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Ausgerechnet der islamisch-konservative Regierungschef Erdogan hat seinem Land ein nie da gewesenes Wirtschaftswachstum beschert. Nun ebbt die EU-Begeisterung ab.

 

Schon wieder macht es "pling". Erneut eine E-Mail. Zafer Kurtul schaut kurz auf das iPad, das vor ihm liegt. Der Chef des Sabanci-Konzerns lässt es selten aus den Augen, er will stets alles unter Kontrolle haben, keine Minute abgeschnitten vom Informationsfluss. Und entsprechend redet er auch. Ruhig und sanft, beinahe einschläfernd rattert er Zahlen herunter, keine Emotion, nirgendwo.

 

Doch als das Gespräch dann auf die politische Lage kommt, wird er plötzlich außergewöhnlich deutlich. "Die Regierung hat einen sehr guten Job gemacht", sagt er, überlegt etwas, spielt dabei mit seiner Brille. "Sie hat die Inflation drastisch reduziert, eine Währungsreform gemacht und Privatisierungen durchgeführt." Er ist offenbar zufrieden. Pling.

 

Wenn Kurtul so etwas sagt, dann ist das wie ein Siegel von höchster Stelle. Denn er ist einer der mächtigsten Männer der Türkei. Zehn Milliarden Euro setzte die Sabanc-Holding im vergangenen Jahr um. Das Konglomerat kontrolliert Dutzende von bedeutenden Firmen des Landes, elf davon sind an der Istanbuler Börse gelistet und machen dort allein zwölf Prozent der Marktkapitalisierung aus. Sabanc und die Türkei – das gehört untrennbar zusammen.

Viel Lob für die Regierung

Doch nicht nur Konzernchefs wie Kurtul sind voll des Lobes für die Regierung. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist höchst zufrieden. Ministerpräsident Erdogan hat es in den zehn Jahren, seit er an der Macht ist, geschafft, die Türkei in eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt zu verwandeln. Aus dem einst von Misswirtschaft und galoppierender Inflation zerrütteten Land am Bosporus ist ein blühendes und aufstrebendes Schwellenland geworden. Bei den Wahlen am 13. Juni steht deshalb außer Frage, dass die regierende islamisch geprägte AKP erneut die Mehrheit erhält. Dennoch ist diese Wahl eine Schicksalswahl, gerade was die Entwicklung der türkischen Wirtschaft angeht.

 

Wer nachvollziehen will, warum die Türkei heute so erfolgreich ist, muss an den Istanbuler Stadtrand auf der asiatischen Seite fahren. Auf einer Schnellstraße geht es an Hunderten von Baustellen entlang. Überall entstehen hier neue Wohnsiedlungen, erstellt auf Gebiet, wo früher die Gecekondus standen, die Hütten der neu Zugezogenen.

 

Gecekondu bedeutet so viel wie "über Nacht hingestellt", denn ein altes türkisches Prinzip besagt, dass man niemandem das Dach über dem Kopf wegnehmen darf. So errichteten die armen Zuwanderer aus Anatolien an den Rändern Istanbuls über Nacht primitive Hütten auf öffentlichem Grund und Boden. Dies war zwar illegal, aufgrund des Gewohnheitsrechts sah man jedoch von Zwangsräumungen ab.

So entstanden im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Viertel solcher einfachster Wohnbaracken. Doch nun weichen sie mehr und mehr modernen Apartmentsiedlungen und Hochhausblöcken. Die Bewohner der Gecekondus erhalten dafür im Gegenzug meist eine Wohnung in den neuen Anlagen.

 

Nach einer Stunde Fahrt auf der Autobahn, entlang unendlich erscheinender Neubausiedlungen, befindet man sich immer noch auf dem Gebiet der 15-Millionen-Stadt, erreicht nun aber das Industriegebiet. Hier steht auch eine Fabrik des Konsumgüterherstellers Arçelik. Im Eingangsbereich wird der Besucher von einem riesigen Porträt Atatürks begrüßt, der in der Türkei nach wie vor omnipräsent ist. Daneben steht eine Büste von Vehbi Koç, dem Gründer der Koç-Holding, zu der auch Arçelik gehört.

Ein Konzern für Konsumgüter

Koç ist neben Sabanci der zweite große Konzern der Türkei, mit noch mehr Fabriken und noch mehr Macht. 27 Milliarden Euro betrug der Umsatz im vergangenen Jahr – fast sieben Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Genau wie Sabanc ist auch Koç eng mit der Geschichte der Türkei verbunden. 1923 gründete Mustafa Kemal Atatürk die moderne türkische Republik, nur vier Jahre später begann die unternehmerische Karriere von Vehbi Koç.

 

Seit den 30er-Jahren beherrscht die Firmengruppe einen Gutteil der türkischen Wirtschaft. Beinahe sämtliche Konsumgüter kommen seit Jahrzehnten aus den Koç-Fabriken – Autos, Traktoren, Glühbirnen, Klimaanlagen, Fernseher.

Und Waschmaschinen. Eine solche ziert neben Porträt und Büsten den Eingangsbereich von Arçelik. Es handelt sich um das erste Exemplar, das in den 50er-Jahren produziert wurde. Dieses altertümliche Modell wurde jedoch bis in die späten 90er-Jahre hinein gebaut und verkauft, weitgehend unverändert. Es ist damit auch ein Symbol für die jahrzehntelange Erstarrung der türkischen Wirtschaft, die bis 2001 anhielt.

 

Doch seither hat sich vieles gewandelt in der Türkei, exemplarisch bei Arçelik zu beobachten. Die Hallen sind heute mit modernen Maschinen bestückt, in denen technisch hoch entwickelte Produkte vom Band gehen. "Zwei Prozent unseres Umsatzes geben wir für Forschung und Entwicklung aus", sagt Fabrikleiter Nazim Kadrizade. "Alle unsere Produkte werden von türkischen Ingenieuren entwickelt, wir bauen heute nichts mehr in Lizenz." Stolz präsentiert er dabei eine sogenannte Autologic-Waschmaschine, die erkennt, wie viel Wäsche in der Trommel ist und wie stark sie verschmutzt ist, um dann selbstständig das richtige Programm zu wählen.

 

"Wir verkaufen heute in über 100 Länder", sagt Kadrizade. In Großbritannien ist Arçelik mit seiner Marke Beko inzwischen sogar schon einer der Marktführer bei der sogenannten "weißen Ware" geworden, also bei Waschmaschinen, Kühlschränken, Spülmaschinen und so weiter. Auch in Deutschland findet Beko zunehmend Absatz – nicht nur unter eigenem Namen: Kadrizade hat in den vergangenen Jahren die Marken Blomberg und Grundig gekauft, denen deutsche Hausfrauen noch immer gern vertrauen.

Das Ende der Kartelle

An Arçeliks Beispiel wird deutlich, was sich in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Bis 2001 lohnten sich Investments nicht, denn die Wirtschaft war gefangen in einem Korsett von Pfründen und Kartellen. Die kemalistischen Eliten, zu denen auch die Industriellen gehörten, schoben sich gegenseitig Posten zu und beschränkten sich bei der Regierungsarbeit oft darauf, die Bevölkerung mithilfe der Notenpresse mit Geld zu beglücken. Die Folge war eine galoppierende Inflation. Zwischen 1995 und 2001 betrug die Preissteigerungsrate rund 70 Prozent – pro Jahr.

 

2001 ging die Ära dieser Elite zu Ende. Mit Recep Tayyip Erdogan kam einer an die Macht, der fern der alten Machtzirkel stand. Er und seine islamisch geprägte AKP repräsentieren vielmehr die zuvor stets unterprivilegierte Landbevölkerung, auch und gerade mit ihrem Hang zu religiöser Frömmelei. Das führte im Westen zu Furcht vor einer Islamisierung, auch die Vorbehalte der modernen Stadtbevölkerung waren groß.

 

Doch so kritisch manche innenpolitische Entwicklung gesehen werden kann, so hat die AKP andererseits seit ihrer Regierungsübernahme 2001 eben auch die alten Zöpfe abgeschnitten, Monopole zerschlagen, die Kartelle durchbrochen. So wurden beispielsweise zwischen 1985 und 2002 Unternehmen im Wert von ganzen acht Milliarden Dollar privatisiert. Von 2003 bis 2010 waren es dagegen fast 48 Milliarden Dollar. Die AKP brachte genau das fertig, wozu vorherige Regierungen jahrzehntelang nicht fähig waren. Darin liegt der Erfolg der türkischen Wirtschaft begründet. Das erkennen inzwischen auch die alten Eliten an.

 

Und die internationalen Investoren. "Die Türkei gehört heute zu den am dynamischsten wachsenden Volkswirtschaften", lobt Gregor Holek, Experte für Schwellenländer bei der Anlagegesellschaft Raiffeisen Capital Management. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 2003 verdreifacht, das Wachstum betrug 2010 fast neun Prozent – nur wenige Länder waren da noch besser. Für dieses Jahr werden rund sechs Prozent erwartet. Die Staatsschulden betragen gerade einmal 35 Prozent der Wirtschaftskraft – halb so viel wie in Deutschland, vom Nachbarn Griechenland ganz zu schweigen.

"Das Land steht kurz davor, von den Rating-Agenturen das Siegel ‚Investmentgrade‘ zu erhalten", so Holek. Seine Staatsanleihen würden damit zu einem attraktiven Anlageziel für die weltweiten Investoren.

Kein Intersse mehr an der EU

Der Vergleich mit Griechenland ist auch deshalb interessant, weil der Nachbar Mitglied eben jenes Klubs ist, dem die Türkei seit Jahrzehnten ebenfalls beitreten will, der Europäischen Union. Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen in EU und Euro-Raum macht sich bei vielen Türken heute der Eindruck breit, dass es vielleicht sogar besser ist, diesem Klub nicht anzugehören. Jedenfalls ist die Begeisterung für die EU deutlich abgeflaut. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Die EU will die Türkei nicht und die Türkei braucht die EU nicht. "Ob wir irgendwann Mitglied werden oder nicht, das macht für die Zukunft unseres Landes keinen Unterschied", sagt Sabanc-Chef Kurtul.

 

Die Türkei ist glücklich, auch ohne die EU. Und fast scheint sie als ein Land der Sorglosigkeit mit strahlender Zukunft. Doch ganz so gefahrenfrei ist die Lage dann doch nicht. "Das Leistungsbilanzdefizit bereitet mir schlaflose Nächte", sagt Atilla Yesilada. Das kann man sich kaum vorstellen, denn der Ökonom und Politikberater hat eher ein buddhahaftes Wesen, entsprechenden Körperbau inklusive. Doch während er einen Pudding verspeist und dazu am Rotwein nippt, erklärt er seine Befürchtungen. "Ein Leistungsbilanzdefizit von mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist gefährlich", sagt er. "Das der Türkei strebt aber acht bis neun Prozent entgegen."

Zu viel Importe, zu wenig Exporte

Ein solches Defizit entsteht, wenn ein Land mehr importiert als exportiert. Möglich ist das jedoch nur, wenn das Geld dafür vorhanden ist, sprich, wenn Geld ins Land fließt, um den Importüberschuss zu finanzieren. Die USA machen seit vielen Jahren vor, dass so etwas funktionieren kann. Chinesen, Japaner und Deutsche leihen den Amerikanern das Geld, damit sie fleißig weiter importieren. Nachhaltig ist das zwar auch im Falle der USA nicht, doch diese ist immerhin der größte Wirtschaftsraum der Welt. Nicht so die Türkei. Und daher sollte ein Schwellenland darauf bedacht sein, das Leistungsbilanzdefizit möglichst klein zu halten oder sogar Exportüberschüsse zu erzielen.

 

Um das zu erreichen, müsste die Regierung in Ankara jedoch handeln. "Sie muss die Zinsen erhöhen, damit der Konsum gedrosselt wird, und sie muss selbst auch weniger Geld ausgeben, sprich: sparen", sagt Yes?ilada. Er glaubt zwar, dass die Regierung diese Notwendigkeit erkannt hat, doch er fürchtet, dass sie davor zurückschrecken könnte. Und zwar genau dann, wenn ihr Wahlsieg zu hoch ausfällt.

Erdogan will die Verfassungsreform

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Ministerpräsident Erdogan eine Verfassungsreform anstrebt. Diese ist in aller Sinne, denn das bisherige, von Generälen geschriebene Grundgesetz beinhaltet viele Passagen, die mit einer demokratischen Regierungsform kaum vereinbar sind. Allerdings will Erdogan damit gleich auch noch eine präsidiale Republik durchsetzen – und sich selbst dann auf den Chefsessel hieven.

Sollte Erdogans AKP bei den Wahlen eine Zweidrittel-Mehrheit erhalten, so kann sie eine Verfassungsreform beschließen, ohne dass sie mit anderen Parteien verhandeln muss. Sie muss die neue Verfassung dann nur noch dem Volk vorlegen – und genau hierin liegt für Yesilada die Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung. "Denn um sich eine Mehrheit bei einem Referendum zu sichern, wird die Regierung bis auf Weiteres auf Maßnahmen verzichten, die irgendjemandem wehtun könnten, also auch die dringend notwendigen Zinserhöhungen oder die Haushaltssanierung zurückstellen."

Erhält die AKP dagegen keine Zweidrittel-Mehrheit, muss sie die neue Verfassung gemeinsam mit der Opposition ausarbeiten. Aufgrund der breiten Basis steht dann eine Annahme beim Referendum außer Frage. Die Regierung müsste keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung nehmen, könnte notwendige wirtschaftspolitische Maßnahmen durchführen.

 

Paradoxerweise dürfte die Regierung also genau dann in eine Handlungsstarre verfallen, wenn sie bei den Wahlen zu stark abschneidet. "Ideal wäre eine Mehrheit von etwa 300 der 550 Sitze im Parlament" sagt Yesilada daher. "Mehr als 330 Sitze wären dagegen ein Albtraum." Er lässt daher durchblicken, dass er die AKP nicht wählen wird. Wem Zafer Kurtul seine Stimme gibt, bleibt dagegen ein Geheimnis. Bei diesem Thema hat er seine Emotionen wieder voll unter Kontrolle. Pling.

 

Quellen:

http://www.welt.de/wirtschaft/article13385933/Die-Tuerkei-ist-gluecklich-auch-ohne-die-EU.html

Bearbeitet von yilmaz
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