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26.09.2008 Neue Bertelsmann-Studie: Muslime in Deutschland sind sehr religiös und orientieren sich auch im Alltag an ihren Glaubensvorstellungen

 

Politik spielt "eine sehr untergeordnete Rolle"

 

Die in Deutschland lebenden Muslime sind in allen Altersgruppen in hohem Maße religiös und unterscheiden sich darin deutlich von der deutschen Gesamtbevölkerung. Damit verbunden aber ist kein rigider Dogmatismus oder Fundamentalismus. Kennzeichnend für die Muslime hierzulande sind vielmehr die hohe Akzeptanz von religiösem Pluralismus und ein eher pragmatischer Umgang mit der Religion im Alltag. Zu diesem Ergebnis kommt die Sonderstudie „Religionsmonitor 2008 - Muslimische Religiosität in Deutschland“ der Bertelsmann Stiftung, die heute in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Dazu waren über 2.000 Muslime ab 18 Jahren repräsentativ befragt worden.

 

Danach sind 90% der in Deutschland lebenden Muslime religiös, davon 41% sogar hochreligiös. 5% sind nichtreligiös. Im Vergleich dazu sind in der gesamtdeutschen Bevölkerung 70% religiös (18% davon hochreligiös) und 28% nichtreligiös. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Angehörigen der verschiedenen muslimischen Glaubensrichtungen und bezüglich ihrer nationalen Herkunft bzw. dem ethnisch-kulturellen Hintergrund. So ist Religiosität unter den hier lebenden Sunniten besonders ausgeprägt. Von ihnen werden 92% als religiös und 47% sogar als hochreligiös eingestuft. Bei der Unterteilung nach Sprachgruppen zeigt sich die höchste religiöse Prägung bei Türkisch- und Arabischsprachigen mit jeweils 91%. Unter den Angehörigen der Bosnischstämmigen liegt sie mit 85% und bei der persischen Sprachgruppe mit 84% etwas niedriger. Der höchste Anteil an Hochreligiösen findet sich mit 44% unter den türkischstämmigen Muslimen.

 

Ein uneinheitliches Bild zeigt sich bei der Unterteilung nach Alter und Geschlecht. Mit zunehmendem Alter verringert sich die Intensität des Glaubens. Da es sich bei der Studie um eine Momentaufnahme handelt, lassen sich daraus allerdings keine Trends ableiten; ein Vergleich beispielsweise der Altersgruppen beschreibt damit nur die aktuelle religiöse Prägung der repräsentativ befragten Personen. Zudem nimmt das persönliche Gebet für Frauen mit 79% einen höheren Stellenwert ein als für Männer (59%). Die öffentliche Praxis hingegen ist der Bereich der Männer; für 51% der muslimischen Männer ist die Teilnahme am Gemeinschaftsgebet sehr wichtig, allerdings nur für 21% der Muslimas.

 

34% der Muslime nehmen mindestens einmal im Monat am Gemeinschafts- bzw. Freitagsgebet teil. Im Vergleich dazu besuchen in der christlichen Bevölkerung Deutschlands 33% der Katholiken und 18% der Protestanten mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst. Das persönliche Gebet praktizieren 60% der Muslime täglich; dem fünfmaligen Pflichtgebet in vollem Umfang kommen 28% nach. Im Vergleich dazu beten 36% der Katholiken und 21% der Protestanten in Deutschland mindestens einmal am Tag.

 

Mit Blick auf die Konsequenzen der Religiosität fällt die unterschiedliche Akzentsetzung bei der Beachtung religiöser Vorschriften auf. Während auch das Fasten im Ramadan, die Pilgerfahrt, die Pflichtabgabe, die Speisevorschriften oder die rituellen Reinheitsgebote von zwei Dritteln aller Muslime als ziemlich oder sehr wichtig angesehen werden, gilt dies für Bekleidungsvorschriften nur bei 36%. Das Kopftuchtragen lehnt eine Mehrheit von 53% ab, bei einer Zustimmung von 33%. Dabei ist die Zustimmung zum Kopftuch bei den Frauen höher als bei den Männern (38% zu 28%) und bei den 18- bis 29-Jährigen höher als bei den über 60-Jährigen (34% zu 27%). Und selbst nichtreligiöse Muslime finden Speise- und Reinheitsgebote noch zu rund 20% ziemlich oder sehr wichtig.

 

Der persönliche Glaube hat für viele Muslime auch unmittelbare Auswirkungen auf die Einstellung zu bestimmten Lebensbereichen. Für die Mehrheit insbesondere auf die Kindererziehung, den Umgang mit der Natur, mit Krankheit, Lebenskrisen oder wichtigen Lebensereignissen in der Familie. Nur für eine Minderheit spielt die Religion dagegen eine wichtige Rolle bei der Wahl des Ehepartners, für die Partnerschaft, Sexualität, Arbeit und Freizeit. Vor allem für die politische Einstellung ist die Religiosität wenig maßgeblich. Hier sagen nur 16%, der Glaube habe für sie bedeutenden Einfluss. 65% lehnen beispielsweise eine eigene islamische Partei ab.

 

Insgesamt, so die Erkenntnis der Studie der Bertelsmann Stiftung, ist die hohe Religiosität der Muslime in Deutschland gepaart mit einer sehr pluralistischen und toleranten Einstellung: 67% der Muslime bejahen für sich, dass jede Religion einen wahren Kern hat, unter den Hochreligiösen mit 71% sogar etwas mehr. 86% finden, man sollte offen gegenüber allen Religionen sein. Nur 6% finden dies nicht. Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund oder Glaubensrichtung sind auch bei diesem Inhalt nicht relevant.

 

Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a.D., ehemals Vorsitzende des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration: „Diese neuen Ergebnisse des Religionsmonitors brechen viele Klischees auf. Bislang wurde beispielsweise die Religiosität der Muslime als sehr politisch wahrgenommen, doch tatsächlich spielen bei den Muslimen Politik und die politische Einstellung eine sehr untergeordnete Rolle.“

 

Und Dr. Martin Rieger, Leiter des Programms Geistige Orientierung folgert aus der Sonderstudie: „Der Religionsmonitor zeigt die hohe Intensität der religiösen Einstellungen und Praktiken bei den in Deutschland lebenden Muslimen. Generell lässt sich feststellen, dass bei dem weitaus größten Teil eine hohe Ausprägung der persönlichen Religiosität einhergeht mit einer großen Toleranz gegenüber anderen Religionen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass die Religiosität als zivilgesellschaftliche Ressource auch für den Integrationsprozess noch intensiver wahrgenommen werden kann. Das betrifft gewiss auch die Frage eines angemessenen Religionsunterrichts.“

 

 

IZ, 26.09.2008

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Kommentar von Aiman A. Mazyek zu Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung unter Muslimen

 

Nicht radikaler

 

Viele Vorurteile und Klischees wurden durch eine zuletzt repräsentative Umfrage unter Muslimen der Bertelsmann-Stiftung beiseite geschoben. Der Großteil der Muslime in Deutschland ist demnach sehr religiös und dabei viel toleranter als landläufig und fälschlich angenommen wurde.

 

Glaube als Pfeiler der Identität begreifen, wie es der Leiter der Sonderstudie fordert, wurde und wird bis heute in Deutschland leider viel zu oft ignoriert. Muslime sind meist religiös eingestellt und mit ihrer Religiosität steigt ihre Toleranz gegenüber Andersgläubigen, so die Studie. Dies sind fundamentale Erkenntnisse des "Religionsmonitor 2008“ der Bertelsmann-Stiftung. Diese für die meisten Muslime selbstverständliche Analogie verwundert eine Reihe unserer Meinungsmacher, ja verunsichert sie bisweilen, weil vielleicht längst bekannte Vorurteile dadurch ins Wanken geraten.

 

Muslime sind nicht mehr aber auch nicht weniger radikal als der Durchschnitt der Bundesbürger Auch diese Erkenntnis ist bisher kaum bekannt. Und: Je religiöser, desto mehr ein Hang zur Integration mit diesem Land. Bisher erzählte man sich weitläufig den gegenteiligen Effekt. Oft werden sogar soziale Probleme, Bildungsdefizite und Sprachprobleme sogleich effekthascherich im Islam verortet ohne jede Analyse und Ursachenforschung. Anstatt das Kind einfach beim Namen zu nennen, dass nämlich: Muslime bis heute überdurchschnittlich in Unterschichten zu Hause sind und sozial und ökonomisch benachteiligt, werden diese Themen wie auch Zwangsheirat und Ehrenmord einfach unkommentiert „zwangsislamisiert“.

 

Immer wieder betonen Muslime: Frömmigkeit und ein guter Bürger zu sein, dies schließt sich nicht gegenseitig aus, sondern kann sich ergänzen. Für viele bleibt dies aber Fremdsprache.

 

Diese Studie und weiter wie z.B. die Gallup-Umfrage an 50 000 Muslime in 35 Ländern eines US-Forschungsinstitut vor ein paar Monaten, die zu ähnlichen Ergebnissen gekommen ist, räumt einmal mehr mit diesen weit verbreiteten Klischees auf. Diese Vorurteile - bisweilen auch einfach nur Falschheiten - haben bisher eine muslimische Scheinrealität beschrieben, die Frau Kelek und Co mit stetem Islam-Bashing prominent in den Feuilletons und Talk-Shows am Leben zu erhalten versuchen. Stets mit dem Todschlagargument: Man/Frau müsse doch endlich für die große schweigende Mehrheit der Muslime sprechen. Aber, wo ist die große schweigende Mehrheit nun geblieben? Sie ist, nach der neuesten Bertelsmann-Studie zu urteilen, einmal mehr auf 5 Prozent zurecht „gestutzt“ worden.

 

Wird jetzt Politik und Gesellschaft daraus die richtigen Konsequenzen ziehen? Schwer zu sagen. Bei vielen eher religiös Unmusikalischen in unserem Land ist die Versuchung groß, ihren Widerwillen zur Religion allgemein und im Besonderen gegenüber den Muslimen weiter gerade am Islam austragen zu wollen. Zu groß die Lust mancher Kirchenvertreter, statt sich solidarisch gegenüber den Muslimen zu erweisen, sein Profil um den eigenen Vorteil willen dadurch zu stärken.

 

Bedauerlich, denn so verschließt sich Politik und Gesellschaft permanent der muslimischen Realität in Deutschland und nimmt weiter vorlieb mit der oben skizzierten Scheinrealität. Und so werden weiter in unserem Land Scheingefechte geführt, wo nicht selten die Gemeinden und Religionsgemeinschaften diskreditiert, klein geredet und bisweilen auch kriminilalisiert werden.

 

Diese zurecht von den Muslimen als unfair empfundene Debatte wird dann scheinheilig als eine kritische Auseinandersetzung ohne Blauäugigkeit mit den Muslimen gepriesen. Was für ein unwürdiges Schauspiel die Muslime seit Jahren da mitmachen.!

 

Und was ist dabei die Antwort vieler Muslime: Sie verkriechen sich in ihre Löcher, wähnen sich in der Opferrolle oder sonnen sich in Verschwörungstheorien: Alle sind gegen sie.

 

Aber die Hoffung stirbt ja bekanntlich als Letztes, deswegen mögen hier einige Empfehlungen und Erkenntnisse, wie wir aus diesem Teufelskreis uns befreien können, wie die Zusammenarbeit in Zukunft für eine bessere Integration zu gestalten ist, genannt werden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Vielleicht fruchten sie irgendwann einmal… in besseren Zeiten:

 

1.Über 90 Prozent der Muslime in Deutschland erklärt sich als religiös. D.h. im Umkehrschluss, der Bedeutung der so genannten nichtreligiösen Muslime wurde bisher viel zu viel Gewicht beigemessen.

 

2. Gleichzeitig hat man der Bedeutung der Moscheen und Gemeinden – denn religiöses Leben findet ja nun mal dort statt - und deren Religionsgemeinschaften ein viel zu kleines Gewicht beigemessen. Für eine politische und gesellschaftliche Rehabilitierung wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.

 

3. Das allgemeine Vorurteil, eine gelungenen Integration ginge einher mit der steigenden Distanzierung zum Islam, ist hinfällig. Die Studie zeigt u.a.: „Je religiöser (und mehr Wissen über seine Religion), desto toleranter“. 4. Glaube und Religiosität als zivilgesellschaftliche Ressource für den Integrationsprozess muss strukturell, politisch und gesamtgesellschaftlich in den Mittelpunkt gerückt werden.

 

Dies sollte zukünftig, will man mit den Muslimen in diesem Land zusammenarbeiten, beachten werden und es sollte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten werden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund veränderter Bevölkerungsstrukturen (Demographie) in unserem Land lege ich dies den politischen Parteien und Regierungen ans Herz, wollen sie denn zukunftsfähig bleiben; und ganz besonders lege ich diese Erkenntnis meinem Innenminister auf der Islamkonferenz ans Herz.

 

IZ, 10.11.2008

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