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«Eine Religion, die zu liberal wird, verschwindet»

 

Religionssoziologe Jörg Stolz sagt, die Kirchen befänden sich im Dilemma: Sie bräuchten ein klares Profil, um sich im Markt der Religionen zu positionieren – und sie müssten sich dem Zeitgeist anpassen.

 

Herr Stolz, ist es das Schicksal einer liberal ausgeprägten Religion, sich selber abzuschaffen?

Richtig ist: Wenn man zu liberal wird, wird die Grenze der Religion zur Umwelt so unklar, dass die Religion in der Tat verschwindet. Auf der anderen Seite ist eine gewisse Liberalität nötig. Am Anfang einer neuen Religion steht meist ein charismatischer Aufbruch mit starken Abgrenzungstendenzen. Macht diese Religion keinerlei Zugeständnisse an die gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten, verschwindet sie bald. Wollen Religionen ankommen in der Gesellschaft, müssen sie sich institutionalisieren und das Charisma entschärfen. Am besten funktioniert eine moderate Spannung zur Umwelt.

 

Sie sagen, die Reformierten würden wenig wahrgenommen, weil sie sich kaum von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Ist das nur negativ?

Wer sich von der Mehrheit durch nichts unterscheidet, produziert keine negativen Schlagzeilen. Aber eben auch keine positiven. Und das wird zum Problem in einer Zeit, in der Religionszugehörigkeit immer mehr als Wahl verstanden wird. Wenn man keinen guten Grund sieht, einer Konfession anzugehören, tritt man aus. Hier müssen die Kirchen den Leuten gute Gründe geben. Haben sie kein Profil, ist das ein Problem.

 

Dann fordert der neue Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, Gottfried Locher, mit Recht ein schärferes Profil?

Für die öffentliche Selbstdarstellung wäre ein stärkeres Profil in der Tat sinnvoll. Ein gemeinsames Bekenntnis, ein gemeinsames Logo, gemeinsame klare Positionen und Aktionen könnten da viel ausrichten. Zwar sind alle einverstanden, dass man das Profil schärfen muss. Sobald es darum geht, wie das geschehen soll, sind die Leute typisch protestantisch und fundamental uneinig.

 

Der Clash zwischen liberalen und harten Religionen liegt für Sie weniger in der Akzeptanz der Menschenrechte als in Gender-Fragen.

Ja. Es geht um Fragen des Verhältnisses zwischen Mann und Frau, um die Akzeptanz von Homosexualität oder Abtreibung. Konservative Religionen beharren auf der Dominanz des Mannes, einer restriktiven Sexualmoral und einer alleinigen Anerkennung der heterosexuellen Beziehung. Wenn es einen Clash der Zivilisationen gibt, dann hier. Diese Kluft zeigt sich zwischen den Religionen im Westen, aber auch international, etwa zwischen christlich und islamisch geprägten Ländern.

 

In der evangelisch-reformierten Kirche ist die Fristenregelung ethisch möglich, Homosexualität erlaubt. Ist das profillos?

In diesen Fragen sind die Reformierten und Lutheraner in der Tat sehr offen. Doch wie sehr braucht man das, um öffentlich ein Profil anzupreisen? Allenfalls gegenüber den Katholiken in der «Arena». Das Problem ist, dass die verbliebenen Kirchgänger oft konservativ denken. Je klarer die Kirchen in diesen Fragen ihr Profil zeigen, desto stärker schrecken sie ihre eigene Klientel ab.

 

Sind es die liberalen Ausprägungen der Religion, welche die Säkularisierungsthese, den Religionsverlust in der Moderne, bestätigen?

Es sind sowohl die liberalen als auch die konservativen Strömungen, die sie bestätigen. Die konservativen Strömungen sind meist Gegenbewegungen zum Liberalismus. Schaut man die Zahlen an, kann man an der Säkularisierung der westlichen Gesellschaft nicht zweifeln. Amerika ist noch eine Ausnahme, aber auch auf diesem Weg.

 

Warum aber stellen immer mehr Theologen und Religionssoziologen die Säkularisierung infrage?

Ich kann das nur durch zwei Mechanismen erklären. Einerseits aus einer verzerrten Wahrnehmung heraus: Beschäftigt man sich ständig mit Religion, dann liegt es auf der Hand, dass man die Religion überall wahrnimmt. Andererseits ist es angenehmer, von einem Forschungsobjekt zu berichten, das nicht schrumpft. Sobald man einen Antrag für ein nationales Forschungsprojekt stellt, muss man es als wichtig ausweisen können.

 

Also ist die Rückkehr der Religion nur ein mediales Phänomen?

Auf der Ebene der faktisch gelebten Religiosität in den westlichen Industrieländern gibt es keine Rückkehr der Religion. Die alternative Spiritualität wie Esoterik ist marginal. Wir sehen eine rasante Säkularisierung, einen rasanten Niedergang der Wichtigkeit von Religion im Leben der Menschen. Jede neue Generation scheint weniger religiös als die vorherige. Eine Rückkehr des Themas in den Medien gibt es aber durchaus: Das liegt vor allem an der weltpolitischen Bedeutung des Islams.

 

Die harten Spielarten der Religion sind viel stärker in den Medien als die liberalen. Ist nur ein konfliktuöses religiöses Profil interessant?

Die Medien funktionieren nach ihrer eigenen Logik. Nur was aktuell, aussergewöhnlich, skandalträchtig, emotional berührend, nah am Zuschauer oder Leser ist, ist berichtenswert. Eine hervorragende Predigt, ein schöner Kirchenbasar, eine nachhaltige Hilfe für Bedürftige können den Teilnehmern sehr viel bringen – aber sie haben keinen Nachrichtenwert.

 

Müssen Religionen und ihre Vertreter exotisch sein, um das mediale Interesse zu wecken?

Nicht unbedingt, aber es hilft. Der bekannteste Reformierte der Schweiz ist ein Exot – Pfarrer Sieber, der auch schon mal auf dem Esel daherkommt. In einer Zeit, da man immer weniger von Religion weiss, wird diese natürlich exotischer. Davon leben heute auch viele Krimiautoren wie Dan Brown. Aber auch ohne Exotismus können mediengewandte Religionsvertreter auf der öffentlichen Szene sehr präsent sein. Sie dürfen sich nur nicht scheuen, prägnant aufzutreten. Ein Beispiel ist Pater Roland Trauffer, der frühere Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz.

 

Sollte die katholische Kirche alle liberalen Postulate übernehmen: Würde sie sich abschaffen?

Ja. Das kann sie aber nicht wollen. In gewisser Weise ist ihr Widerstand auch ihre Stärke. Andererseits zeigen sich die negativen Seiten sehr deutlich. Der Zölibat ist ein Grund für den Priestermangel. Das wird sich die katholische Kirche nicht mehr lange leisten können.

 

Die Reformierten nehmen auch zahlenmässig ab. Hat das mit ihrer Liberalität zu tun, oder ist das mehr ein demografisches Problem?

Das Problem ist zu einem grossen Teil demografisch. Jedes Jahr sterben mehr Reformierte, als geboren werden. Jedes Jahr gibt es 10 000 Reformierte weniger, das entspricht einem grossen Dorf. Es ist aber auch ein Problem der Austritte und der Tatsache, dass manche Eltern ihre Kinder nicht mehr taufen. Evangelikale haben mehr Kinder und können diese besser im Milieu halten, weil sie viel in die religiöse Sozialisierung investieren.

 

Gibt es auch den liberalen Islam?

Ja, aber viel stärker auf der Ebene der individuellen Praxis als in den religiösen Institutionen. In der Öffentlichkeit und in der innertheologischen Debatte sind liberal-muslimische Positionen deutlich in der Minderheit. Islamische Gelehrte haben ihren Glauben bisher noch nicht in der Weise historisch-kritisch durchforstet, wie das christliche Theologen seit der Aufklärung getan haben.

(Tages-Anzeiger)

 

Erstellt: 03.03.2011, 07:53 Uhr

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