geprahle unter euch und ein Wettrennen um Vermehrung von Gut und Kindern. […] Und das diesseitige Leben ist nichts anderes als eine Nutznießung, durch die man sich betören lässt.“ (4)

 

Es ist also auffallend, dass das Diesseits mit den Begriffen „Spiel“ und „Zeitvertreib“ beschrieben wird, wohingegen das Jenseits mit „eigentliches Leben“. Trotzdem verliert sich der Mensch – ja sogar der gläubige Mensch – in dieser Welt und vergisst Gottes Wort:

 

„Tauscht Meine Zeichen nicht ein gegen einen geringen Preis, und Mir allein gegenüber sollt ihr ehrfürchtig sein.“ (5)

 

Unser Schöpfer verdeutlicht hier, dass das irdische Leben nicht gegen das Jenseits ausgetauscht werden soll. Doch auch das Jenseits soll nicht gegen das Diesseits eingetauscht werden. Beide Welten sind wichtig. In beiden soll man nach Frieden streben. Man soll hieraus aber verstehen, dass das noch wichtigste im Diesseits nicht wertvoller ist, als das unwichtigste im Jenseits. Der Islamgelehrte Said Nursi weist ebenfalls auf diese Wahrheit hin: „Was aber diese Welt betrifft, so ist sie bei all ihrer Pracht verglichen mit dem Jenseits einem Kerker gleich“. (6)

 

Wenn wir aber das Diesseits als Prüfung sehen, akzeptieren wir auch gleichzeitig, dass es vergänglich ist. Das heißt, es hat ein Ende. Im Vergleich zum unendlichen Leben, ist jedes endliche Leben von kurzer Dauer. Dies können wir sehr leicht mathematisch belegen (7).

 

Wir setzen nun zwei Zahlen in Verhältnis, um sie zu vergleichen.

 

½ = 0,5

Nun erhöhen wir den Nenner.

 

¼ = 0,25

 

Wir sehen, wenn wir den Nenner bei konstantem Zähler vergrößern, verkleinert sich unser Ergebnis. Somit können wir in unserem Beispiel sagen, je größer der Nenner, desto kleiner das Ergebnis.

 

Kommen wir nun zu unserem eigentlichen Vergleich. Für das diesseitige Leben setzen wir eine Zahl von 100 ein. Für das jenseitige Leben wird unendlich eingesetzt. Somit ergibt sich folgende Gleichung:

 

100/ ∞ =

 

Das Ergebnis dieser Gleichung ist unendlich Null. Somit ist die Lebenszeit hier im Diesseits im Vergleich zum Jenseits gleich Null. Alles Vergängliche ist Null. Das bedeutet aber nicht, dass das Leben auf Erden so wertlos wie eine Null ist, sondern, dass man für diese Welt nur das investieren sollte, wovon man die Belohnung im Jenseits unendlichfach bekommen wird. Hier der Vers, an den wir uns öfters erinnern sollten: „Und sie freuen sich über das diesseitige Leben; das diesseitige Leben ist aber im Vergleich mit dem Jenseits nur Nutznießung (die keinen Bestand hat).“ (8)

 

Wenn wir also vergegenwärtigen, welch großer Lohn auf uns im Jenseits wartet, verstehen wir erst, welchen großen Verlust wir haben, wenn wir nur für das diesseitige Leben arbeiten. In dem wir in dieser Welt nur danach trachten, ein kurzes, vergängliches Leben in Freude und Genuss zu verbringen, verlieren wir ein unendliches Leben voller Ruhe und Frieden. Gleichzeitig sind wir auch im Verlust, wenn wir nur nach dem Jenseits trachten und diese Welt vergessen. So erlaubte es der Prophet (Friede sei mit Ihm) seinen Anhängern nicht, sich in Höhlen zurückzuziehen und nur Gottesdienste abzuhalten. Der Mensch ist soziales Wesen, das Gesellschaft braucht. Der Muslim muss versuchen, dieses Gleichgewicht zu halten und sich für beide Welten anstrengen.

 

Dieser Fehler würde uns nicht passieren, wenn wir uns an die Worte unseres ehrwürdigen Propheten Muhammed (Friede sei mit Ihm) erinnern würden: „Seid in dieser Welt wie ein Fremder oder wie einer, der eine Reise tut.“ (9) Denn Jemand, der die Erkenntnis hat, dass er in dieser Welt nur ein Fremder ist, ein Reisender, der so bald in seine eigentliche Heimat zurückkehren wird, arbeitet sowohl fleißig für das Jenseits, als auch hat er seine Sachen im Diesseits bereit. Denn der Reisende füllt seinen Koffer hier im Diesseits.

 

Dies kann man mit folgendem Beispiel verdeutlichen: Die türkischen Gastarbeiter kamen in den 60er Jahren nach Deutschland um ihre finanziellen Mittel zu verbessern. Danach wollten sie schleunigst wieder in die Türkei zurück, um dort ihr Leben „zu genießen“. Doch sie taten es nie. Nur wenige kehrten zurück. Die meisten erreichten nie „das Ende der finanziellen Mittel“, so dass es ihnen nie genügte (10).

 

Auch die Menschen wurden vom Schöpfer als „Gastarbeiter“ in eine Welt geschickt, in der sie für ihre eigene Heimat Verdienste sammeln sollen. Doch der Mensch vergaß sowohl, dass er ein Gastarbeiter ist, als auch, dass er in seine eigentliche Heimat zurückkehren wird. Daher sagt der Schöpfer im Koran: „Meint ihr denn, Wir hätten euch zum sinnlosen Spiel erschaffen und ihr würdet nicht zu Uns zurückgebracht?“. (11) Ja, wir sind Gastarbeiter auf Gottes Erden und wir werden in unser Heimatland, zu Ihm, zurückkehren.

 

Zum Abschluss noch einmal ein Ausspruch unseres ehrwürdigen Propheten, der für uns der Wegweiser ist. Er sagte, dass Derjenige, der das Diesseits gegen das Jenseits oder das Jenseits gegen das Diesseits eintauscht, im Verlust ist. Denn das Diesseits sei eine Brücke, die zum Jenseits führt. (12) Für Beides müsse man sich anstrengen. Für das Diesseits, als würde man nie sterben und für das Jenseits, als würde man gleich im nächsten Moment sterben. Ein aufrichtiger Muslim ist also Derjenige, der es schafft, im Gleichgewicht zwischen Diesseits und Jenseits zu leben.

 

Cemil Sahinöz

 

Publiziert in: Yeni Genclik, Nr.16, 2008, S.39-40

 

Quellenangaben:

(1) Der Koran: 6/32

(2) Der Koran: 29/64

(3) Der Koran: 47/36

(4) Der Koran: 57/20

(5) Der Koran: 2/41

(6) Nursi S.: Die Worte. Köln, k.A. S.359

(7) vgl. Sahinöz C.: Wer bist du? Die Reise des Menschen. 4. Auflage. Nesil Verlag: 2008, S.155-156

(8) Der Koran: 13/26

(9) Abdullah Ibn Umar; Buchari

(10) Natürlich spielen soziokulturelle und psychologische Faktoren auch eine Rolle. Dies ist nur ein Beispiel, der aus einem Blickwinkel „Die Arbeit für diese Welt“ verdeutlichen soll.

(11) Der Koran: 23/115

(12) Münavi, Feyzul-Kadir, 5/364 Ibn-i Asakir/Muhtarul Ahadis S.124

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Gast
Dieses Thema wurde nun für weitere Antworten gesperrt.
×
×
  • Neu erstellen...