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Empfohlene Beiträge

Militarisierung im Inneren:

„Wichtige Lehren aus der deutschen Geschichte werden entsorgt“

 

Interview mit ROLF GÖSSNER (Präsident der „Internationalen Liga für

Menschenrechte“)

 

FriedensJournal: Herr Gössner, in einem Beitrag, der vor fast drei Jahren im

Friedensjournal erschienen ist, haben Sie – nach dem Terroranschlag von

Madrid geschrieben: „Insgesamt bietet die neuerliche Sicherheitsdebatte zwar

Erschreckendes, aber wenig Neues. Alles wurde bereits einmal gefordert oder

geplant. Es bedurfte offenbar nur eines neuen Terroranschlages, um die Pläne

zu befördern“. Soweit das Zitat. Was gibt es denn aktuell für konkrete

Anlässe zugunsten eines totalen Überwachungsstaates?

 

Rolf Gössner: Der „konkrete Anlass“ für weitere Nachrüstungsmaßnahmen und

Gesetzesverschärfungen ist die allgemeine Bedrohungskulisse nach 9/11,

London und Madrid, die immer wieder aufs Neue beschworen wird. Schließlich

gilt auch Deutschland als Teil eines globalen Gefahrenraums, wobei es

hierzulande keinerlei konkrete Bedrohungen durch den „islamistischen

Terrorismus“ gibt, lediglich eine abstrakte Gefährdung. Die Gefahrenlage

verschlechtert sich allerdings immer dann, wenn die Politik wieder mal ihren

Teil dazu beiträgt – etwa durch den jüngsten Beschluss, mit dem Einsatz von

Tornados der Bundeswehr in Afghanistan einen aktiven Kriegsbeitrag zu

leisten. Das erhöht die Anschlagsgefahr auch hierzulande. Und dagegen will

man sich wappnen: mit „more of the same“, wie dem

„Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ von Ende 2006, aber auch mit

heiklen strukturellen Veränderungen im System der Inneren Sicherheit.

 

FriedensJournal: Was daran ist heute gegenüber früheren Plänen als neu bzw.

als neue Qualität anzusehen?

 

Rolf Gössner: Da sind gerade die fatalen Strukturveränderungen in der

„Sicherheitsarchitektur“ zu nennen: Etwa die neue „Antiterrordatei“, die

sowohl von der Polizei als auch von allen Geheimdiensten bestückt und

gemeinsam genutzt wird. Damit ist eine Vernetzung von Polizei und

Geheimdiensten verbunden und in letzter Konsequenz die Aufhebung des

verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten –

immerhin eine bedeutsame Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der

Gestapo der Nazizeit, die sowohl geheimdienstlich als auch exekutiv tätig

war. Mit dem „Trennungsgebot“ sollte ursprünglich in Westdeutschland eine

unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate sowie eine neue

Geheim-Polizei verhindert werden. Mit der Antiterrordatei wächst zumindest

partiell zusammen, was nicht zusammen gehört, wird eine wichtige Lehre aus

der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt.

 

Auch die neuesten digitalen Horrorpläne des Bundesinnenministers bedeuten

eine neue „Qualität“: etwa die heimliche Online-Durchsuchung von Computern

via Internet mit Hilfe von polizeilichen „Bundestrojanern“ – eine kaum

kontrollierbare Maßnahme mithöchster Eingriffsintensität; die längerfristige

Speicherung von Telekommunikationsdaten aller Nutzer auf Vorrat, um sie für

Ermittlungsbehörden zugänglich zu halten; des Weiteren die Einrichtung von

zentralen Referenzdateien mit Gesichtsbildern und Fingerabdrücken, Dateien,

die sich aus den biometrischen Ausweisdaten speisen und die für Zwecke der

Kriminalitätsbekämpfung genutzt werden sollen, möglicherweise sogar zur

Prävention. Mit dieser Vorratsdatenspeicherung werden praktisch alle

Bürger/innen unter Generalverdacht gestellt. Hier werden schwere Schläge

gegen die informationelle Selbstbestimmung mit systemsprengender Wirkung

geplant.

 

FriedensJournal: Nun hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich das

Abschießen ziviler Passagierflugzeuge verboten. Ebenso ausdrücklich hat der

Bundesgerichtshof die Online-Durchsuchung von Computern für illegal erklärt.

Für jemanden, der den Glauben an unsere Verfassung noch nicht verloren hat,

ist es deshalb kaum vorstellbar, dass Schäuble unverdrossen seine Pläne

weiterverfolgt. Die beängstigende Frage stellt sich doch: Werden wir von

einer Großen Koalition aus Verfassungsfeinden regiert?

 

Rolf Gössner: Manchmal hat es den Eindruck – wobei wir wahrlich nicht

verwöhnt sind, denken wir nur an Otto Schily und die rotgrüne

Vorgängerregierung zurück. Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und

der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mussten jedenfalls in den

letzten Jahren mehrfach Gesetze und Maßnahmen für verfassungs- oder

gesetzeswidrig erklären - erinnert sei nur an den Großen Lauschangriff mit

elektronischen Wanzen in und aus Wohnungen, an die Überwachungsbefugnisse

des Zollkriminalamtes (beide 2004), die präventive

Telekommunikationsüberwachung, den Europäischen Haftbefehl (beide 2005), den

Fluggast-Datentransfer an US-Sicherheitsbehörden, die Befugnis zum

präventiven Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs durch das Militär

im Luftsicherheitsgesetz (beide 2006) – eine staatliche Lizenz zur gezielten

Tötung von unschuldigen Menschen. Auch die exzessiven Rasterfahndungen nach

„islamistischen Schläfern“ sind für unverhältnismäßig und damit

verfassungswidrig erklärt worden (2006) und heimliche Online-Durchsuchungen

von Computern für illegal (2007).

 

Trotz dieser beeindruckenden Anzahl verfassungswidriger Gesetze und

Maßnahmen hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Chuzpe, zu

behaupten: „Sie können sicher sein, dass wir uns immer im Rahmen der

geltenden Rechtsordnung halten.“ Dieser „Verfassungsminister“ hat schon

länger den Boden des Grundgesetzes verlassen.

Die hohe Anzahl verfassungswidriger Gesetze und Maßnahmen, aber auch der

seinerzeit von Deutschland mitgeführte völkerrechtswidrige Angriffskrieg

gegen Jugoslawien und die deutsche Beihilfe zum Völkerrechtsverbrechen gegen

den Irak, verweisen auf ein Verfassungs- und Völkerrechtsbewusstsein in der

politischen Klasse und in mancher Sicherheitsbehörde, das im Zuge der

Terrorismusbekämpfung immer mehr zu schwinden scheint – strenggenommen ein

Fall für den „Verfassungsschutz“. Eine höchst beunruhigende Entwicklung,

zumal die verantwortlichen Politiker nicht selten unverhohlene Verachtung

gegenüber solchen Gerichtsentscheidungen zeigen und ankündigen, die Urteile

etwa mit Gesetzesnovellierungen oder Grundgesetzänderungen unterlaufen zu

wollen.

 

FriedensJournal: Aktuell werden wir daran gewöhnt, dass die Bundeswehr

zunehmend grundgesetzwidrig an Angriffskriegen beteiligt und dieses zum

Normalzustand deklariert wird. Wie sieht es parallel dazu mit

Bundeswehreinsätzen im Inneren aus – mit oder ohne Grundgesetzänderung?

 

Rolf Gössner: Seit Jahren erleben wir nicht allein eine Militarisierung der

Außenpolitik, sondern auch der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt

der Bundeswehreinsatz im Inland steht – obwohl hierzulande Polizei und

Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu

trennen sind. Doch Innenminister Schäuble und Verteidigungsminister Franz

Josef Jung sind wild entschlossen, die Bundeswehr nicht etwa nur im

Notstandsfall nach den Notstandsgesetzen, sondern regulär als nationale

Sicherheitsreserve im Inland einzusetzen, um damit die Polizei zu stärken –

wobei es nicht etwa nur um Objektschutz gehen soll, sondern um den „Schutz

der Bevölkerung vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen“.

 

Zu diesem Zweck soll die verfassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und

innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei per Grundgesetzänderung

vollends aufgehoben werden. Und es gibt bereits Pläne – so etwa im neuen

„Weißbuch“ des Verteidigungsministeriums -, den „Verteidigungsfall“ nach

Art. 87a GG per Definition vor zu verlagern, um ihn auch im Fall drohender

Terroranschläge ausrufen zu können, die damit kriegerischen Angriffen von

feindlichen Armeen im Sinne des Kriegsvölkerrechts gleichgesetzt würden. So

will sich die Bundesregierung gegen mögliche Reaktionen auf ihre eigene,

anschlagsrelevante Außen- und Kriegspolitik auch mit dem Einsatz der

Bundeswehr im Innern wappnen. Kollateralschäden an der Heimatfront

inbegriffen...

 

FriedensJournal: Die letzte und wohl schwierigste Frage: Wo sehen Sie am

ehesten Ansatzpunkte zur erfolgreichen Verteidigung demokratischer Rechte?

Man kann schließlich nicht an allen Fronten kämpfen.

 

Rolf Gössner: In starken politisch-sozialen Bewegungen ist die

Bürgerrechtsfrage in der Regel gut verankert, denn dort geht es ja um die

Inanspruchnahme dieser Rechte und um den Erhalt erfolgversprechender

Aktionsbedingungen. Das heißt: Je stärker diese Bewegungen, desto stärker

auch der Kampf um demokratische Rechte.

In Zeiten, in denen Menschenrechte weltweit mehr und mehr als Hindernis auf

dem Weg zur (vermeintlichen) Sicherheit begriffen werden, in Zeiten, in

denen Menschenrechte missbraucht werden als Begründung für „humanitäre

Interventionen“ – sprich für Menschenrechtsverletzungen im Namen der

Menschenrechte, in solchen Zeiten sind friedens- und

menschenrechtsorientierte Kräfte besonders gefordert, sich verstärkt

zusammenzuschließen, um global planen und konfliktlösend intervenieren zu

können – etwa im Rahmen eines europäischen oder globalen Netzwerkes für

Menschenrechte und Frieden, für soziale Intervention und Deeskalation sowie

für nachhaltige zivile Entwicklungsstrategien und Aufbauhilfen, für

menschliche Sicherheit durch Entwicklung und demokratische Partizipation.

Vielversprechende Ansätze dafür gibt es ja schon. Dabei geht es, wie gesagt,

nicht zuletzt auch um die Verteidigung elementarer Freiheits- und

Bürgerrechte, mit dem Ziel, die Aktionsbedingungen von nationalen und

internationalen Protest- und Widerstandsbewegungen zu sichern, die für eine

andere, für eine friedlichere Welt und eine gerechtere

Weltwirtschaftsordnung kämpfen – also für eine Welt ohne Ausbeutung, Armut

und Krieg. Und nur eine solche Welt kann sowohl dem internationalen Terror

als auch dem staatlichen Gegenterror den Nährboden entziehen.

 

Das Interview führte Karl-Heinz Peil.

 

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist seit 2003 Präsident der

„Internationalen Liga für Menschenrechte“. Mitherausgeber von „Ossietzky“ -

Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft sowie des jährlich

erscheinenden „Grundrechte-Reports“ (Fischer-TB). Mitglied der Jury zur

Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“.

 

 

aus: FriedensJournal Mai 2007 / Nr. 3, S. 10 ff.:

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