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DIE ZEIT 1.4.2008 - 18:33 [http://www.zeit.de/online/2008/14/interview-oezdemir]

 

Türkei

Wir verhandeln nicht mit Putschisten

Der Europaabgeordnete Cem Özdemir kritisiert das Verbotsverfahren gegen die türkische Regierungspartei AKP – und droht mit sofortigem Abbruch der Beitrittsverhandlungen

 

Cem Özdemir ist seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments. Der Grünen-Politiker ist in Urach geboren, bezeichnet sich aber wegen seiner türkischen Abstammung gern als "anatolischer Schwabe".

 

 

ZEIT online: Die türkische Regierungspartei AKP soll gerichtlich verboten werden, da sie das Land „auf die Scharia“ zubewege, so die offizielle Begründung. Bastelt die AKP tatsächlich an einem Gottesstaat?

 

Özdemir: Man kann durchaus Kritik an der AKP üben. Sie hat ihren Sieg bei der Parlamentswahl im Mai 2007 nicht dazu genutzt, um weitere gesellschaftliche Reformen voranzubringen, etwa die Staatsreform, die Abschaffung des Paragrafen 301, der die Meinungsfreiheit einschränkt oder die rechtliche Stärkung der Minderheiten. Deshalb waren auch viele liberale Kräfte des Landes sehr enttäuscht.

 

 

ZEIT online: Rechtfertigt das schon einen Verbotsantrag?

 

 

Özdemir: Natürlich nicht. Wer den schlampig geschriebenen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft liest, kommt schnell zu dem Ergebnis: So etwas würde in einem reifen Rechtsstaat nicht vorkommen. Der Staatsanwaltschaft und der Militärelite geht es ja auch nicht um Religion- und Meinungsfreiheit oder um Fundamentalismus. Schließlich waren es die Militärs, die 1980 nach dem Putsch zwangsweise sunnitisch-islamischen Religionsunterricht eingeführt haben und das ganze Land mit Moscheen überzogen haben. Jetzt sehen die autoritären Kräfte des Landes ihre Macht, ihren Rückhalt bei der Bevölkerung schwinden. Was sie bei der Wahl nicht geschafft haben und was sie sich durch einen Putsch nicht trauen, versuchen sie nun auf diesem Wege.

 

ZEIT online: Wie realistisch ist es, dass das Gericht dem Antrag stattgibt und die AKP, die bei der Wahl fast 50 Prozent der Stimmen holte, tatsächlich verbietet?

 

 

Özdemir: Den ganzen Vorgang muss man sehr ernst nehmen. Schließlich hat die Regierungspartei sich durch die bereits vollzogenen Reformen im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit den alten Eliten angelegt. Für deren Staatsräson ist es ein Graus, dass Brüssel in Ankara quasi mitregiert. Das Verbotsverfahren muss man auch in diesem Zusammenhang sehen. Das ist ein politischer Kulturkampf. Wenn er im Sinne der liberalen Kräfte ausgeht, was ich sehr hoffe, dann könnte er im besten Fall wie eine Katharsis wirken.

 

ZEIT online: Und nehmen die Türken das einfach so hin, dass man eine Partei verbietet, die sie mehrheitlich unterstützen?

 

 

Özdemir: Die Türkei ist ein Grab für Parteien. Die Liste derer, die verboten worden sind, ist lang. Es gibt Politiker, die sind schon in der vierten oder fünften Partei. Aber mich erinnert das Ganze fast schon an die Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR 1953. Die Elite ist enttäuscht vom eigenen Volk, das nicht mehr so will wie sie selbst. In der Türkei hat es Tradition, dass die Führung das Volk erziehen will. Und nun bekommt sie mit diesem Volk Probleme. Vielleicht wollen die Verfechter des AKP-Verbots auch gleich die Bevölkerung verbieten – und sich eine neue wählen.

 

 

ZEIT online: Wie soll sich die EU verhalten? Ist die Türkei unter diesen Umständen überhaupt noch ein ernst zu nehmender Beitrittskandidat?

 

Özdemir: Wir müssen am EU-Prozess festhalten, alles andere würde die Nationalisten in ihrem Kurs ja geradezu bestätigen. Aber wir müssen ebenso unmissverständlich auch klarmachen: Unsere Gesprächspartner sind gewählte Abgeordnete und Regierungsvertreter. Keine Generalstäbe, keine Staatsanwälte und Richter. Wenn die AKP verboten wird, liegen die Verhandlungen auf Eis. Wir verhandeln nicht mit Putschisten über einen Beitritt zur EU.

 

 

Die Fragen stellte: Michael Schlieben

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