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Empfohlene Beiträge

 

Säkularität, Pluralismus, Moderne:

Ihre Herausforderung und ihre Bearbeitung für die Mystik

 

Statement von Peter Hüseyin Cunz, Internatonale Mevlana-Stiftung, Schweiz

Loccum, 18. November 2007

 

Rechthaberei wird im Sufismus und allgemein in der Mystik als eines der grössten Hindernisse gesehen. Aus islamischer Sicht kann Rechthaberei als eine Meinungsmacherei nebenan von Gott gedeutet werden – Gott etwas nebenan stellen wird als grösste Sünde betrachtet. Hier an einer solchen Tagung wollen wir zwar Meinungen bilden und austauschen, doch wir tun dies im gemeinsamen Geiste des Monotheismus, also im gemeinsamen Begehren des Auffindens von Gottes Willen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass wir über Dinge sprechen, die über dem menschlichen Begriffsvermögen stehen. Die vernunftgesteuerte Betrachtung ist und bleibt beschränkt und ist im Religiösen auf Erfahrungswerte angewiesen. Dem gegenüber steht als Unsicherheit die Unberechenbarkeit von subjektiven Erfahrungen. In diesem Bewusstsein versuche ich nachfolgend, das gewünschte Statement zu formulieren. Ich beginne mit Selbstkritik an mir als überzeugter Muslim.

 

 

 

Es muss aus meiner Sicht immer wieder daran erinnert werden, dass der Islam, so wie er heute sich zeigt oder wahrgenommen wird, zur Zeit des Propheten nicht existierte. Unter Islam verstand man damals das, was das Wort bedeutet, nämlich die Selbsthingabe an Gott. Heute versteht sich das Wort Islam weitgehend als Name oder Etikette einer bestimmten Interpretation der prophetischen Botschaft. Gerade darum verstehe ich nicht, dass selbst einige seriös anmutende Übersetzungen des Korans das arabische Wort Islam nicht übersetzen, sondern als arabisches Wort belassen. Die Konsequenz ist fatal, wenn wir an mehreren Stellen des Korans die Aussage lesen: „Die einzig wahre Religion bei Gott ist der Islam.“ Korrekt sollte es heissen: „Die einzig wahre Religion bei Gott ist die Selbsthingabe an Ihn.“ Auch als Muslim muss ich lernen zu akzeptieren, dass der Islam, wie er durch die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung heute verstanden und gelebt wird, das Resultat einer historisch gewachsenen Sammlung von Interpretationen ist, natürlicherweise stark geprägt von sozialen, kulturellen und politischen Einflüssen unterschiedlicher Zeiten.

 

Jede Religion ist den sich wandelnden sozialen, kulturellen und politischen Einflüssen ausgesetzt. Wer den Wandel der Zeit nicht mittragen will, wird in einer säkularen Gesellschaft zum Fremdkörper. Ein sich Abschotten von der sich wandelnden Gesellschaft ist aber aus meiner Sicht nicht im Sinne meines Propheten. Zu Lebzeiten hat er mehrmals bestehende Regeln verschärft oder gelockert, einfach deshalb, weil es der Zustand der Gesellschaft dies so forderte. Die Gesetzesrevision war also Selbstverständnis. Doch heute ist unser Prophet nicht mehr unter uns; wir sind gefordert, selbständig unsere islamischen Gesetze und Regeln im Sinne der aktuellen Zeit neu zu interpretieren und zu revidieren. Solche Revisionen sollten aus meiner Sicht im Geiste der letzten Recht sprechenden Verfügung geschehen, die dem Propheten drei Monate vor seinem Tode offenbart wurde (in Arafat am Freitagnachmittag, am 9. Tag des Monats Dhu l-Hijjah des Jahres 10): „Heute habe ich euer religiöses Gesetz vervollständigt und meine Gnade an euch vollendet, und Ich verfüge, dass die Selbsthingabe an Mich eure Religion sei.“ (Koran 5:3, Übersetzung Muhammad Asad)

 

Viele auch europäische Muslime sind zutiefst religiös und verständlicherweise nicht gewillt, ihre tradierte Religion zu verändern. In unserem christlich geprägten Umfeld melden sie folglich Ansprüche für Gleichstellung und Ausnahmeregelungen an, was dann da und dort zu den bekannten hitzigen Debatten führt. Die Vertreter des demokratisch bestimmten Rechtsstaates empfinden dabei ebenfalls verständliche Ängste, und sie fragen sich: „Warum sollen wir unsere Regeln ändern zugunsten von Menschen, die an ihrem eigenen System keine Änderungen tolerieren?“ Viele Muslime – und das ist meine einschlägige Erfahrung – befürworten in der Öffentlichkeit unser System der Rechtstaatlichkeit, um dann im privaten Umfeld ihre Meinung zu relativieren. Solche Muslime streben in unseren Ländern wohl nach Koexistenz, aber nicht nach Integration. Selbst einige bedeutende Muslime haben mir offenbart, dass in ihrer Meinung Demokratie und Islam nicht vereinbar seien.

 

Echte Integration von Muslimen in den christlich geprägten europäischen Kontext würde von den Muslimen etwa gleichviel Überwindung einfordern, wie wenn ein Katholik aufgefordert würde, Protestant zu werden. Das Wort Integration trägt in sich die Feststellung einer Minderheit, die sich in einer Mehrheit zu integrieren hat. Dies ist durchaus legitim, aber im Umfeld der deklarierten Religionsfreiheit heikel, insbesondere auch mit dem Umstand, dass die Definition der Mehrheit unklar ist. Darum sollten wir eher die Koexistenz thematisieren.

 

Ich spreche hier wertfrei vom Konflikt, wenn zwei bewährte aber unterschiedliche Systeme aufeinanderprallen. Aus islamischer Sicht hat sich die Schariah in der Vergangenheit vielfach bewährt und eine friedvolle Gesellschaft ermöglicht. Mit dieser Sicht ist dann bei uns Muslimen die Versuchung gross, die Schariah als gegebenes und gottgewolltes Erfolgsrezept sehen zu wollen, so wie wir es hier mit der Demokratie tun. Dabei ist es doch gerade in der heutigen Zeit offensichtlich, dass weder die Schariah noch die Demokratie den Machtmissbrauch und das daraus entstehende Unrecht zu eliminieren vermochten.

 

Der Dialog zwischen Vertretern des Westens und dem Islam reibt sich vorerst an Details, die eher kultureller als religiöser Natur sind, wie zum Beispiel Kleidungsvorschriften, die Ungleichbehandlung von Frauen und die Beschneidung. Werden solche Hindernisse überwunden, treten neue auf, wie der Anspruch des Islam, sowohl Religion als auch Staat zu sein (dîn wa daula). Doch was nun, wenn ich als Schweizer Muslim, der sich weigert, orientalische Kultur zu importieren, weder ein koexistierender Sonderling noch ein sich selbst verleugnender angepasster Muslim sein will? Wenn ich als Schweizer Muslim mit Schweizer Wurzeln voll in der schweizerischen Gesellschaft integriert sein will? Dann bleibt mir nur eins: Ich muss mich auf die Universalität des Islam berufen und den Mut aufbringen, tradierte religiöse Vorstellungen im Lichte kultureller und historischer Begebenheiten zu hinterfragen. Ja, diesen Weg kann ich einschlagen, aber ich kann diesen von anderen Muslimen nicht erwarten und schon gar nicht einfordern.

 

Nun, in der Hoffnungslosigkeit, politisch und gesellschaftlich einen gemeinsamen Nenner zu finden, werden da und dort Hoffnungen auf den Sufismus – die Mystik des Islam – projiziert. Der Titel dieser Konferenz zeugt davon. Aber dies ist kein gangbarer Weg, denn

 

1. wir können von keinem Menschen erwarten oder gar fordern, dass er oder sie sich der Mystik zuwendet, und

2. der Sufismus ist per Definition weder orthodox noch liberal, weder theokratisch noch säkular.

 

Ein Sufi verlässt die stürmische Meeresoberfläche und taucht in die Tiefen, wo die Perlen zu finden sind. Das Erreichen von Gottesnähe und Erleuchtung ist unabhängig davon, ob sich der äussere religiöse Ausdruck liberal oder orthodox gestaltet. Gesellschaftsformen sind für den Sufi nicht von erstrangiger Bedeutung. Ein Sufi wird einen christlichen Mystiker herzhaft umarmen, denn beide stehen sich nahe an einem anderen Ort als jene, die sich an den äusseren Formen festklammern. Die Mystik kümmert sich um die intime Beziehung des Individuums zu Gott. Der Sufi ist in seinem Element als Mystiker sozial eher indifferent. Tugendvolles Verhalten, selbstloses kooperatives Handeln und gemeinnützige Werke finden wir auch bei Atheisten und sonstigen Menschen, denen die Religion wenig bedeutet.

 

Dies will nun nicht bedeuten, dass ein Sufi sich der Diskussionen über äussere Formen sowie über Gesellschaftsordnung und Politik verschliesst. Er oder sie mögen durchaus ein persönliches Interesse an Politik und Gesellschaftsfragen haben und sich in solche Diskussionen einbringen. Dabei werden sie durch einen respektvollen gewaltfreien Sprachgebrauch und liebevolle Umgangsformen auffallen. Und der äussere Ausdruck eines Sufi wird übereinstimmen mit seinen inneren Werten. Ich zitiere einen Vers, der unserem Ordensgründer Hazereti Mevlana Cellaleddin Rumi überliefert ist:

 

Ya oldugun gibi görün,

Ya görndügün gibi ol.

 

Sei so, wie du dich gibst,

Oder gebe dich so, wie du bist.

 

 

Aus dem obigen schliesse ich auf folgende These:

 

Es ist weder Aufgabe noch Ziel des Sufismus, sich mit Gesellschaftsformen und Politik zu befassen. Nichtsdestotrotz wird durch die Teilnahme eines oder mehrerer Sufis im religiösen oder politischen Diskurs der gegenseitige Respekt gefördert, was die Zielfindung erleichtert.

 

http://www.mevlana.ch/content/index.php?option=com_content&task=view&id=187&Itemid=63

 

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