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http://www.z-zukunft.eu/?2008-05,politik,031

 

Jürgen Todenhöfer hat für die neue Zukunftausgabe geschrieben

 

Unser Horizont ist nicht das Ende der Welt

 

1. Der Westen ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Millionen arabische Zivilisten wurden seit Beginn der Kolonialisierung getötet.

 

In seinem 1835 erschienenen Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika stellte der große französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville die für jene Zeit bezeichnende Frage: "Hat man beim Anblick der Vorgänge in der Welt nicht den Eindruck, dass der Europäer für die Menschen anderer Rassen das ist, was der Mensch für die Tiere bedeutet? Er macht sie seinem Dienst untertan, und wenn er sie nicht mehr unterjochen kann, vernichtet er sie." Für den liberalen Denker gab es konsequenterweise "keinen Grund, die muslimischen Subjekte so zu behandeln, als wären sie uns gleich". Nicht anders hat der Westen die muslimische Welt während der letzten zweihundert Jahre behandelt. Arabische Familien wurden in der Kolonialzeit wie "Hyänen, Schakale und räudige Füchse" gejagt. Die Strategie, mit der die Kolonialherren im 19. Jahrhundert den Widerstand gegen ihre "Zivilisierungsmission" brechen wollten, hieß: "ruinieren, jagen, terrorisieren" (Olivier Le Cour Grandmaison). (...)

 

Der aktuelle Irakkrieg zeigt ebenfalls eine atemberaubende Missachtung der muslimischen Welt. Schon beim Einmarsch der US-geführten Truppen wurden Tausende Zivilisten getötet. Unzählige wurden - zum Teil durch uranverseuchte Munition - zu Krüppeln gebombt. Eine in der Medizinfachzeitschrift Lancet veröffentliche Studie unabhängiger amerikanischer und irakischer Ärzte, geht von über 600.000 Irakern aus, die allein bis Juni 2006 durch das von den Besatzungstruppen angerichtete Kriegschaos ihr Leben verloren. (...) Seit Herbst 2007 ist die Zahl der Toten im Irak erfreulicherweise zurückgegangen. Trotzdem sterben nach vorsichtigen Schätzungen von Experten jeden Monat noch immer 6.000 irakische Zivilisten im Chaos des Krieges. Das sind doppelt so viel Menschen, wie am 11. September 2001 im World Trade Center. (...)

 

Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren hat ein muslimisches Land den Westen angegriffen. Die europäischen Großmächte und die USA waren immer Aggressoren, nie Angegriffene. Seit Beginn der Kolonialisierung wurden Millionen arabische Zivilisten getötet. Der Westen führt in der traurigen Bilanz des Tötens mit weit über 10:1.

 

2. Angesichts der Kriegspolitik des Westens ist es nicht wirklich erstaunlich, dass muslimische Extremisten immer mehr Zulauf bekommen.

 

Der westliche Kolonialismus wütete in fast allen Teilen der Welt. Aber in den erdölreichen Staaten des Mittleren Ostens hat er bis heute nicht aufgehört. Das unterscheidet diese Region von anderen Regionen der Welt und macht sie zum Nährboden des Terrorismus.

 

Terrorismus ist kein muslimisches, sondern ein weltweites Phänomen. (...) 36 der 48 von der EU 2006 offiziell als terroristisch eingestuften Organisationen haben mit dem Islam nichts zu tun. Diese "antiimperialistischen", "antikapitalistischen", "antiindischen" oder "antisinghalesischen" Terrororganisationen haben in Lateinamerika, Asien und Schwarzafrika unzählige Zivilpersonen auf dem Gewissen. Im öffentlichen Bewusstsein des Westens spielen sie keine Rolle. Weil sie keine Menschen unseres Kulturkreises töten. (...)

 

Samuel Huntington hat leider zumindest mit einer Aussage recht: "Der Westen hat die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, seiner Werte oder seiner Religion erobert, sondern durch seine Überlegenheit beim Anwenden organisierter Gewalt. Westler vergessen diese Tatsache oft, Nicht-Westler nie." Wie soll die muslimische Welt an unsere Werte Menschenwürde, Rechtsstaat und Demokratie glauben, wenn sie von uns nur Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung erlebt? Ist es wirklich erstaunlich, dass Extremisten immer mehr Zulauf bekommen? Dass einige Menschen irgendwann zurückschlagen, wenn ihre Familien wieder und wieder von unseren Vernichtungsmaschinen niedergewalzt werden? Niemand kommt als Terrorist auf die Welt. (...) Das mit rassistischem Ekel ausgesprochene "Bei uns würde so etwas nie passieren" fällt in sich zusammen, wenn man daran erinnert, dass 1977 in New York schon ein Stromausfall und 2005 in New Orleans ein Hurrikan genügten, um massenhafte Plünderungen, Mord und Totschlag auszulösen. (...)

 

3. Islamisch getarnte Terroristen sind Mörder. Für christlich getarnte Anführer völkerrechtswidriger Angriffskriege kann nichts anderes gelten.

 

Die von arabischen Terroristen seit Mitte der 90er-Jahre verübten Anschläge gegen westliche Einrichtungen sind aus deren Sicht eine Antwort auf den nicht endenden "organisierten Raubmord" des Westens. Sie kosteten, einschließlich der Anschläge auf das World Trade Center, über 5.000 westliche Zivilisten das Leben. Sie sind moralisch völlig inakzeptabel. Der Zweck heiligt nie die Mittel. Die Anschläge auf das World Trade Center wurden daher von allen muslimischen Regierungen, von Syrien und dem Iran, ja sogar von Hisbollah und Hamas, verurteilt. In vielen muslimischen Ländern legten Menschen erschüttert Blumen vor der US-Botschaft nieder. Terroristen, die Unschuldige töten, sind keine Freiheitskämpfer, keine Widerstandskämpfer, keine heiligen Krieger und keine Märtyrer. Sie sind Mörder.

 

Aber sind nicht auch die Hintermänner völkerrechtswidriger Angriffskriege Terroristen und Mörder - auch ihrer eigenen Soldaten? Muss man, wenn man über die 5.000 von Al-Qaida ermordeten Westler spricht, nicht auch über die hunderttausenden irakischen Zivilisten sprechen, die durch George W. Bushs völkerrechtswidrigen Krieg getötet wurden? Gelten die rechtlichen Maßstäbe, die wir an Saddam Hussein oder Slobodan Milosevic anlegen, nicht auch für westliche Regierungschefs? Warum wagen die westlichen Eliten nicht einmal die Frage zu stellen, obGeorge W. Bush und Tony Blair wegen ihres auf Lügen gebauten Irakkriegs nicht vor ein internationales Strafgericht gestellt werden müssten?

 

In der Urteilsbegründung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals heißt es: "Die Entfesselung eines Angriffskriegs ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft." Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson formulierte damals: "Nach dem gleichen Maß, mit dem wir heute die Angeklagten messen, werden wir morgen von der Geschichte gemessen werden." (...)

 

4. Muslime waren und sind mindestens so tolerant wie Juden und Christen. Sie haben die westliche Kultur entscheidend mitgeprägt.

 

Es waren keine Muslime, die den "heiligen Krieg" erfanden und auf Kreuzzügen unter dem Motto "Deus lo vult - Gott will es" (Urban II.) über vier Millionen Muslime und Juden niedermetzelten. Es waren keine Muslime, die in Jerusalem "bis zu den Knöcheln im Blut" wateten, bevor sie "glücklich und vor Freude weinend" zum Grab des Erlösers gingen, wie ein Zeitzeuge berichtet. (...) Es waren auch keine Muslime, die im Namen der Kolonisierung Afrikas und Asiens bis zu 50 Millionen Menschen massakrierten. Es waren keine Muslime, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg mit fast 70 Millionen Toten anzettelten. Und es waren keine Muslime, sondern wir Deutsche, die in einem industriemäßig organisierten Zivilisationsbruch sechs Millionen Juden - Mitbürger, Freunde und Nachbarn - schändlich ermordeten. Keine andere Kultur war in den vergangenen Jahrhunderten gewalttätiger und blutiger als die abendländische. (...)

 

Niemand kann bestreiten, dass die territoriale Expansion der muslimischen Dynastien zwischen dem 7. und dem 17. Jahrhundert - wie die der europäischen Mächte jener Zeit - meist mit dem Schwert geführt wurde. Auch von muslimischer Seite gab es unentschuldbare Massaker. Muslimische Eroberer haben in der Regel jedoch nicht versucht, Christen und Juden den Islam aufzuzwingen, sie zu vertreiben oder auszurotten. Als Saladin 1187 nach hartem Kampf Jerusalem zurückeroberte, verzichtete er demonstrativ auf Rache und schenkte der christlichen Bevölkerung gegen ein Kopfgeld die Freiheit. Armen Christen erließ er das Kopfgeld. Toleranz gegenüber Christen und Juden war Gesetz und Stolz der muslimischen Zivilisation. Unter muslimischer Herrschaft blieben ganze Völker christlich oder jüdisch, während die "christliche" Inquisition Andersgläubige auf Scheiterhaufen verbrannte. (...)

 

Muslime überlieferten uns im aufgeklärten andalusischen Zeitalter nicht nur die versunkenen Schätze griechisch-römischer Kultur und Philosophie. Sie schufen auch neue Wissenschaften. Ihnen sind die Anfänge der experimentellen Optik, der Kompass, die Kenntnis der Planetenlaufbahnen und wesentliche Teile der modernen Medizin und Pharmazie zu verdanken. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Wir leben heute in einer jüdisch, christlich und islamisch geprägten Kultur.

 

5. Nicht nur in der Bibel, auch im Koran sind die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten die zentralen Gebote.

 

Für Muslime stellt der Koran fest: "Seid gut (...) zu dem Nachbarn, sei er einheimisch oder aus der Fremde" (Sure 4,36). Auch im Islam gelten die "Zehn Gebote" einschließlich des Tötungsverbots - mit Ausnahme des Sabbat-Gebotes, da Gott nach islamischer Auffassung nach der Erschaffung der Welt keinen Ruhetag benötigte. Der Koran plädiert für "mehr Menschlichkeit und mehr Gerechtigkeit" (Hans Küng). Das Hauptproblem der westlichen Korandebatte besteht darin, dass jeder über ihn redet, aber kaum einer ihn gelesen hat. Die kriegerischen Passagen des Korans beziehen sich "erkennbar auf die damaligen Glaubenskriege zwischen Mekka und Medina und damit ausschließlich auf die Mekkaner und Medinesen jener Zeit", wie der ägyptische Religionsminister Mahmoud Zakzouk zu Recht festgestellt hat.

 

In Sure 29,46 heißt es: "Unser Gott und euer Gott ist ein und derselbe", auch wenn Gott auf Hebräisch Jahwe und auf Arabisch Allah heißt - selbst für arabische Christen. Ist es nicht eine ungeheuerliche Gotteslästerung, wenn Juden, Christen und Muslime die Bibel und den Koran als Waffe missbrauchen, um sich gegenseitig ihre Vorstellung von diesem einen Gott einzubläuen?

 

Terror ist nie religiös: Es gibt keinen "islamischen" Terrorismus, so wie der Terrorismus der nordirischen IRA nie "christlich" oder "katholisch" war. Wer sich als Terrorist teuflischer Methoden bedient, kann sich nicht auf Gott berufen. Es gibt lediglich einen islamisch maskierten Terrorismus, und der führt, wie christlich oder demokratisch maskierte Angriffskriege, nicht ins Paradies, sondern in die Hölle. (...)

 

6. Die westliche Politik gegenüber der muslimischen Welt leidet unter einer erschreckenden Ignoranz einfachster Fakten.

 

Einer der Lieblingssätze westlicher Stammtischstrategen lautet: "Wer den Ruf des Muezzins in unseren Städten verlangt, sollte auch in Teheran das Glockenläuten zulassen." Die Realität jedoch ist: In Teheran läuten die Glocken von 34 Kirchen, und christliche Kinder haben ihren eigenen Religionsunterricht. In Teheran existieren sieben Synagogen, rund 4000 jüdische Kinder besuchen jüdische Schulen. Es gibt sechs koschere Metzger, zwei koschere Restaurants und ein jüdisches Krankenhaus, dem kürzlich sogar Irans Zündler Mahmud Ahmadinedschad Geld spendete. (...)

Wirklichen Antisemitismus und staatliche Judenverfolgung wie in Europa hat es im Iran und in anderen muslimischen Staaten nie gegeben. Während der Nazi-Zeit flohen viele europäische Juden über den Iran in die Freiheit. Die Juden im Iran sind angesehene Mitbürger. Der jüdische Direktor des jüdischen Krankenhauses von Teheran, Ciamak Morsathegh,brachte es auf eine für Europa peinliche Formel: "Antisemitismus ist kein islamisches, sondern ein europäisches Phänomen." (...)

 

Die westliche Ignoranz gegenüber der muslimischen Welt zeigt sich auch in viel banaleren Fragen als dem Irankonflikt - zum Beispiel in der vor allem in Europa weit verbreiteten Einstufung des muslimischen Kopftuchs als "Kampftuch" oder als "Symbol für die Unterdrückung der Frau". (...) "Wer fünf muslimische Frauen mit Kopftuch befragt", amüsiert sich die Wochenzeitung DIE ZEIT über den Kreuzzug für ein kopftuchfreies Europa, "wird fünf verschiedene Botschaften finden. Die eine trägt ihr Kopftuch für Gott, die andere, weil es so gut zu ihren H&M-Klamotten passt. Die dritte Kopftuchträgerin wird sich als vehemente Feministin entpuppen, die vierte verweist auf die dörfliche Sitte, der fünften schließlich hat es ihre ultrasäkulare Mutter verboten, also trägt sie es erst recht." Natürlich ist der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, nicht hinnehmbar. Aber gilt das Gleiche nicht auch für den Zwang, das Kopftuch abzunehmen?

 

Auch die Diskussion über die Zwangsehe, die Beschneidung der Frau oder den Ehrenmord wird auf einem erschreckend niedrigen Kenntnisniveau geführt. (...) Über diese völlig inakzeptablen frauenfeindlichen Praktiken steht weder etwas im Koran noch in den "Hadithen" von Mohammed. Sie stammen aus vorislamischer, patriarchalisch-heidnischer Zeit. Teilweise sind sie mehrere tausend Jahre alt - wie etwa die grauenvolle "pharaonische" Beschneidung der Frauen. Diese brutale Verstümmelung findet nicht nur in einigen muslimischen Ländern wie Ägypten und Sudan statt, sondern auch in überwiegend christlichen Staaten wie Äthiopien und Kenia. (...) Sogenannte Ehrenmorde gibt es leider ebenfalls unter Christen, etwa in den christlichen Ländern Brasilien, Argentinien oder Venezuela.

 

In manchen muslimischen Ländern ist die "Frauenförderung" in Teilbereichen weiter fortgeschritten als im Westen. In Ägypten sind 30 Prozent aller Professoren weiblich, in Deutschland nur 10 Prozent. Im Iran sind weit über 60 Prozent aller Studierenden weiblich, sodass einige Erzkonservative bereits über die Einführung einer Männerquote nachdenken. Auch Regierungschefinnen haben in muslimischen Ländern eine längere Tradition als im Westen. (...) Wir sollten überhaupt mehr vor unserer eigenen Tür kehren: Bis 1957 konnte ein deutscher Mann kraft seines gesetzlich garantierten "Direktionsrechts" entscheiden, ob seine Frau einen Beruf ausüben durfte. Die Schweizer Männer lehnten bis 1970 das Wahlrecht der Frauen ab - schließlich fordern das Alte wie das Neue Testament die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes (vgl. Genesis 3,16 sowie 1 Korinther 14,34f.).

 

7. Der Westen muss die islamische Welt genauso fair behandeln, wie er Israel behandelt. Muslime sind so viel wert wie Juden und Christen.

 

(...) Seine sittliche Größe erlangte das jüdische Volk nicht durch seine militärischen Siege und auch nicht durch die beeindruckende Zahl seiner Talente. Seine sittliche und Einzigartigkeit erreichte es durch seine Gottesfurcht, seine Weisheit, seinen Humanismus und seine Kreativität sowie durch seinen langen, tapferen und oft listigen Kampf für Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung. Dass Israel nach dem Holocaust auch auf Waffen setzt, ist verständlich. Auch die Härte, mit der es legitime Interessen vertritt. Aber Härte ohne Gerechtigkeit ist eine Strategie ohne Perspektive. Wenn das schöpferische Israel nur noch zerstört, zerstört es sich selbst. Israel muss, wie der gesamte Westen, mindestens so viel in Gerechtigkeit investieren wie in Waffen. Die Behandlung der Palästinenser entspricht nicht der sittlichen Größe und Einzigartigkeit des jüdischen Volkes. Gerade als Bewunderer der jüdischen Kultur kommt man an dieser Feststellung nicht vorbei.

 

Auch die Palästinenser müssen ihre Politik ändern. Der Westen hat Recht, wenn er von ihnen einen Gewaltverzicht gegenüber Israel verlangt. Aber muss er nicht auch von Israel einen Gewaltverzicht gegenüber den Palästinensern fordern? Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem wurden 2007 im israelisch-palästinensischen Konflikt 13 Israelis getötet. Ihnen standen jedoch 384 von israelischen Sicherheitskräften getötete Palästinenser gegenüber. (...)

 

Wir Deutsche haben eine historische Verantwortung gegenüber Israel und seinem Existenzrecht - gestern, heute und morgen. Das jüdische Volk hat aufgrund seiner Geschichte und nach all dem, was es jahrtausendelang erdulden und erleiden musste, eine sichere Heimat in Palästina verdient. Aber genau aus diesem Grund haben wir auch eine historische Verantwortung gegenüber den Palästinensern. (...) Die eigentliche Lehre aus dem Holocaust heißt, dass wir nie wieder tatenlos zusehen dürfen, wenn Menschen unterdrückt, entrechtet und gedemütigt werden. (...) Wir müssen die muslimische Welt genauso fair und großzügig behandeln, wie wir zu Recht Israel behandeln. Wir müssen dem internationalen Terrorismus endlich die Argumente entziehen.

 

8. Die Muslime müssen sich wie ihr Prophet Mohammed für einen Islam des Fortschritts und der Toleranz einsetzen. Sie müssen dem Terrorismus die religiöse Maske vom Gesicht reißen.

 

Nicht nur der Westen, auch die muslimische Welt muss ihr Verhalten fundamental ändern. Gerade gemäßigte Muslime müssen - unter Wahrung ihrer religiösen Identität - mutiger für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten. Für eine Staats- und Wirtschaftsordnung, die die Talente der Menschen entfesselt, statt sie zu lähmen. Für die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für wirkliche Religionsfreiheit - für einen Islam der Toleranz und des Fortschritts. Die vielen Millionen im Westen lebenden Muslime könnten dabei eine wichtigeRolle übernehmen.

 

Die gemäßigte Mehrheit der Muslime muss die faszinierende Botschaft ihres Propheten Mohammed in die Neuzeit übersetzen und die gesellschaftlichen Reformen fortführen, die dieser unter Einsatz seines Lebens begonnen hatte. Sie muss den vorislamischen Ballast abwerfen, der die Renaissance der muslimischen Zivilisation behindert. Sie muss eine Bildungselite schaffen, die die muslimische Welt erfolgreich ins dritte Jahrtausend führt. Mohammed, Marktwirtschaft und Moderne passen sehr wohl zusammen.

 

Anders als viele muslimische Politiker unserer Tage war Mohammed kein Reaktionär. Er sehnte sich nicht wie diese 400 Jahre zurück. Er war ein kühner, nach vorne blickender, egalitärer Revolutionär, der den Mut hatte, die Fesseln der Tradition zu sprengen. Sein Islam war keine Religion des Stillstands oder des Rückschritts, sondern der Erneuerung und des Aufbruchs. Wenigstens etwas von der Dynamik dieses großen Reformators würde der teilweise in Fatalismus und Selbstmitleid versunkenen muslimischen Welt gut tun. (...)

 

Der heutige Terrorismus ist eine absurde Entstellung der Lehren Mohammeds. Er ist ein Verbrechen gegenüber dem Islam. Islam heißt Gottergebenheit und Frieden. Die muslimische Welt darf nicht zulassen, dass ihre große, stolze Religion mit ihrem Ethos der Humanität und Gerechtigkeit durch blindwütige Terroristen in den Schmutz gezogen wird. Niemand hat dem Ansehen des Islam in seiner fast tausendvierhundertjährigen Geschichte mehr Schaden zugefügt als der islamisch maskierte Terrorismus. Die muslimische Welt muss ihm die religiöse Maske vom Gesicht reißen. Sie muss den Götzen Terrorismus genauso zerbrechen, wie Mohammed die Götzen der vorislamischen Zeit zerbrach.

 

9. Nichts fördert den Terrorismus mehr als die "Antiterrorkriege" des Westens. Die muslimischen Länder müssen ihre Probleme mit dem radikalen Islamismus selber ausfechten.

 

(...) Der radikale Islamismus war zu Beginn des Jahres 2001 weltweit am Ende. Der Traum, die innenpolitischen Probleme des Iran, Afghanistans oder des Sudan durch radikale Islamisierung zu lösen, war zum Albtraum verkommen. Verbittert realisierten die Muslime, dass die rigorosen Mullahs aus ihren Ländern trostlose (Religions-)Polizeistaaten gemacht hatten. Im Blitzkrieg der USA hat das afghanische Volk die Taliban demonstrativ allein gelassen - in der Geschichte Afghanistans ein ungewöhnlicher Vorgang.

 

Angesichts dieses offenkundigen Scheiterns des radikalen Islamismus war der Angriff von Al-Qaida auf New York und Washington nicht nur ein Racheakt, sondern auch der Versuch eines Befreiungsschlags: Er sollte durch diabolische Kühnheit und geniale mediale Inszenierung den radikalen Islamisten die Sympathien der Massen zurückgewinnen. Er sollte die USA zu einer Überreaktion provozieren, die dem radikalen Islamismus wieder Rückenwind geben würde. Diese Rechnung ist voll aufgegangen. Die unzähligen Bomben auf die Häupter talibanmüder afghanischer Zivilisten haben dem am Boden liegenden radikalen Islamismus wieder auf die Beine geholfen. Die Afghanen wollten zwar die von den Geheimdiensten der USA, Saudi-Arabiens und Pakistans geschaffenen Taliban und Al-Qaida gerne wieder loswerden. Aber dass dafür Tausende afghanischer Zivilisten zu Tode gebombt wurden, verstanden sie nicht. (...)

 

Der Schaden ausländischer Interventionen ist auch dort, wo ehrliche humanitäre Motive dahinterstehen, fast immer größer als der Nutzen. Man muss das Gute nicht nur wollen, sondern auch erreichen. Der Kampf gegen den Terrorismus wird weder am Hindukusch noch in Bagdad militärisch entschieden. Die Entscheidung fällt in den Herzen der 1,4 Milliarden Muslime, die in Ost und West, Nord und Süd die Politik des Westens genau beobachten. Mit jedem durch westliche Bomben getöteten muslimischen Kind wächst der Terrorismus. Wir versinken jeden Tag tiefer im Sumpf unserer eigenen Politik. (...)

 

 

 

10. Das Gebot der Stunde heißt Staatskunst, nicht Kriegskunst - im Irankonflikt, im Irakkonflikt und im Palästinakonflikt.

 

Die jahrelange, fast kindliche Weigerung des amerikanischen Präsidenten, mit missliebigen Politikern wie Arafat, Assad, Saddam oder Ahmadinedschad persönlich zu sprechen, und die Entscheidung, stattdessen Strategien zu entwickeln, wie man diese - nach Rücksprache mit Gott - aus dem Amt bomben könnte, zählen zu den absurdesten Fehlentscheidungen unserer Zeit. (...) Auch der Ost-West-Konflikt der Nachkriegsjahre konnte nur gelöst werden, weil sich Ronald Reagan nie zu schade war, die Herrscher des damaligen "Reichs des Bösen" persönlich zu treffen. (...)

 

Die komplexen Probleme des Mittleren Ostens lassen sich nur politisch lösen - am besten durch eine KSZE-ähnliche Langfrist-Konferenz für die gesamte Region. An ihr müssen neben dem UN-Sicherheitsrat alle wichtigen Akteure der Region beteiligt werden - einschließlich Syriens und des Iran sowie einschließlich der demokratisch gewählten Repräsentanten Palästinas und der Führung des legitimen irakischen Widerstands. (...) Die Alternative zu verantwortungslosen Kriegen und genauso verantwortungslosem Nichtstun besteht wie im Ost-West-Konflikt der 80er Jahre in umfassenden harten, aber fairen Verhandlungen. Diese Politik wird wie der KSZE-Prozess nur Sieger kennen. Der brachte Osteuropa nach zwei Jahren schwieriger Verhandlungen Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und wachsenden Wohlstand. (...)

 

Ziel muss eine Weltordnung sein, die von allen Staaten als gerecht akzeptiert werden kann. Eine Welt, in der Schluss ist mit der Diskriminierung von Muslimen im Westen und Schluss mit der Diskriminierung von Juden und Christen in der muslimischen Welt. Eine Welt, die aufhört mit der gegenseitigen Dämonisierung von Religionen und Kulturen. (...)

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