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Die Türkei wächst schneller als der Rest Europas und vergleicht sich schon mit China

 

Lange galt die Türkei als das Armenhaus Europas. In einigen Jahren könnte die EU froh sein, wenn das Land überhaupt noch beitreten will. -Sebastian Bräuer

 

Im Dezember beginnt für die Familien Abdo, Huri und Gazel eine neue Ära: Sie bringen ihr Textilunternehmen Hateks an die Börse. Bisher führten sie ihren Betrieb so, wie es seit Menschengedenken üblich war in der südtürkischen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien. Die drei Dynastien teilten sich Macht und Einnahmen zu gleichen Teilen. Doch das patriarchalische Gefüge ist nicht mehr zeitgemäss, denn die Umsätze sind explodiert. Hateks exportiert inzwischen in alle Welt, zu den Kunden gehören Grosskonzerne wie Ikea und Tchibo und Edelmarken wie Armani und Benetton. Eine weitere Firma aus der vermeintlich rückständigen muslimischen türkischen Provinz ist in der modernen Wirtschaftswelt angekommen.

 

 

 

Die Türkei erlebt einen Boom. In den ersten drei Monaten des Jahres, als im Rest Europas die Schuldenkrise tobte, wuchs die Wirtschaft um 11,7%. Im zweiten Quartal legte das Land, das der russische Zar Nikolaus I. einst als «kranken Mann Europas» bezeichnete, erneut um 10,3% zu. Weltweit hatten nur China, Singapur und Taiwan, die Stars unter den Schwellenländern, höhere Wachstumsraten. Und es ging fast ungebremst so weiter, was selbst landeskundige Experten überrascht. «Unsere Wachstumsprognose von 7% für das gesamte Jahr ist konservativ, einige Investmentbanken gehen inzwischen von 9,5% aus», sagt Marcus Svedberg, Chefökonom von East Capital.

 

 

Die Suche nach den Ursachen des Aufschwungs führt ins Jahr 2001, als eine Finanzkrise das Land und seine 73 Millionen Einwohner erschütterte. Dutzenden Banken drohte das Geld auszugehen, Börse und Währung brachen ein, Investoren zogen ihr Kapital ab. Es folgte ein radikaler Neubeginn, als dessen Architekt der damalige Wirtschaftsminister und frühere Weltbank-Mitarbeiter Kemal Dervis gilt. Er setzte einen rigiden Sparkurs durch: Während es nicht nur im Nachbarland Griechenland zu Exzessen kam, senkte die Türkei ihr Budgetdefizit von Jahr zu Jahr. 2006 verbuchte die Regierung sogar einen Haushaltsüberschuss. Das Verhältnis der Schulden zum gesamten Wirtschaftsvolumen ist heute geringer als in Deutschland, in Griechenland ist es fast dreimal so hoch.

Parallel zur Sanierung der Staatsfinanzen sowie zu einer Reihe von Privatisierungen sortierte Dervis den Bankensektor neu. Die Zahl der Geldhäuser ist geschrumpft. Die verbliebenen Institute übertreffen die gesetzlichen Kapitalvorschriften deutlich und gehen bei der Vergabe von Darlehen zurückhaltend vor. «Die Türkei hat aus ihrer letzten Krise gelernt und den Bankensektor stabilisiert», urteilt Svedberg. «Deswegen ist das Land besser durch die Krise 2008 gekommen als andere und musste kein einziges Institut stützen.»

 

 

Das Wachstum steht auf vielen Säulen. Die Türkei produziert Gebrauchsgüter für den Weltmarkt, von Schuhen bis zu Fernsehern, und beliefert damit auch Schweizer Haushalte: Die Schweiz war 2009 der weltweit sechstgrösste Empfänger türkischer Exportwaren. Die Baubranche floriert besonders kräftig, zudem ist die Türkei der weltgrösste Zement-Exporteur. Die Bedeutung der Landwirtschaft nimmt dagegen ab: Vor acht Jahren arbeitete noch gut jeder dritte Türke im Agrarbereich, heute nur noch jeder vierte.

 

 

Im Dienstleistungssektor, wo 60% des Bruttoinlandprodukts entstehen, herrscht eine Gründeratmosphäre, die von unbürokratischen Behörden gefördert wird. In der Türkei dauert es gemäss einer Weltbank-Studie 6 Tage, bis ein Unternehmen gegründet ist, der OECD-Schnitt liegt bei 13 Tagen. Beobachter berichten von einer Euphorie, die auf den Strassen spürbar sei. «Die Zuversicht der Menschen ist gross», sagt Jan Senkyr, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara. «Man fühlt sich auf den Spuren Chinas.»

 

 

 

Langfristig wird der Türkei ihre Altersstruktur zugutekommen: Der Anteil junger Menschen ist deutlich höher als in anderen Ländern Europas, wo der demografische Wandel die Sozialsysteme schon bald auf eine harte Probe stellen wird. «Viele Türken, die vor Jahrzehnten nach Deutschland gezogen sind, würden heute ihre Heimat nicht mehr verlassen», sagt Senkyr. «Sie sind der Meinung, hier bessere Chancen zu haben.»

Doch die Europäische Union zögert, die beitrittswillige Türkei aufzunehmen, und stellt immer neue Anforderungen. Noch zeigt sich die türkische Regierung gewillt, diese zu erfüllen. «Eine EU-Mitgliedschaft wäre im Interesse beider Seiten», sagt Senkyr. «Aber türkische Politiker betonen in vertraulichen Gesprächen immer wieder, sich auch gegen den Beitritt entscheiden zu können. Sie machen deutlich, Alternativen zu haben.»

 

http://www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/wirtschaftswunder_am_bosporus_1.8373325.html

Bearbeitet von yilmaz
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