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"Rassistische Untertöne gibt es in allen Schichten"

 

Michel Friedman, ehemaliger Vize-Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Fernsehmoderator.

Michel Friedman spricht im Interview über das Versagen des Staates, die heikle Frage eines NPD-Verbotes und die Diskriminierung von Menschen im deutschen Alltag.

Herr Friedman, Sie haben immer wieder vor dem Rechtsextremismus in Deutschland gewarnt. Was ist das für ein Gefühl, Recht zu behalten?

Ich bin erschüttert und wütend. Seit ich in Deutschland lebe, gibt es Naziparteien in Parlamenten, gibt es rechtsradikale Gewalt. Denken Sie an die Wehrsportgruppe Hoffmann in den 1970er Jahren, an die Anschläge von Mölln und Solingen in den 90ern. Ich habe immer gehört: „Sie sind übersensibel – kein Wunder bei Ihrer Familiengeschichte. Aber wir haben alles im Griff.“ Von wegen! Eine ernste Gefahr von Nazis in Deutschland, das war für Politik, Polizei und Justiz ein Tabu. Plötzlich sind alle sehend geworden. Warum nicht viel früher?

Und – warum nicht?

Unter anderem, weil es – wie weiland bei der RAF – eine Sympathisantenszene gibt. Rassistische Untertöne sind in allen Schichten der Gesellschaft vernehmlich. Nur fallen sie beim Getrampel von Springerstiefeln mehr auf als beim Klingen von Champagnergläsern auf feinen Empfängen. Bis weit in die „Mitte der Gesellschaft“ finden Sie die Meinung, die rechte Szene stelle richtige Fragen: „Gewalt wollen wir nicht, aber...“ Und in diesem „Aber“, in diesem „Man muss doch mal sagen dürfen“ schwappt die ganze braune Soße hoch.

Denken Sie da etwa an Thilo Sarrazin?

Es wäre unsauber und grob simplifizierend, von Sarrazins Thesen eine Linie zum Rechtsterror zu ziehen. Die fremdenfeindliche Mordserie lag lange vor diesem schrecklichen Buch. Es geht um Alltagsdiskriminierung. Es geht darum, dass ein Deutscher mit türkischem Namen nicht als Deutscher anerkannt ist. Ich erinnere mich an den Satz, „Wehret den Anfängen!“ Ich stelle fest: Über die Anfänge sind wir weit hinaus, und das schon lange.

Die Bundeskanzlerin spricht von einer „Schande“…

Verbal ist die Abgrenzung von den Rechtsradikalen eindeutig, in allen demokratischen Parteien, und das ist gut so. Aber die Konsequenzen sind zu schwach. Aufklärungsprogramme wurden gekürzt, Mittel für die Jugendarbeit zusammengestrichen. Wie passt das zu den Sonntagsreden? Die Nazis besetzen die Felder, die dort freigemacht werden.

Ein Versagen der Politik also?

Polizei, Justiz und Verfassungsschutz haben auch versagt. Das V-Mann-Konzept ist in einem Fiasko geendet. Es war aber ein Kurs, den Bund und Länder seit Jahren als erfolgreich verkauft haben. Es war die Begründung dafür, kein zweites NPD-Verbotsverfahren anzustreben. Der Verfassungsschutz untersteht den Innenministern. Die können sich jetzt nicht hinstellen und sagen, sie hätten mit alledem nichts zu tun. Dieses Unschuldsgehabe ist unerträglich. Ich bestehe auf der Nachvollziehbarkeit von Verantwortung und auf Konsequenzen.

Gehört dazu ein neues NPD-Verbotsverfahren?

Ich bin in dieser Frage zögerlich. Es kann aber nicht sein, dass wir organisierte Menschenverachtung, geistige Brandstiftung durch das Parteienprivileg decken und mit Steuergeldern unterstützen. Verbale Gewalt ist die Vorstufe zur körperlichen Gewalt. Wir müssen eindeutige Signale setzen: Mit Meinungsfreiheit hat das nichts mehr zu tun. Zudem ist das Argument, ein NPD-Verbot erschwere die Aufklärung der rechtsextremen Szene, spätestens jetzt als absurd entlarvt. Deswegen: Trotz aller Bedenken „ja“ zum NPD-Verbot.

Das weder die Ideologie der NPD beseitigt noch ihre Unterstützer noch die Option auf Gründung einer neuen Partei.

Darum kann ein Verbot nur Teil eines Gesamtpakets sein. Erste und wichtigste Maßnahme muss sein: Begangene Straftaten schneller verfolgen und härter bestrafen. Ein Zweites ist die politische Bildung: Kämpfen wir für eine offene Gesellschaft? Bereiten wir die Menschen auf die Herausforderung des Zusammenlebens verschiedener Kulturen vor? Bieten wir allen Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft – die gleichen Bildungschancen? Begegnen wir einander auf Augenhöhe? Wie lange wollen wir noch mit dem Gegensatz „wir – ihr“ eine Zukunft gestalten?

Sie tun so, als gäbe es nicht seit Jahren eine Integrationsdebatte.

Es gibt sie, aber mir fehlt die Entschlossenheit. Die Gesellschaft der Zukunft wird eine Symbiose aus allen kulturellen und religiösen Einflüssen sein. Ich erwarte von der Politik, dass sie den Bürgern vermittelt: Diese neue Herausforderung ist eine wunderbare Chance. Wer festhält an einem „Leitkultur“-Ideal des vorigen Jahrhunderts, lässt außer Acht, dass „wir Deutsche“ längst zu einem großen Teil Migranten, deren Kinder und Enkel sind. Integration ist da ein hoffnungslos veralteter Begriff. Was heißt denn Integration? Wir reden von deutschen Staatsbürgern. In einer Stadt wie Frankfurt leben schon heute 40 Prozent Menschen mit „Migrationshintergrund“. Wer integriert da eigentlich wen?

Aber von dieser Unsicherheit ist es ein weiter Weg zu Terror.

Diskriminierung von Menschen, die irgendwie anders sind, ist ein Stück deutscher Alltag. Wir wissen, dass in manchen Ortschaften und Stadtteilen Rechtsradikale das Sagen haben. Wir wissen, dass Parteien mit rassistischen Parolen in Parlamente gewählt worden sind. Aber wir haben uns an all das gewöhnt.

Juden waren in der jetzt bekannt gewordenen Terrorserie kein einziges Mal das Ziel.

Aber sie sind und bleiben das klassische Feindbild der Nazis. Mit „den Muslimen“ und in Deutschland speziell „den Türken“ ist nur ein neues Feindbild hinzugekommen. Das zeigt: Letztlich geht es den Nazis oberflächlich um Juden oder Muslime – in Wirklichkeit ertragen sie das Anderssein nicht. Deshalb sind die naiv, die glauben, sie seien vom Naziterror nicht betroffen, weil sie ja weder jüdisch noch muslimisch sind.

Das Interview führte Joachim Frank

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