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Überlegungen zur Frage, warum Muslime heute noch den Rechtsschulen folgen sollten

 

Von Schaikh Habib Bewley, Cape Town

 

Zwischen Taqlid und Internet

 

(iz). Wir leben heute in einer Welt, in der Männer des Wissens in großer Menge vorhanden sind und Texte des Islams zur sofortigen Verfügung stehen. Alles was wir brauchen, ist ein Computer und Zugang zum Internet. Diese Fülle an ­Information und Zugang zu den Usul oder Quellen des Dins - seien es Ahadith, Positionen der Gefährten und der Salaf As-Salih - haben viele Studenten beziehungsweise junge Muslime verwirrt. Sie glauben, dass sie über ein besseres Wissen und deutlicheres Verständnis darüber verfügen, ihr Leben nach den Anweisungen Allahs und der Sunna Seines Propheten zu führen, als ihre Eltern und Lehrer. „Wir könnt ihr nur einer Madh­hab [Rechtsschule] und einem Mann folgen“, schreien sie, „der mehrere Generationen nach dem Propheten lebte, wenn ihr doch direkten Zugang zum Propheten selbst habt?“

 

Stellt Allah nicht die folgende Frage im Qur’an: „Ihr, die Iman habt! Gehorcht Allah und Seinem Gesandten“? Und hat uns nicht der Prophet angewiesen: „Verrichtet das Gebet so, wie ihr mich habt beten sehen“?

 

Es ist tatsächlich für jeden Muslim verpflichtend, dem Gesandten Allahs zu folgen und zu gehorchen. Und bei Fragen, die eindeutig sind und keiner Interpretation bedürfen wie die Befehle für das fünfmalige Gebet oder das Fasten im Ramadan, können wir in der Tat direkt zu den Quellen gehen. Es gibt jedoch viele andere Fragen, in denen es Zweideutigkeiten und offenkundige Widersprüche gibt, die das Bild komplizieren und uns fragend zurücklassen, welcher Position wir folgen sollten.

 

So sagte der Prophet (was von Imam Malik in seiner Muwatta’ überliefert wurde) beispielsweise bei einer Gelegenheit: „Wer einen Imam hat, so ist die Rezitation des Imams seine Rezitation.“ Dies verweist darauf, dass nur der Imam hörbar rezitiert, während diejenigen hinter ihm still bleiben. Aber er sagte bei einer anderen Gelegenheit (überliefert von Bukhari in seinem Sahih von Ubada ibn Samit): „Es gibt kein Gebet für jenen, der nicht die Sura Al-Fatiha rezitiert.“ Dies bedeutet, dass jeder Betende, unabhängig davon, ob er der Imam ist oder einfach nur dem Imam folgt, Qur’an im Gebet rezitieren sollte.

 

Wenn man also dem einen Hadith folgt, dann handelt man in scheinbarem Widerspruch zu dem anderen. Was muss man also in solch einem Fall machen, in dem der direkte Zugang zur Hadithliteratur zu mehr Verwirrung als vorher führt? In solch einem Fall muss man zu einem Mudschtahid werden oder dem Idschtihad eines anderen folgen. In der Nachfolge des Idschtihad eines anderen folgen wir keiner anderen Rechtsquelle als der des Propheten, sondern ihm eher enger und noch korrekter. Dies macht die Sunna zugänglich.

 

Der Prozess des Idschtihads - die direkte Schaffung eines rechtlichen Urteils aus den Quellen - ist keine einfache Sache. Das Niveau und die Weite des Wissens, die er nötig macht, gehen über die meisten Gelehrten hinaus.

 

Imam Asch-Schinqiti zählte in seinem Lehrgedicht über die Grundlagen des Rechts eine Reihe an Vorbedingungen für den Idschtihad auf:

 

• Ein überragender Verstand, der in der Lage ist, die grundlegenden Prinzipien des Dins anzusprechen und zu verstehen.

 

• Vollständiges Wissen von der arabischen Sprache sowie ihr Wortschatz und all die dazugehörigen Werkzeuge - Grammatik, Morphologie, Rhetorik und sprachliche Figuren.

 

• Umfassendes Wissen vom Qur’an, insbesondere in Anblick auf die Ahkam-Verse; das heißt jene, die rechtliche Urteile enthalten - seine Nasikh wa’l-Mansukh (aufhebenden und aufgehobenen Verse) und seine Asbab An-Nuzul (die Ursachen für und die Umstände, unter denen qur’anische Verse offenbart wurde).

 

• Umfassendes Wissen von den Hadithen - insbesondere den aufhebenden und aufgehobenen; die Umstände, in denen es zu ihnen kam sowie Charakter, Biografie und Vertrauenswürdigkeit derjenigen, die sie überlieferten, und was sie Sahih macht oder auch nicht.

 

• Wissen von den Urteilen der früheren Gelehrten, insbesondere jenen, über zu denen es eine Übereinkunft gibt.

 

• Starkes Verständnis von Logik (Mantiq) und Analogie (Qijas).

 

Jeder, der über diese Vorbedingungen verfügt und sie erfüllt, gilt als Mudschtahid Mutlaq - als voller und unabhängiger Mudschtahid, der in der Lage ist, seine eigenen Usul zu formulieren. Solch einem Mann ist es nicht möglich, den Ansichten von anderen zu folgen, sondern er muss sich seine eigenen Meinungen bilden, die auf den direkten Quellen basieren. Diesen Grad an Idschtihad hatten viele Prophetengefährten, Nachfolger (Tabi’in) und die Gründer der vier Madhhabs und andere Gelehrte wie Al-Auza’i, Al-Laith oder Sufjan Ath-Thauri inne. Direkt nach ihnen kommt eine zweite Kategorie der Mudschtahids, der Mudschtahid Muntasib (angeschlossener Mudschtahid) genannt wird. Diese waren nicht an das Urteil eines bestimmten Mudschtahid Mutlaq gebunden, aber an dessen rechtliche Methodik (Usul). In diese Kategorie fallen die meisten Studenten der vier Imame wie Ibn Al-Qasim, Ibn Wahb, Muhammad Asch-Schaibani und Abu Jusuf.

 

Dann kommt der Mudschtahid fi’l-Madhhab, der dazu befähigt ist, die unterschiedlichen Positionen innerhalb einer Rechtsschule abzuwägen und auszuwählen und ihre Usul zu verwenden, wenn sich eine neue, bisher unbekannte Situation ergibt. Am Ende haben wir den Mudschtahid fi’l-Fatwa, der das gleiche bei einer bestimmten, spezifischen Frage tun kann. Diese beiden letzten Typen des Mudschtahid existieren auch heute noch und werden bis zum Tag von Qijama anhalten. Sie benutzen ihr Wissen, um mit neuen Situationen umzugehen, wenn sich diese ergeben, aber die Tür zum absoluten Idschtihad ist geschlossen und zwar schon seit rund eintausend Jahren.

 

Während dieser Zeit wurde die Behauptung irgendeines Gelehrten, unabhängig von seinem Grad des Wissens, auf einen absoluten Idschtihad nicht anerkannt. All die großen Gelehrten, Männer wie Imam An-Nawawi, Qadi Abu Bakr ibn Al-’Arabi, Imam At-Tahawi und Imam As-Sujuti bewegten sich innerhalb der Grenzen der vier Rechtsschulen und versuchten nicht, eigene zu begründen. Und wenn solche Männer dies als akzeptabel ansehen, warum sollten wir Schwierigkeiten dabei haben, das gleiche zu tun?

 

Für die meisten von uns wird der Idschtihad niemals zu einer Realität, da wir überhaupt nicht in der Pflicht stehen, uns das entsprechende Wissen anzueignen, das notwendig ist, um unsere eigenen Urteile zu fällen. Diese Aufgabe gilt immer nur für ein kleines Segment der Gesellschaft und wurde nicht der Mehrheit der muslimischen Umma auferlegt, da ihre zeitaufreibende Natur sie daran hindern würde, all jene anderen Aufgaben zu erfüllen, die für ein Funktionieren der Gesellschaft notwendig sind. Würden sie dies tun, dann käme die Öffentlichkeit zu einem abrupten Anhalten.

 

Wäre jeder gezwungen, bei einer anstehenden Frage Idschtihad zu machen, dann gäbe es keine politischen Führer, Ärzte, Bauern, Händler oder Handwerker. Armut und Verzweiflung wären im Anstieg begriffen, da niemand mehr sein Einkommen verdienen könnte. Und so ist es erlaubt für uns, ja tatsächlich sind wir sogar verpflichtet dazu, der Position der anderen zu folgen, die sich das notwendige Wissen angeeignet haben.

 

Allah weist uns im Qur’an an: „Fragt die Leute der Erinnerung, wenn ihr kein Wissen habt.“ Mit anderen Worten, fragt die Leute mit Wissen, wenn ihr euch nicht auskennt und folgt dem, was sie euch sagen. Dies ist die Essenz des Taqlid. Dieser wurde von Asch-Schinqiti wie folgt definiert: „Die Notwendigkeit der Befolgung der Madhhab eines anderen Mannes ohne Kenntnis von den gesonderten Beweisen, durch welche er diese Madhhab formuliert hat.“

 

Nach Ansicht der Mehrheit der Gelehrten im Usul, im Fiqh und im Hadith ist es verpflichtend für jeden, der nicht die Stufe von Mudschtahid Mutlaq erreicht hat, Taqlid einer Madhhab zu machen. Denn, wie wir bevor erwähnt haben, gilt der unabhängige Idschtihad nicht länger als akzeptabel. Also ist es verpflichtend für jeden einzelnen Muslim, sei er Gelehrter oder etwas anderes, einer Madhhab zu folgen. Die überwältigende Mehrheit der Leute des Wissens stimmen darin überein, dass heute nur vier Rechtsschulen verblieben sind. Imam As-Sawi schrieb in seinem Kommentar über einen berühmten Text zur ‘Aqida („Al-Dschauhar“): „Nach Meinung der Mehrheit ist es für jeden, der nicht den Rang des absoluten, unabhängigen Idschtihad erreicht hat, verpflichtend, die Madh­hab einer der vier ‘Ulama anzunehmen. Nachdem diese Übereinkunft getroffen wurde, ist es nicht mehr erlaubt, der Madhhab eines anderen zu folgen, denn diese wurden weder genau aufgezeichnet, noch fehlerfrei weitergegeben wie die der vier Imame. Sie wiederum erlangten umfassendes Wissen von den Aussagen und Positionen aller oder der meisten [Propheten-]Gefährten. Die Prinzipien der Madhhabs dieser vier Imame sind gut bekannt und ihre Einzelheiten wurden genauestens aufgezeichnet und niedergeschrieben. Und ihre Schüler und Nachfolger bewahrten und überarbeiteten diese Rechtsschulen, bis sie weit verbreitet wurden. Und nur durch ihre Nachfolge entledigt man sich der eigenen Verpflichtungen im Hinblick auf die Urteile des Dins. Madh­habs sterben nicht, nur weil derjenige, der sie begann, tot ist.“ Ähnliche Ansichten wurden von Imam Al-Laqqani, Qadi ‘Ijad, Imam Al-Qarafi und vielen anderen zum Ausdruck gebracht.

 

Die vier Imame, von denen hier die Rede war, sind in der ganzen muslimischen Welt bekannt und werden von ihr verehrt: Abu Hanifa, Malik, Asch-Schafi’i und Ahmad ibn Hanbal, möge Allah mit ihnen allen zufrieden sein. Sie alle hatten wundervolle Charaktereigenschaften, enorme Liebe für den Propheten und sehr viel Wissen.

 

Imam Abu Hanifa war der früheste von ihnen. Er wurde 80 nach der ­Hidschra geboren und entwickelte sich rasch zu einem der führenden Gelehrten seines Zeitalters. So hoch stand er im Ansehen seiner Zeitgenossen, dass ­Sufjan Ath-Thauri und Ibn Al-Mubarak sagten, dass er das meiste Fiqh in seiner ­Lebenszeit hatte. Er wurde auch überliefert, dass er jede Nacht den gesamten Qur’an in seinen Nachtgebeten ­rezitierte.

 

Imam Malik wurde laut der meisten Berichte 93 nach der Hidschra in Medina geboren, wo er Wissen von rund 700 der größten Gelehrten der Nachfolger (Tabi’in) nahm. Die meisten seiner Zeitgenossen erkannten in ihm den ‘Alim von Medina, von dem es in dem Hadith des Gesandten Allahs heißt: „Leute werden nach Osten und Westen auf der Suche nach Wissen gehen, aber sie werden keinen finden, der mehr ­Wissen hat als der ‘Alim von Medina.“ Die Liebe für den Propheten war bei Imam Malik so stark ausgeprägt, dass er an keiner Stelle Medinas mit ­Schuhen lief, aus Angst, dass er auf irgendeine Stelle treten könnte, auf welcher der Prophet gelaufen war.

 

Imam Asch-Schafi’i wurde um 150 nach der Hidschra in Mekka geboren, wo er auch aufwuchs. Er wurde beschenkt mit einem außergewöhnlichen Verstand, einem unglaublichen Gedächtnis und lernte den Qur’an und die Muwatta’ im Alter von 10 Jahren auswendig. Er lehrte in der Moschee. Seine beiden wichtigsten Lehrer waren Imam Malik und Muhammad Asch-Schaibani. Es wurde gesagt, dass er jener ‘Alim sei, von dem es in dem Bittgebet des Propheten heißt: „O Allah, leite die Quraisch Recht, denn die Wissenschaft des ‘Alim, der von ­ihnen stammt, wird die ganze Welt umfassen. O Allah! Du hast die ersten von ihnen Bitterkeit schmecken lassen, also lasse die letzten von ihnen die Belohnung schmecken. Es wurde auch von ihm gesagt, dass er den kompletten Qur’an in seinen nächtlichen Gebeten las.

 

Imam Ahmad ibn Hanbal war der letzte der vier Imame und wurde 164 nach der Hidschra in Khorasan geboren. Er studierte unter der Leitung von Imam Asch-Schafi’i und war einer der größten Hadithgelehrten seiner Zeit. Es heißt, er habe hunderttausende Hadithe auswendig gelernt. Über ihn sagte Imam Asch-Schafi’i: „Als ich Bagdad verließ, gab es keinen Mann mit mehr Wissen und mehr Verständnis vom Fiqh und mit mehr Gottesfurcht als Ahmad.“

 

Dies waren die vier Männer, welche die Sunna des Propheten für die kommenden Generationen bewahrten. Und es ist durch diese Männer, dass wir immer noch Zugang zu ihr haben - und nicht durch die Hadithbücher: Sufjan ibn Ujaina sagte: „Hadith sind eine Quelle für Irreleitung, außer in den Händen der Rechtsgelehrten.“

 

Also ist es verpflichtend, dass wir an diesen Madhhabs festhalten. Wir dürfen uns nicht durch jene täuschen lassen, die behaupten, dass dies bedeuten würde, wir folgten jemand anderem als dem Propheten. Und es spielt hier auch keine Rolle, welcher der vier man folgt, solange man daran festhält und im Herzen überzeugt ist, dass dies das korrekteste ist. Wer dies tut, hält fest, am Urwat Al-Wuthqa und an der Sunna des Größten und Edelsten der Menschheit, des ­Gesandten Allahs.

 

 

IZ - 25.11.2009

 

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