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TAZ: Ein Prediger, der weint

Islamischer Reformer oder verkappter Fundamentalist? Der türkische Starprediger Fethulla Gülen ist schwer zu fassen. Aber für emotionale Aufwallungen ist er immer gut.

VON DANIEL BAX

 

Es gibt Zufälle, die sind keine. Kürzlich wurde das überraschende Ergebnis einer Umfrage bekannt, welche die britische Zeitschrift Prospect und das US-amerikanische Magazin Foreign Policy im Internet angestrengt hatten. Auf die Frage nach den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit wurde dort der - außerhalb der Türkei weithin unbekannte - islamische Prediger Fethullah Gülen auf den ersten Platz gewählt. In der gleichen Woche startete vor dem Verfassungsgericht in Ankara das Verfahren gegen die AKP, die Partei des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Diese stellt in der Türkei seit sechs Jahren die Regierung, nun aber droht ihr ein Verbot wegen "islamistischer Umtriebe". Als einer der Vordenker dieser Partei gilt ausgerechnet Gülen.

 

Das Netzwerk der Fethullacis

Global: In über 90 Ländern haben die Anhänger des Fethullah Gülen, "Fethullacis" genannt, Bildungseinrichtungen gegründet, wobei der Schwerpunkt auf Zentralasien, Europa und den USA liegt; die arabische Welt bildet eine signifikante Ausnahme. Die Privatschulen, die in Gülens Namen eröffnet werden, ermöglichen Schülern aus religiös-konservativen Familien den Bildungsaufstieg. In der Türkei wird dort nach den gleichen Lehrplänen unterrichtet wie an staatlichen Schulen, wobei besonderer Wert auf Ordnung, Disziplin und religiöse Unterweisung gelegt wird.

Lokal: Auch in Deutschland hat die Gülen-Bewegung in fast jeder größeren Stadt ihre Ableger gefunden. Den Bildungseinrichtungen, die ihr nahe stehen, werfen Kritiker "religiöse Indoktrination" vor. Befürworter hingegen betonen, die Einrichtungen würden dem Spracherwerb und damit der Integration dienen.

 

Wer ist dieser Mann? Selbst in der Türkei findet man darauf keine eindeutige Antwort, denn den inzwischen in den USA lebenden Islam-Gelehrten umgibt eine Aura des Geheimnisvollen. Geboren wurde er 1941 in einem Dorf nahe Erzurum, einer stockkonservativen Stadt im äußersten Nordosten der Türkei, an der Grenze zu Iran und Armenien gelegen. Seine Karriere begann er als Moscheeprediger in staatlichen Diensten, und als solcher reiste er von den Fünfzigerjahren bis zum Militärputsch von 1980 durch die Türkei, wo er eine wachsende Anhängerschaft auf sich vereinigen konnte. Landesweites Aufsehen erregte er nach seiner Pensionierung in den späten 80ern durch seine guten Beziehungen zum damaligen Präsidenten Turgut Özal, auch dieser wie er ein Aufsteiger aus der ostanatolischen Provinz.

 

Mittlerweile sind weit über 60 Bücher mit seinen Vorträgen erschienen, sie sind als Audio- und Videodokumente erhältlich oder kursieren als Kurzclips im Internet. Berühmt ist Fethullah Gülen für seine blumige, von altmodischen osmanischen Vokabeln durchsetzte Rhetorik und dafür, dass er am Ende seiner Ausführungen, wenn er etwa auf den Koran kommt, zuweilen vor Ergriffenheit in Tränen ausbricht. Sein Publikum vermag er damit zu emotionalen Aufwallungen zu provozieren, die der Hysterie bei einem Popkonzert durchaus nahe kommen.

 

Der sichtlich bewegte Gottesmann

Mindestens ebenso eindrucksvoll sind die handfesten Erfolge seiner Bewegung. Seine Anhänger betreiben nicht nur ein kleines Medienimperium, zu dem Zeitungen und ein Fernsehsender gehören, sondern auch eine wachsende Zahl von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in der Türkei wie im Ausland. Seine Bewegung muss man sich als Netzwerk vorstellen, das aus einem inneren Kreis von engen Getreuen besteht, aber weltweit bis zu fünf Millionen Anhänger zählen soll. Wirkt er auf den ersten Blick wie ein entrückter Großvater, so zeigt sich Gülen damit ganz als Mann des Medienzeitalters, vergleichbar mit evangelikalen TV-Predigern in den USA.

 

In seinem Heimatland ist er eine umstrittene Figur. Den einen gilt er als islamischer Reformer, der traditionelle Frömmigkeit mit der Moderne zu versöhnen weiß. Die anderen sehen in ihm einen verkappten Fundamentalisten, der die Gesellschaft unterwandern möchte. Denn einerseits predigt Fethullah Gülen die Vereinbarkeit von Islam und liberaler Demokratie, die für ihn schon "aus dem Koran hervor" gehe. Er setzt sich für Toleranz gegenüber Andersdenkenden und den interreligiösen Dialog ein und hat sich in der Vergangenheit schon mit Papst Johannes Paul II. sowie führenden Rabbinern getroffen, während Bin Laden für ihn schlicht ein "Monster" ist. Andererseits ist seine Weltsicht extrem traditionell, und auch wenn er das Kopftuch als eher nebensächlich betrachtet, so ist sein Frauenbild doch erzkonservativ, und seine theologischen Auslegungen des Korans sind konventionell. Darwins Evolutionstheorie lehnt er ab, Atheismus ist ihm ein Graus, der Mangel an Gottesglauben ein Zeichen des moralischen Niedergangs. Sich selbst würde er nie als "islamischen Reformer" bezeichnen, denn das würde ja bedeuten, dass der Islam deformiert sei und der Reparatur bedürfe.

 

Dass manche in ihm trotzdem einen Reformer sehen, liegt an der praktischen Wendung, die er seinen religiösen Überzeugungen gibt. Statt Gottergebenheit predigt er Aktivismus, statt Weltabgewandtheit die Versöhnung von islamischen Glaubenssätzen mit technisch-naturwissenschaftlichem Fortschritt. Die säkulare Ordnung der Türkei und die Universalität der Menschenrechte stellt der 67-Jährige nicht in Frage, im Gegenteil: Staaten wie den Iran oder Saudi-Arabien, die das "islamische Recht" der Scharia anwenden, lehnt er ab. Ihnen setzt er seine Idee eines "anatolischen Islam" entgegen, der sich durch Toleranz und Religionspluralismus auszeichne - unschwer lässt sich da eine türkisch-nationalistische Note herauslesen, die seine Botschaft für die meisten arabischen Muslime eher unattraktiv macht.

 

Selbst dem politischen Islam eines Necmettin Erbakan, der mit seiner "Refah"-Partei in den Neunzigerjahren in der Türkei Erfolge feierte, kann er nichts abgewinnen. Gegen dessen "Islam von oben", der vom Staat erwartet, eine konservativ-islamische Moral durchzusetzen, propagiert Gülen einen "Islam von unten". Allein durch persönliche Frömmigkeit und gelebte Tugend solle dieser anderen zum Vorbild gereichen. Die Gebote des Islam sind für Gülen etwas, das Muslime aus innerem Antrieb befolgen sollten, statt sie anderen Menschen aufzuzwingen.

 

Ein Islam für den anatolischen Mittelstand

In seiner Überzeugung, dass man den Koran nicht allein mit dem Verstand, sondern nur mit dem Herzen richtig verstehen könne, und dass Gott, Mensch und Natur in einer Art kosmische Einheit miteinander verbunden seien, zeigt sich Gülen vom Geist türkischer Sufi-Bruderschaften beeinflusst. Diesen kombiniert er mit einer protestantisch anmutenden Ethik, indem er Werte wie Pragmatismus, Flexibilität und Pietismus feiert. "Arbeit" ist für ihn eine Form des Gottesdienstes, Ineffizienz geradezu unmoralisch. "Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist Mittellosigkeit", schreibt er in seinem Werk "Grundlagen des islamischen Glaubens" seinen Lesern ins Stammbuch. Neben solchen Spruchweisheiten finden sich seitenlange Elaborate über "die Erscheinungsformen von Engeln und Dschinn in der sichtbaren Welt" oder die "Einflüsterungen Satans", wobei es sich dabei um so etwas wie die islamische Variante der "sieben Todsünden" handelt.

 

Anhänger findet seine Populärphilosophie unter der aufstrebenden Mittelschicht, vor allem in den konservativen Städten der Zentraltürkei und unter Akademikern, Ärzten und Ingenieuren. Mit seiner Betonung von Arbeit, Selbstdisziplin und Sparsamkeit spricht er Kleinunternehmer in der anatolischen Provinz an - jenen Mittelstand, der seinen beruflichen Aufstieg mit einem pragmatischen Glauben in Einklang bringen will. Diese anatolischen Aufsteiger gelten als Gewinner der wirtschaftlichen Liberalisierung in der Türkei seit den Neunzigerjahren, weil sie großen Anteil am Export-Boom hatten, und wurden in einer berühmten Studie schon einmal als "muslimische Calvinisten" bezeichnet. Sie bilden auch die Stammwählerschaft und das wirtschaftliche Rückgrat der konservativ-islamischen AKP.

 

Protestantische Ethik für Muslime

Einem protestantischen Bildungsideal verpflichtet zeigen sich auch die über 500 Privatschulen, Internate, Nachhilfeeinrichtungen und Studentenwohnheime, die, weltweit mit Spendengeldern und von wohltätigen Stiftungen finanziert, von Gülens Anhängern gegründet wurden. Seine Gegner fürchten, Fethullah Gülen wolle damit eine fromme Elite heranzüchten, um so eines Tages die Macht im Staate zu übernehmen. Aus diesem Grund wurde vor neun Jahren gegen ihn in der Türkei ein Prozess eröffnet. Seither lebt der greise und schwer kranke Prediger in den USA, von wo aus er auf sein wachsendes Netzwerk von Medien und Bildungseinrichtungen blickt.

 

Vom Vorwurf, er habe seine Anhänger zur "Unterwanderung" des Staates aufgefordert, wurde Gülen inzwischen freigesprochen. Ob seine Anhänger in der AKP jetzt ähnlich glimpflich davonkommen, erscheint derzeit allerdings unwahrscheinlich. Bleibt die Frage, wer sich beim Marsch seiner Anhänger durch die Institutionen am Ende stärker verändern wird: die Institutionen - oder sie selbst?

 

Für das ausgeprägte Sendungsbewusstsein der Gülen-Anhänger spricht, dass sie ihm jüngst beim Online-Ranking von Prospect und Foreign Policy zu seinem Überraschungserfolg verhalfen. Schnell wurde klar, dass dahinter eine Kampagne der türkischen Zeitung Zaman stand, die als liberales Intelligenzblatt und zugleich Zentralorgan der Fethullah-Fans gilt. Diese hätten seine Umfrage gekidnappt und "lächerlich gemacht", zürnte der Prospect-Chefredakteur David Goodhart, als die Ergebnisse vorlagen.

 

Das ist nicht ganz falsch. Trotz dieser offensichtlichen Verzerrung sollte es aber zu denken geben, dass auf den ersten zehn Plätzen der Umfrage ausschließlich islamische Reformdenker wie der Iraner Abdolkarim Sorusch oder Tarik Ramadan sowie säkulare Intellektuelle aus islamischen Ländern wie Orhan Pamuk, die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi oder der pakistanische Anwaltsaktivist Atzan Ahsan landeten, während westliche Geistesgrößen wie Jürgen Habermas oder Noam Chomsky, weit abgeschlagen, hintere Rängen einnahmen. Es könnte einen Hinweis darauf geben, in welcher Region derzeit die wichtigsten intellektuellen Debatten toben.

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