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In Ankara hat am Mittwoch der Prozess gegen die zwei noch lebenden Anführer des Militärputsches in der Türkei von 1980 begonnen. Die beiden Angeklagten, der heute 94-jährige Putschistenführer und spätere türkische Staatspräsident Kenan Evren sowie der 87-jährige Ex-Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya, erschienen aus gesundheitlichen Gründen und wegen ihres hohen Alters nicht vor Gericht.

 

Ihnen wird Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung vorgeworfen. Bei einer Verurteilung droht ihnen eine lebenslange Haftstrafe. Evren selbst zeigte bei seinem Verhör durch die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr laut Presseberichten keinerlei Reue. In einer vergleichbaren Situation würde er wieder so handeln wie damals, sagte der Ex-General. Vor dem Gerichtsgebäude verlangten Tausende Demonstranten Gerechtigkeit für die Putschopfer. Sie forderten, dass der Prozess über den engsten Führungszirkel ausgeweitet werden soll. Über Lautsprecher wurden die Namen Hunderter Opfer verlesen und mit Schweigeminuten begleitet.

 

Auch eine kleine Gruppe ehemaliger Offiziere, die sich geweigert hatten, am Putsch teilzunehmen und dafür aus der Armee entlassen worden waren, nahm an dem Protest teil. „Das ist nur ein symbolisches Verfahren“, sagte der einstige Leutnant Rahmi Yildirim. „Es genügt nicht, diese beiden Generäle vor Gericht zu stellen.“ Am Vortag war es zu Protesten vor der US-Botschaft gekommen.

 

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Proteste vor der US-Botschaft

 

Putsch forderte Hunderttausende Opfer

Nach Angaben von Putschopfern wurden unter der Militärregierung rund 650.000 Menschen verhaftet, rund 250.000 kamen vor Gericht, mehrere hundert Menschen starben durch Hinrichtungen oder Folter. Zehntausende wurden ausgebürgert und flohen ins Ausland. 1982 gaben die Militärs die Macht wieder ab. Sie hinterließen aber eine in großen Teilen noch heute gültige Verfassung, die ihnen großen politischen Einfluss sicherte und viele Bürgerrechte einschränkte. Evren selbst war noch bis 1989 Staatspräsident.

 

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Die Putschisten 1980 bei einer Zeremonie im Mausoleum von Atatürk, dem Begründer des modernen türkischen Staates

 

„Eine Bande von Mördern“

In dem Prozess treten nicht nur Hunderte Putschopfer und Verbände als Nebenkläger auf, sondern auch Parlament und Regierung, die damals von den Putschisten aufgelöst wurden. „Die Führer des Staatsstreichs sind meiner Meinung nach eine Bande von Mördern“, sagte Regierungsberater Ömer Celik. Der Militärputsch sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen.

 

Noch vor wenigen Jahren wäre in der Türkei ein solcher Prozess undenkbar gewesen. Die Generäle, die nach wie vor unter ihrem osmanischen Titel „Pascha“ bekannt sind, sahen sich jahrzehntelang als Wächter der säkularen Ordnung und des Erbes von Staatsgründer Kemal Atatürk. Ermöglicht wurde das Verfahren schließlich durch die von der islamisch-konservativen Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2010 initiierte Volksabstimmung über eine weitreichende Verfassungsreform. Dadurch wurde eine Schutzklausel, eine Immunitätsregel, abgeschafft, die von den Militärs in die in ihrem Auftrag ausgearbeitete Verfassung von 1982 eingebaut worden war.

Gül sieht „Mentalitätswandel“

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül erklärte am Mittwoch in Ankara, das Verfahren werde einen „Mentalitätswandel“ bewirken, der ähnliche Umsturzversuche künftig unmöglich machen werde. Von den heutigen Parteien erwarte er mehr Einsatz bei der Ausarbeitung der geplanten neuen zivilen Verfassung, fügte der Staatschef hinzu.

 

Evren und Sahinkaya lassen sich derzeit in Militärkrankenhäusern behandeln. Gerichtsmediziner sollen die beiden nun auf ihre Verhandlungsfähigkeit hin untersuchen. Die beiden könnten wegen ihres schlechten Gesundheitszustands über eine Videoschaltung ihre Aussagen machen.

USA agierten im Hintergrund

Nach dem Putsch gegen die Regierung des Ministerpräsidenten Süleyman Demirel, der ebenso wie sein Gegenspieler, der damalige Oppositionsführer Ex-Premier Bülent Ecevit, und die übrigen Parteiführer eingekerkert wurde, gingen die Militärs besonders brutal gegen Linke, Intellektuelle und Kurden vor. Mit dem vom großen NATO-Partner USA insgeheim geförderten Staatsstreich Evrens vom 12. September 1980 reagierte die Armeeführung auf blutige Unruhen, gewalttätige Agitation rechts- und linksextremistischer Kräfte und auf die Lähmung des Parlaments, das in Dutzenden von Wahlgängen unfähig war, einen Nachfolger für Staatspräsident Admiral Fahri Korutürk (1973 bis 1980) zu wählen.

Armee griff mehrmals in Staatsgeschicke ein

Die türkische Armee hatte 1960, 1971, 1980 und 1997 in die Politik eingegriffen und zweimal - 1960 unter General Cemal Gürsel und 1980 unter General Evren - direkt die Macht übernommen. 1997 hatte das Militär den Rücktritt des religiös orientierten Premiers Necmettin Erbakan erzwungen, der mit politischem Betätigungsverbot belegt wurde. Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah) war eine Vorläuferin von Erdogans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Die AKP-Regierung hat die Machtbefugnisse des Militärs stark eingeschränkt.

 

(Anm.: Premierminister) Erdogan bemüht sich, den Einfluss des Militärs zu beschneiden, da die Armee ihn und seine Partei wegen der islamistischen (Anm.: "islamischen") Wurzeln mit großer Skepsis sieht. Kürzlich begann das Verfahren gegen den früheren Chef der türkischen Streitkräfte, Ilker Basbug. Ihm wird zur Last gelegt, Anführer eines ultranationalistischen Netzwerks gewesen zu sein, das hinter einer Reihe mutmaßlicher Putschversuche gegen Erdogans Regierung steckt.

orf.at

 

 

Der lange Schatten des Putsches

„Erlauchte türkische Nation“ - mit diesen Worten begann am 12. September 1980 eine Rundfunk- und Fernsehansprache des damaligen Generalstabschefs General Kenan Evren. Zusammen mit den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Gendarmerie hatte Evren kurz zuvor die zivile Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel abgesetzt.

 

Die Putschisten übernahmen die Macht, setzten die demokratische Verfassung außer Kraft, verfügten ein Parteienverbot und ließen Hunderttausende festnehmen, etliche wurden schwer gefoltert, mehrere hundert Menschen starben.

Signal an heutige Generäle

Trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen konnte die Justiz den Putschisten lange Zeit nichts anhaben. Das ändert sich erst jetzt: Mehr als 30 Jahre nach dem Coup begann am Mittwoch in Ankara der Prozess gegen die noch lebenden Mitglieder der damaligen Junta. Angeklagt sind der heute 94-jährige Putschführer von 1980 und spätere türkische Staatspräsident (bis 1989), Kenan Evren, und der 87-jährige Ex-Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya, die anderen drei Mitglieder der Putschriege von 1980 sind tot. Die Anklage ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte - und sendet ein unübersehbares Signal an die heutige Generation der Generäle.

Grabesruhe in der Türkei

Ausgelöst wurde der 1980er Putsch durch blutige Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen auf den Straßen und die Unfähigkeit des zerstrittenen Parlaments, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Deshalb wurde der Staatsstreich von vielen Türken zunächst begrüßt - endlich war Ruhe im Land. Doch es war eine Grabesruhe. Nach und nach zeigte sich die dunkle Seite der neuen Machthaber. In den Gefängnissen wurden Inhaftierte schwer gefoltert, die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt. Insgesamt starben 50 Menschen durch Hinrichtung, rund 300 starben in den Gefängnissen, fast 400 weitere Putschopfer kamen außerhalb der Gefängnismauern ums Leben.

Leben an der sonnigen Küste

Reue zeigt Evren deshalb nicht. „Ich würde es wieder tun“, sagte er bei seiner ersten staatsanwaltschaftlichen Vernehmung im vergangenen Jahr. Lange Zeit hatten sich Evren und seine Mitstreiter keine Sorgen über eine Vorladung durch die Justiz machen müssen. In der 1982 unter Militärherrschaft erlassenen Verfassung verankerten die Generäle eine umfassende Straffreiheit für sich selbst, Evren ließ sich 1982 zum Staatspräsidenten wählen. Nach dem Ende seiner siebenjährigen Amtszeit zog er sich an die sonnige Westküste der Türkei zurück und wurde Freizeitmaler.

Erst eine Volksabstimmung im September 2010 zerstörte die Idylle der Ex-Generäle. Die Türken schafften die Immunität für die Militärs ab und ermöglichten damit die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Ende einer Ära für die Armee

Der Prozess gegen Evren und Sahinkaya wird der Türkei die Gelegenheit geben, sich mit dem 1980 begangenen Unrecht auseinanderzusetzen; auch die Wurzeln des Kurdenkonflikts lassen sich in die Putschzeit zurückverfolgen, als das Gefängnis in der kurdischen Großstadt Diyarbakir zu einem besonders berüchtigten Folterzentrum wurde.

 

Gleichzeitig markiert der Prozess gegen Ex-Präsident Evren das endgültige Ende jener Ära, in der die türkische Armee nach Belieben schalten und walten konnte und sich vor niemandem im Staat verantworten musste. Dass ein Mann wie Evren eines Tages vor einem Richter stehen könnte, war noch vor wenigen Jahren eine unrealistisch erscheinende Vorstellung. Nun könnte es Verfahren auch gegen die Drahtzieher der als „post-modernen Putsch“ bekannten Intervention von 1997 geben, als der damalige islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan auf Betreiben der Generäle aus dem Amt gedrängt wurde.

Susanne Güsten, APA

Bearbeitet von yilmaz
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