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"Kopftücher sind ein Zeichen von Integration"

 

Was macht eigentlich die Soziologie? Kann sie Antworten auf das Thema Integration liefern? Forscher Heinz Bude vertritt überraschende Thesen.

 

Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung spricht mit WELT ONLINE über alltagspraktische Soziologie

 

Von Matthias Kamann und Alan Posener

 

Die Soziologie, die Wissenschaft, die von ihren Anfängen im neunzehnten Jahrhundert an als Inbegriff der Moderne galt, hat ihre Strahlkraft verloren. Waren einst Max Weber, Adorno/Horkheimer, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann entscheidende Stichwortgeber politischer Debatten, haben inzwischen Evolutionstheorie, Neurobiologie oder Genetik und jüngst die Demografie die Rolle von Leitwissenschaften übernommen. Gerade findet in Frankfurt der Jubiläumskongress des Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt, die 1910 zum ersten Mal zusammenkam. Aus diesem Anlass sprachen Matthias Kamann und Alan Posener mit Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung über die Lage seines Fachs.

 

WELT ONLINE: Herr Bude, In den großen gesellschaftspolitischen Debatten scheint die Soziologie kaum eine Rolle zu spielen.

 

Heinz Bude: Viele wichtige Debatten wurden in der Tat unter weitgehendem Ausschluss der Gesellschaftswissenschaften geführt. Das gilt für die Gentechnologie-Debatte, für die Debatte über Europa und den Euro und auch für die aktuelle Integrationsdebatte.

 

WELT ONLINE: Und da kommt jemand wie Sarrazin und hat auf der einen Seite eine makroökonomische These – Deutschland schafft sich ab durch Demografie – und andererseits hat er die Erzählungen aus dem Alltagsleben in Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh. Die Soziologie aber überspringt er.

 

Bude: So ist es. Zu meiner Idee von Soziologie gehört, dass wir viel mehr die ursprüngliche Aufgabe der Soziologie ernst nehmen sollten, nämlich, aus privaten Problemen öffentliche Fragen zu machen. Das gelingt uns nicht sehr gut.

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WELT ONLINE: Im Zweifel aber werden doch wir Journalisten die erregenderen Geschichten erzählen.

 

Bude: Vielleicht erregender, aber Sie haben einen großen Nachteil: Sie sind theoretisch ungebildet, wenn ich das so sagen darf.

 

WELT ONLINE: Das dürfen Sie.

 

Bude: Und Theorien schließen Dinge auf eine Weise auf, die auch heute noch überraschend ist.

 

WELT ONLINE: Zum Beispiel?

 

Bude: So lehrt die soziologische Identitätstheorie, dass die wachsende Verbreitung von Kopftüchern, die man bei muslimischen Frauen, auch bei gut ausgebildeten, beobachten kann, ein Zeichen von zunehmender Integration und nicht von zunehmender Desintegration ist. Weil nämlich diese Frauen den Anspruch erheben, trotz Differenzmarkierung teilhabeberechtigt zu sein und gewissermaßen auszutesten, wie man sich anders macht, um gleich werden zu können.

 

WELT ONLINE: Das kann man beweisen?

 

Bude: Es gibt eine Theorie und entsprechende Daten. Für den Alltagsverstand ist das eine eher überraschende Feststellung. Aber eine wichtige. Denn die deutsche Gesellschaft steht mitten in einem Prozess der Selbstverständigung darüber, was es eigentlich heißt, in einem ethnisch heterogenen Milieu auf Dauer zu leben. Die Soziologie kann sagen, womit man bei einem solchen Prozess rechnen muss.

 

WELT ONLINE: Und wie erklären Sie sich den Boom der Demografie?

 

Bude: Die Demografie befriedigt den Restbedarf moderner Gesellschaften an Sozialtechnologie. Man glaubt zu wissen, wo wir 2030 stehen. Aber die Modellrechnungen der Demografie können die Zukunftsdeutung der Soziologie nicht ersetzen. Ich kann Ihnen etwas sagen über die sozialen Konflikte, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, und über die gesellschaftlichen Konstellationen, zu denen wir uns verhalten können.

 

WELT ONLINE: Könnten Sarrazins Wut auf bestimmte Schichten und seine Hinwendung zu Demografie und Genetik aus der Enttäuschung eines sozialdemokratischen Sozialingenieurs resultieren?

 

Bude: Die Enttäuschung in der Sarrazin-Generation der Sozialdemokratie ist ungeheuer groß. Nehmen wir den seinerzeitigen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck. Der hatte bei der so genannten Unterschichtendebatte ein existenzielles Anliegen: Er stellte plötzlich fest, dass es Gruppen in der Gesellschaft gibt, die sich vom allgemeinen Aufstiegsgeschiebe verabschiedet haben, mit der das Modell Deutschland groß geworden ist. Das war für einen sozialen Aufsteiger wie den Ministerpräsidenten von der Pfalz unfassbar. Konservative können damit besser leben, weil sie sich sagen können, dass doch nicht alle aufsteigen können, weil es immer ein Unten und ein Oben gibt. Aber für einen Sozialdemokraten ist das ein ziemliches Problem, weil er denkt: Die Motivation ist da, wir müssen nur die Türen öffnen. Jetzt aber merkt er: Wir können noch so viele Türen öffnen, da bleibt eine bestimmte Gruppe trotzdem sitzen. Dieses Problem hat die Sozialdemokratie ideologisch bis heute nicht begriffen.

 

WELT ONLINE: Was wäre aber Ihre Antwort auf das Scheitern der Sozialtechnologie?

 

Bude: Ich glaube, wir sollten nicht so schnell über Lösungen reden. Wir müssen viel intensiver über Probleme reden. In der Bildungsdebatte etwa sollten wir nicht glauben, wir wüssten schon, was zu tun ist. Unsere Bildungsprobleme sind nicht durch eine Systemänderung zu lösen. Das ist eine große Illusion.

 

WELT ONLINE: Was aber heißt das konkret für die Schulpolitik?

 

Bude: Alle Menschen wollen einen Begriff von Größe haben. Unsere Schulen aber treiben das den Kindern und Jugendlichen aus. Sie sollen realistisch und bescheiden werden, man bietet ihnen ein Programm der Verliererabfindung an. Die Aufgabe der Zivilgesellschaft aber besteht darin, diese Bereitschaft der Jugendlichen zur Größe anzunehmen. Da ist ein großes Problem bei der Rekrutierung unseres Lehrpersonals zu erkennen. Eigentlich muss man Kandidaten fürs Lehramt fragen: „Könnt und wollt ihr Verantwortung für Menschen übernehmen? Seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass die Rolle des Lehrers nur zu spielen ist, wenn man sich als ganze Person einbringt?“ Es ist mittlerweile aus vielen Studien bekannt, dass die Lehrerpersönlichkeit ein entscheidender Faktor für den Bildungserfolg der Kinder ist, völlig unabhängig vom System. Auch das ist ein Thema, das in der Soziologie abgehandelt wird.

 

WELT ONLINE: Wenn die Probleme und Lösungen eher auf der mikrosoziologischen Ebene liegen, dann muss man sich nicht wundern, wenn politische Debatten, etwa die um Integration, von der Soziologie nicht erreicht werden.

 

Bude: Einerseits haben Sie Recht. Andererseits glaube ich an die Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften. Ich würde nie sagen, dass man bei der Integration nichts steuern kann. Und natürlich gibt es die Staatsbedürftigkeit moderner Gesellschaften. Entscheidend ist nur, welches Bild vom Staat man hat. Die Leute wollen, dass es einen Staat gibt, der sich um ihre Probleme kümmert. Theoretisch denke ich dabei an das Konzept des liberalen Paternalismus, wie es im Umkreis von Barack Obama von Richard Thaler und Cass Sunstein vertreten wird.

 

WELT ONLINE: Und wie geht es weiter mit der Soziologie?

 

Bude: Auch wenn die Leute bei kritischer Soziologie abwinken, so gibt es in der Gesellschaft gleichwohl sehr viel Kritik. Für eine Soziologie, die auf die Stimme der Leute hören will, bedeutet dies, sie muss von einer sich kritisch gebenden Soziologie auf eine Soziologie der Kritik umschalten.

 

WELT ONLINE: Was bedeutet das?

 

Bude: Es gibt zum Beispiel Kritik aus dem Geist der Inspiration. Dann lautet der kritische Kommentar: Die Welt ist deshalb so schlecht und verdorben, weil die Menschen die spirituelle Dimension verloren haben. Diese Kritik kann man als reaktionär bezeichnen, aber damit hat man ein schnelles Werturteil gefällt, aber nicht gehört, was gesagt wird. Andere kritisieren den Gang der Dinge aus dem Geist der Effizienz: Nichts funktioniert, alles läuft leer. Solche Kritiken sind vermutlich nicht unter einen Hut zu bringen. Aber so ist moderne Gesellschaft. Die Soziologie muss sich dann mit diesen unterschiedlichen Formen der Kritik befassen und darf sie nicht in einem Modell vereinheitlichen, wo vorne der Markt und hinten die Religion ist. Man muss die Leute mit ihren Wahrnehmungen und Kritiken ernst nehmen.

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