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21.11.2011 | 06:19 | von unserem Korrespondenten Karim El-gawhary (Die Presse)

 

Rund eine Woche vor den Wahlen kommt es in Ägypten zu schweren Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Militärführung hat sich mit der Eskalation die Option eröffnet, die Wahlen zu verschieben.

 

Kairo. Ägyptische Jugendliche stürmen unerschrocken auf die Polizeiketten in den Nebenstraßen des Tahrir-Platzes zu, die antworten mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen. Immer wieder werden Verletzte von der vordersten Front zurück auf den Platz getragen, zu einer improvisierten Klinik. Es ist ein Déjà-vu aus den Tagen des Aufstandes gegen den ägyptischen Diktator Hosni Mubarak.

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In der spontan aufgebauten Straßenklinik, die vor den Türen einer amerikanischen Fast-FoodKette errichtet wurde, kümmert sich eine Gruppe von Ärzten um die Erstversorgung. Manche der meist jugendlichen Verwundeten liegen lethargisch auf dem Boden, andere schreien vor Schmerzen, während ein Arzt die Kleidungsstücke aufschneidet, um die Wunden zu versorgen. Die Helfer senden mit ihren Handys immer wieder neue Aufrufe ins Internet, über den Kurznachrichtendienst Twitter oder das soziale Netzwerk Facebook nach mehr Verbandsmaterial, Medikamenten und Ärzten.

Manche der Verletzten symbolisieren geradezu die Verbindung zwischen dem Aufstand im Jänner gegen Mubarak und den jetzigen Straßenkämpfen gegen die Militärführung, die kommissarisch das Land verwaltet. Der junge Zahnarzt Ahmad Harara ist allseits auf dem Tahrir-Platz bekannt: mit seiner Aluminiumklappe über dem rechten Auge, das Datum 27. Jänner eingraviert, jenen Tag, als er durch ein Gummigeschoss sein linkes Auge verloren hat. Jetzt traf ein weiteres Geschoss sein anderes Auge, und es ist unklar, ob er sein Augenlicht völlig verlieren wird. Über 200 Verletzte und mindestens zehn Tote haben bisher die Auseinandersetzungen gefordert, die nicht nur auf dem Tahrir-Platz in Kairo, sondern auch in Alexandria und in Suez ausgebrochen sind. Es sind die schwersten Zusammenstöße seit Monaten. Damit hängen über dem Tahrir-Platz nicht nur erneut die Tränengasschwaden in der Luft, sondern auch die Frage, was mit den Parlamentswahlen geschehen soll, die am 28. November stattfinden sollen.

 

Tahrir-Platz: Straßenschlachten in Kairo

 

 

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Warum das scharfe Vorgehen?

 

Begonnen hatten die Straßenschlachten am Samstag. Eine Gruppe von mehreren hundert Demonstranten hatte nach einer Großdemonstration am Freitag auf dem Tahrir-Platz erneut ihre Zelte aufgebaut. Auf der Großdemonstration, der größten seit dem Sommer, hatten 50.000 Menschen verschiedener Gruppierungen von Islamisten bis hin zu Liberalen und Säkularen den Rückzug der Militärführung aus der Politik gefordert. Sie verlangten Präsidentschaftswahlen zum frühestmöglichen Zeitpunkt, womit der Militärrat seine Exekutivmacht verlieren würde. Und sie wendeten sich gegen ein Superverfassungsdokument, in dem das Militär sich das letzte Wort bei strategischen Entscheidungen festschreiben lassen will. Als die Großdemonstration abgezogen war und nur noch ein paar hundert Menschen in der Zeltstadt übrig geblieben waren, griff die Polizei überraschend an. Binnen kurzer Zeit kamen aber so viele Menschen zurück auf den Platz, dass sich die Polizei am Nachmittag zurückziehen musste.

Die auf dem Platz meistdiskutierte Frage: Warum geht die Polizei ausgerechnet jetzt so scharf gegen die Demonstranten vor und eskaliert damit bewusst die Lage eine Woche vor den Wahlen? Noch ist unklar, was mit den Wahlen am 28. dieses Monats geschehen soll, aber die Militärführung hat sich mit der Eskalation zumindest die Option eröffnet, die Wahlen zu verschieben.

 

Militärrat soll zurücktreten

 

Ministerpräsident Essam Scharaf rief die Aktivisten auf, den Platz zu räumen. „Was auf dem Tahrir-Platz passiert, ist sehr gefährlich“, warnte das Kabinett in einer Erklärung. Der Kurs der Nation und der Revolution werde gefährdet. Am Samstagabend tauchte dann Generalmajor Mohsen El-Fangari in Talkshows eines privaten Fernsehsenders auf und erklärte, dass die Demonstranten auf dem Tahrir das Ziel hätten, das Rückgrat des Staates, die Armee, anzugreifen. „Nicht die Armee, sondern wir, das Volk, sind das Rückgrat des Staates“, meinte ein Demonstrant am nächsten Morgen aufgebracht.

„Mit ihrem provozierenden Polizeieinsatz wollen sie beweisen, wie chaotisch die Revolution ist“, sagt der junge Demonstrant al-Muatazim Billah, der in einem Reisebüro arbeitet. „Wir bleiben hier, bis die Regierung und der Militärrat zurücktreten. Wir wollen einen zivilen Staat“, fordert er. Zum Beweis, was die Polizei in den letzten Stunden eingesetzt hat, zieht er zwei Tränengaskanister „made in the USA“ und eine Handvoll Gummigeschosse aus der Tasche.

Auf die Frage, ob die Wahlen nun stattfinden, winkt die Tahrir-Aktivistin Heba Hilimi ab. „Der wirkliche Kampf, das alte System zu brechen, wird nicht bei den Wahlen, sondern auf der Straße ausgetragen“, sagt die Grafikdesignerin. „Letzten Freitag waren sich alle politischen Kräfte einig, das Militär aus der Politik zu entfernen. Wir wollen alle einen zivilen demokratischen Staat, und diese Einigkeit wollen sie jetzt brechen“, glaubt sie. „Sie haben Panzer, wir aber haben nichts als die Möglichkeit zu demonstrieren, und wir werden weitermachen. Denn wenn wir sie an der Macht lassen“, prophezeit sie, „werden sie uns langfristig fertigmachen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2011)

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