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NEUE INTEGRATIONSSTUDIE

Das Ende des gemeinen Feld-, Wald- und Wiesen-Muslims

 

Von Yassin Musharbash

 

Überraschende Studie im Auftrag des Innenministeriums: Es gibt in Deutschland mehr Muslime als vermutet, sie sind sozial besser integriert als vermutet - und über die Hälfte ist Mitglied eines deutschen Vereins. Von Islamverbänden fühlen sie sich nur zu einem geringen Grad vertreten.

 

Berlin - Der Schriftsteller Navid Kermani, Rheinländer mit iranischen Wurzeln und Mitglied der 2006 einberufenen Islamkonferenz, schrieb kürzlich das persönlich gefärbte Buch: "Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime". Darin heißt es: "Ich hätte diesen deutschen Politikern gern erzählt, was ein echter Identitätskonflikt für mich wäre: nicht zwei Ausweispapiere zu haben, sondern wenn der 1. FC Köln gegen die iranische Nationalmannschaft spielte."

 

 

DPA

Weiter als gedacht: Tag der offenen Moschee in Berlin

 

Man könnte das für eine Mischung aus Koketterie und dem Luxusproblem eines besonders gut integrierten Menschen "mit Migrationshintergrund" halten: Für Kermani, einen in Deutschland und darüber hinaus anerkannten Wissenschaftler, Intellektuellen und Autoren ist "Integration" im Grunde ja gar keine passende Kategorie mehr.

Allein, und das ist wohl ein gutes Zeichen: Kermani ist mit diesem Loyalitätskonflikt, der ja eigentlich nur zeigt, wie sehr man sich in Deutschland (oder in Köln) zu Hause fühlt, offenbar keinesfalls allein. Über die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime ist zum Beispiel Mitglied in einem "deutschen Verein", was auch immer das genau ist. Umgekehrt hat nur ein Prozent von ihnen "keine Alltagskontakte zu Deutschen" und hegt auch keinen entsprechenden Wunsch - während die Mehrheit der Muslime wiederum durchaus gerne mehr Austausch mit "Deutschen" hätte.

 

Fast eine Million mehr Muslime als bisher geschätzt

 

Das sind nur drei überraschende Ergebnisse einer Studie, die das Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben hat und von der nun eine Kurzfassung vorliegt. Fasst man sie zusammen, ergibt sich vor allem folgendes Bild: Deutschlands Muslime sind sozial besser integriert als gedacht, sie sind mehr als vermutet (nämlich rund vier Millionen statt der bisher geschätzten 3,3 Millionen und damit rund fünf Prozent der Bevölkerung) und viele Probleme des Zusammenlebens zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft sind Randphänomene.

 

Zwar ist die Studie begrifflich etwas ungenau, weil sie zwar zum einen ausweist, dass 45 Prozent der hier lebenden Muslime einen deutschen Pass haben, und im nächsten Moment wieder das scheinbare Gegensatzpaar Muslime - Deutsche wiederbelebt.

 

Aber das schmälert den Erkenntnisgewinn durch diese Vermessung der muslimischen Community kaum. Es ist die erste repräsentative Studie in diesem Milieu überhaupt, 6004 Menschen wurden dazu telefonisch befragt. Auskünfte über Familienangehörige eingerechnet, ergibt sich eine rechnerische Datenbasis von rund 17.000 Personen. 63 Prozent der Muslime haben demzufolge türkische Wurzeln, rund 14 Prozent kommen aus Südosteuropa, acht Prozent aus dem Nahen Osten und sieben Prozent aus Nordafrika.

 

Im Osten nur zwei Prozent der Muslime

 

Und wie tickt der gemeine Feld-, Wald- und Wiesen-Muslim zwischen Zwickau und Aachen? Zunächst einmal ist er in Zwickau praktisch nicht zu finden, sehr wohl dafür in Aachen: 98 Prozent der Muslime leben in den alten Bundesländern und Berlin, nur zwei Prozent im Osten. Deutlicher Schwerpunkt wiederum: Nordrhein-Westfalen.

 

86 Prozent von ihnen halten sich entweder für "eher gläubig" oder "stark gläubig". Das ist ein wenig überraschender Wert. Aber es ist eine interessante Einordnungshilfe, dass die Prozentsätze fast die gleichen bei Migranten aus denselben Ländern sind, die nicht Muslime sind. Die überwiegende Mehrheit der Muslime hält sich an die religiösen Speisevorschriften - allerdings offenbart sich an dieser Stelle eine erhebliche Binnendifferenzierung, denn der Wert ist bei Muslimen aus Iran und Zentralasien deutlich niedriger. Hinzu kommen herrlich verwirrende Einzelbefunde: Frauen sehen sich tendenziell als gläubiger an als Männer; türkischstämmige Muslime bezeichnen sich fast genau so häufig als gläubig wie Muslime aus Nordafrika, beten aber signifikant seltener.

 

Auf dem Gebiet der Bildung stehen die Dinge nicht gut - auch das ist bekannt. Verdienstvoll aber ist, dass in der Studie klargestellt wird: Ein Zusammenhang zur Religion lässt sich nicht herstellen. Vielmehr lassen sich die schlechten Zahlen mit "extrem niedrigen Werten bei türkischen Frauen der ersten Zuwanderergeneration" erklären. Die Musliminnen holen jedoch spürbar auf, in der zweiten Generation gibt es deutlich mehr Schulabgänger mit Abschluss.

 

Über zwei Drittel der Musliminnen tragen kein Kopftuch

 

Ebenfalls eine Frage der Perspektive sind ganz offensichtlich einige spezielle Probleme, die in der Öffentlichkeit zwar eine große Rolle spielen, im Alltag aber kaum. So zum Beispiel die Nichtteilnahme von muslimischen Schülerinnen an Schwimmunterricht und Klassenfahrten. Der Studie zufolge bleiben lediglich sieben beziehungsweise zehn Prozent den Angeboten fern. Nüchterne Schlussfolgerung der Autoren: es handelt sich nicht um ein Massenphänomen und sollte daher "nicht dramatisiert werden".

 

Gegen den Strich bürstet insbesondere der Datenteil zum Kopftuch die gängigen Annahmen. Zwar gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Gläubigkeit und Kopftuch. Aber: Nur jede zweite Muslimin, die sich selbst als "stark gläubig" bezeichnet, trägt eines. Daraus könnte man interessante Neubewertungen der immer wieder auch vor Gericht ausgetragenen Frage ableiten, ob und wenn ja wieso ein Kopftuch in bestimmten Berufen ein Problem sei. Abgesehen davon: 70 Prozent der Musliminnen tragen nie ein Kopftuch.

 

Eine kleine Ohrfeige ist das Papier für die Islamverbände - denn die schon lange gehegte Vermutung, diese erhöben einen Repräsentanzanspruch, der nicht gerechtfertigt sei, erhält nun eine Basis durch Fakten: Die Dachverbände zum Beispiel, die in der von Innenminister Schäuble 2006 etablierten Deutschen Islamkonferenz vertreten sind, repräsentieren der Studie zufolge weniger als 25 Prozent der Muslime "ohne Einschränkungen".

 

Wunsch nach Religionsunterricht sehr ausgeprägt

 

Rund 20 Prozent der Muslime sind in religiösen Vereinen oder Gemeinden organisiert, wobei dieser Wert wiederum geringer ist als bei Nicht-Muslimen. Und eine der Forderungen, die die Islamverbände seit Jahrzehnten durchzusetzen suchen, liegt der Community tatsächlich auf der Seele: Islamischen Religionsunterricht wünschen sich gut drei Viertel der Befragten.

 

Fazit: Deutschlands Muslime sind offenbar ein gutes Stück besser integriert als bisher angenommen. Der gemeine Feld-, Wald- und Wiesenmuslim existiert nicht, die Gattung als solche ist aber zugleich uneinheitlicher und "normaler" als gefühlt.

 

Es gibt keinen Grund, die Befunde der Studie anzuzweifeln, auch wenn sie Wolfgang Schäuble, dessen Islamkonferenz am Donnerstag zum letzten Mal zusammentritt, natürlich gerade gut passen - er legt sie auch als Beleg für die Integrationsfähigkeit des deutschen Gemeinwesens aus und dafür, dass seine Veranstaltung die richtigen Themen gefunden hat.

 

Die Studie ist eine gute Annäherung an die Community; natürlich hätte man sehr gerne noch viel mehr erfahren, politische Einstellungen wurden zum Beispiel nicht abgefragt. Aber das wäre inhaltlich unter dem Mantel der Islamkonferenz vermutlich nicht zu rechtfertigen gewesen.

 

"Wir haben nicht alle Probleme gelöst. Aber wir haben in den dreieinhalb Jahren eine ganze Menge erreicht", zog Schäuble derweil Bilanz über die Tagungen des Gremiums, in dem Vertreter des Staates ebenso wie des Verbandsislams und der nichtorganisierten Muslime in verschiedenen Arbeitsgruppen immer wieder zusammenkamen. "Die Muslime fühlen sich heute in Deutschland besser aufgehoben, besser wahrgenommen, und der nichtmuslimische Teil der Gesellschaft hat besser verstanden, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist und dass uns die Vielfalt nicht bedroht, sondern eine Bereicherung ist."

 

Die Diskussionen in der Islamkonferenz seien oft kontrovers gewesen, sagte Schäuble. "Emotional sind wir uns in den dreieinhalb Jahren viel näher gekommen. Das ist auch ein wichtiger Fortschritt. Das soll man gar nicht geringschätzen." Andere Teilnehmer schätzen das ähnlich ein.

 

Schäuble regte daher bereits an, die Konferenz möglicherweise auch in anderen Strukturen weiterlaufen zu lassen. Ob es so weit kommt, wird wohl freilich erst nach der Bundestagswahl entschieden.

 

 

URL:

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,632302,00.html

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