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20.09.2007 Interview: Europäer als "Archäologen der eigentlichen Botschaft"

 

IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger zum Hype über deutsche "Konvertiten"

(iz) Islamische Zeitung: Wir erleben einen Hype wegen der Festnahme eines deutschen Muslims, der offensichtlich einen schweren Terroranschlag vorbereitet hatte. Wie stehen Sie als deutscher Muslim dazu? Gibt es wieder einen neuen deutschen Terrorismus?

 

Abu Bakr Rieger: Natürlich ist der Umstand, dass ein deutscher Muslim einen Terroranschlag vorbereitet, schockierend. Überraschend ist das nicht. Das Phänomen Terrorismus ergreift offensichtlich Menschen jenseits ihrer ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeit. Wichtig ist es, immer wieder klarzustellen, dass es muslimische Terroristen, aber keinen islamischen Terrorismus gibt. Im Gegensatz zum Terrorismus der RAF, der in eine intellektuelle Bewegung eingebettet war, gibt es im deutschen Islam kein Umfeld für diese Leute. Sie sind sofort und vollständig isoliert.

 

Islamische Zeitung: Wie entsteht, nachdem ein Deutscher Muslim wurde, eine Nähe zum Terrorismus?

 

Abu Bakr Rieger: Schlichter Unsinn ist für mich zunächst die abenteuerliche These, neue Muslime müssten ihren Islam besonders intensiv praktizieren, um Anderen ihre Loyalität zum Islam beweisen. Dies mag in Ausnahmefällen vorkommen, besonders dann, wenn man sich mit verbitterten Puritanern sozialisiert, die, mit tausenden Hadithen "bewaffnet", nichts anderes tun, als sich 24 Stunden gegenseitig auf religiöse Fehler zu belauern. Ansonsten gilt aber für den deutschen Muslim wie für jeden Muslim, fünf mal am Tag zu beten, die Zakat zu bezahlen, zu Fasten und die Pilgerreise zu vollziehen, wenn man kann. Diese einfachen religiösen Verpflichtungen kann man auch gar nicht radikal oder liberal ausüben, sondern eben nur korrekt erfüllen. Deutsche Muslime erscheinen als konsequenter wegen einer Binsenweisheit - im Gegensatz zu der Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime praktizieren wir den Islam.

 

Islamische Zeitung: Wie kann die Lehre gegen die terroristische Möglichkeit angehen?

 

Abu Bakr Rieger: Das Problem der Lehre ist der schleichende Einfluss des Modernismus auf den Islam. Ideologie oder totalitäres Gedankengut war dem klassischen Islam über Jahrhunderte fremd und gewinnt erst im Denken der arabischen Modernisten Raum. Das islamische Recht ist, wenn man es genauer studiert, nichts Anderes als de facto die Einschränkung der politischen Mobilisierung. Im Kern des Rechts stehen dabei ökonomische Regeln und die Absicherung der Zivilgesellschaft, zum Beispiel der Stiftungen, gegenüber dem politischen Zugriff. Ich lehne auch das Ausnahmerecht von Al-Qaradawi, insbesondere seine Position zu Selbstmordattenaten, kategorisch ab. Diese Positionen haben eine Tür geöffnet, die wir schnellstens wieder schließen müssen. Wir brauchen muslimische Juristen, die den Unterschied zwischen Recht und Politik sehen.

 

Islamische Zeitung: Gerade jetzt erscheint pünktlich zum Jahrestag des 11.9. ein Video-Beitrag von Bin Laden. Vorausgesetzt Bin Laden lebt wirklich noch, was bedeutet dieser Beitrag?

 

Abu Bakr Rieger: Natürlich sind diese skurrilen Beiträge des Terrorgurus entlarvend. Nachdem er in den USA auf höchst zynische Weise Angst und Schrecken verbreitet hat, will nun ausgerechnet er genau diese Amerikaner zum Islam einladen. Auf gewohnt armem Niveau dient der Alte aus der Höhle mit seiner "Kapitalismuskritik" nur noch zur Assoziierung genau dieser Kritik mit dem Terrorismus.

 

Islamische Zeitung: Ist der Terrorismus die Geisel der Menschheit und Hauptgefahr für unsere Demokratien?

 

Abu Bakr Rieger: Während wir wie gesagt einen beachtlichen Hype angesichts der aktuellen Festnahmen deutscher Muslime erleben, hat sich die eigentliche dunkle Wolke, die über unserer Zeit liegt, natürlich nicht von Geisterhand aufgelöst. Es gehört zur muslimischen Aufklärung, dass es kein endloses Wachstum gibt und dass Geld einen realen Gegenwert repräsentieren muss. Das Kernproblem der globalen Demokratien ist auf Dauer gesehen nicht die Horde der Terroristen, wohl aber die ökonomische Zukunft und die Nachhaltigkeit des Wohlstandes, auf dem unsere Gesellschaften beruhen. Unser globales Finanzsystem ist zum Scheitern verurteilt, weil, wie dies beispielsweise Gabor Steingart ausdrückt, die USA nur noch Weltmeister im Dollarverkaufen sind. Der Rest ist im Grunde Hochstapelei.

 

Islamische Zeitung: Aber die Assoziation des Islam mit dem Terrorismus ist kaum mehr wegzubekommen...

 

Abu Bakr Rieger: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Dialektik gegen den Islam auch von den nach wie vor fragilen Grundlagen der modernen Gesellschaft ablenken will. Die Isolation der Muslime und ihres Wissens, die Ausgrenzung der muslimischen Intelligenz, überhaupt die Ausgrenzung relevanter muslimischer Argumente aus der Debatte, verhindert somit die eigentlich nötige Selbstreflexion über den Zustand unseres Gemeinwesens. Schade ist auch, dass die so genannten Intellektuellen sich dem direkten Kontakt mit Muslimen entziehen. Sogar hochangesehene Zeitungen berichten heute mit "heißer Feder" über unbescholtene deutsche Muslime und verbrecherische Terroristen in einem einzigen Artikel. Früher hätte es statt dieser de facto Diskriminierung neben einer gründlichen Recherche auch zwei verschiedene Artikel gegeben.

 

Islamische Zeitung: Befürchten Sie Nachteile für deutsche Muslime?

 

Abu Bakr Rieger: Wir sitzen natürlich insoweit mit allen Muslimen in einem Boot. Nach der Medienwelle kommt dann der Alltag. Muslime haben Probleme, Wohnungen zu bekommen, Musliminnen bekommen keinen Job. Das Ganze ist natürlich in seinen Folgen nicht nur akademisch. Die gefährlichere Folge betrifft uns aber alle: der schleichende Wandel des Staates und seiner technischen Apparaturen selbst.

 

Islamische Zeitung: Warum sind Deutsch sprechende Muslime nicht besser integriert?

 

Abu Bakr Rieger: Natürlich liegt es in erster Linie an uns, positive Beiträge für die Gesellschaft zu erbringen. Unsere Moscheen müssen auch als Dienstleister und nicht als Rückzugsorte wahrgenomen werden. Der Islam ist keiner bestimmten Kultur verpflichtet, und unser islamischer Alltag sollte dies auch widerspiegeln. Nur wenn wir uns in der Gesellschaft sichtbar und hörbar einsetzen, steigt auch die Akzeptanz. Muslime könnten sich meiner Meinung nach auch im kommunalpolitischen Umfeld weitaus stärker einbringen. Leider haben die Parteien das Potenzial der Muslime bisher kaum ausgeschöpft.

 

Islamische Zeitung: Woran liegt das?

 

Abu Bakr Rieger: Die Konservativen unterliegen meiner Meinung nach der Versuchung, ihre eigene Identitätskrise mit einer Dialektik gegen den Islam zu übertünchen. Die Sozialdemokraten sind da weniger ideologisch. Allerdings wundert es zum Beispiel, dass ein entscheidender Mann der Friedrich-Ebert-Stiftung bei der islamkritischen Handhabung der EKD mitwirkt, also Religionspolitik betreibt, statt einfach Muslime für die Mitarbeit bei der SPD zu gewinnen. Ich fände das Zweite logischer. Ich finde eine Mitgliedschaft bei der SPD für Muslime absolut denkbar.

 

Islamische Zeitung: Würden Sie sagen, dass das steigende Interesse am Islam auch die Akzeptanz und Annahme des Islam mit sich bringt?

 

Abu Bakr Rieger: Erfreulicherweise gibt es trotz allem viele Europäer, die wie Archäologen die eigentliche Botschaft, Substanz und Bedeutung des Islam unter einigermaßen widrigen Umständen erfolgreich freilegen. Die neuen Muslime, die ich in den letzten Monaten kennengelernt habe, entsprechen übrigens kaum dem sorgsam gepflegten öffentlichen Bild eines merkwürdigen Außenseiters oder einer Außenseiterin. Der Islam ist für diese Menschen die Quintessenz, nicht der Widerspruch dieser Zeit.

 

Islamische Zeitung: Lieber Herr Rieger, wir danken für das Gespräch!

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