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Hintergrund über die deutsch-türkischen Beziehungen

 

Ankara/Berlin (GFP.com). Vor den Gesprächen der deutschen Kanzlerin in Ankara plädierten Berliner Außenpolitiker für eine neue Öffnung gegenüber der Türkei. Das Land erstarke immer mehr und habe sich mittlerweile außenpolitische Potenziale geschaffen, die ihm bald eine eigenständige Nahost-Politik auch gegen deutsch-europäische Interessen ermöglichen könnten, warnt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU). Berlin und Brüssel müssten dies verhindern und deshalb ihre bisherige Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts überdenken. Tatsächlich ist der Einfluss Deutschlands sowie der EU auf die Türkei schon jetzt gesunken.

 

Die von Erdoğans AKP-Regierung eingeleitete Außenpolitik-Wende hat die Stellung Ankaras in der arabischen Welt aufgewertet, was sich inzwischen auch auf die türkische Wirtschaft auswirkt – die Bedeutung der EU als Handelspartner der Türkei ist binnen weniger Jahre deutlich geschrumpft. Man müsse auch weiterhin mit dem expandierenden Ankara kooperieren, um die türkischen Potenziale zu nutzen, heißt es in Berlin. Die Pläne zielen nicht nur darauf ab, eigene Positionen zu stärken, sondern auch darauf, Ankaras Anbindung an die westliche Welt sicherzustellen, die auf lange Sicht nicht mehr garantiert erscheint.

 

Auf den Knien

 

Wohl am drastischsten hat vor einigen Tagen der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) auf die zunehmende Eigenständigkeit der Türkei und den schrumpfenden Einfluss Berlins und Brüssels auf das Land hingewiesen. "Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt mit dem Kollegen aus Paris auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türken zu bitten, Freunde, kommt zu uns", ließ sich Oettinger in der Boulevardpresse zitieren. Weniger drastisch, in der Sache aber durchaus ähnlich äußern sich mehrere Berliner Außenpolitiker. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), etwa warnt: "Eine Türkei, die gegen die europäischen Interessen in der Region handeln würde, würde unsere Probleme deutlich verschärfen". Polenz zufolge ist eine solche Perspektive mittlerweile nicht mehr unrealistisch.

 

Strategische Tiefe

 

Hintergrund der neu entstehenden Eigenständigkeit der Türkei ist die außenpolitische Wende, die die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) des heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gleich nach ihrer Regierungsübernahme im Jahr 2002 vollzogen hat. Sie basiert auf dem Konzept der "Strategischen Tiefe", das der gegenwärtige Außenminister Ahmet Davutoğlu einst formulierte: Die Türkei soll sich demnach nicht mehr ausschließlich nach Westen orientieren, wie es bis heute das Militär und das kemalistische Establishment tun, sondern sie soll ihre Stellung in alle Himmelsrichtungen ausbauen – vor allem in die muslimische Welt hinein und ganz besonders in ihre Nachbarstaaten, die einst zum Osmanischen Reich gehörten.

Getragen wird das Konzept von den neuen Wirtschaftskräften, die seit den 1990er Jahren im konservativ-muslimisch geprägten Anatolien erstarkten – Boomindustrien, die schon bald in Ankara an die Macht drängten und in der AKP ihren politischen Arm fanden. Zunächst eng mit Deutschland und der EU kooperierend, um sich gegen das kemalistische Establishment abzusichern, bauten die "anatolischen Tiger" und die AKP die Stellung der Türkei und der türkischen Wirtschaft im Nahen und Mittleren Osten aus – mit Erfolg: Aktuellen Umfragen zufolge gilt Ankara in der Region mittlerweile als politische und künftig wohl auch wirtschaftliche Führungsmacht.

 

Gemeinsame Entwicklungspolitik

 

Sucht Berlin die Türkei und ihre erstarkende Stellung derzeit für seine Nah- und Mittelostpolitik zu nutzen – insbesondere im Krieg in Syrien (german-foreign-policy.com berichtete ) -, so sprechen sich deutsche Außenpolitiker nun dafür aus, mit Ankara auch in Afrika zu kooperieren. Die Türkei richtet ihre wirtschaftliche und politische Expansion mittlerweile nicht mehr nur auf die arabischen Mittelmeerstaaten Nordafrikas, sondern auf den gesamten Kontinent. Auf der Grundlage dynamisch boomender Exporte hat sich das türkisch-afrikanische Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht; es soll in diesem Jahr weiter auf insgesamt 32 Milliarden US-Dollar steigen – also auf einen Wert, der sich bereits dem türkisch-deutschen Handelsvolumen annähert.

Unterhielt Ankara im Jahr 2005 nur vier Botschaften südlich der Sahara, so waren es Anfang 2012 bereits 15; im Jahr 2008 wurde bei einem Türkei-Afrika-Gipfel in Istanbul, begleitet von einem Türkisch-Afrikanischen Unternehmerforum, eine "strategische Partnerschaft" zwischen Ankara und der Afrikanischen Union (AU) in die Wege geleitet. Sehr ähnlich wie in Nah- und Mittelost stützen sich die anatolische Exportindustrie und Ankara bei ihrer Afrika-Expansion auf islamistische Strukturen, etwa auf die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen.

Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, plädiert nun dafür, nicht nur in Nah- und Mittelost, sondern auf dem gesamten afrikanischen Kontinent mit Ankara zu kooperieren. Die Türkei kristallisiere sich gegenwärtig als "wichtiger Partner" für eine gemeinsame Entwicklungspolitik heraus, "insbesondere in Afrika", erklärte Pöttering kurz vor der aktuellen Reise der deutschen Kanzlerin in die türkische Hauptstadt.

 

Neue Optionen

 

Hinter den deutschen Kooperationsbestrebungen steckt neben dem Versuch, türkische Kapazitäten im eigenen Sinne zu nutzen, auch die Befürchtung, Ankara könne außenpolitisch eigene Wege gehen und deutsch-europäischen Interessen zuwiderhandeln. Vor wenigen Wochen sorgte der türkische Ministerpräsident mit dem Vorschlag international für Aufmerksamkeit, die Türkei könne womöglich der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten, zu der sie seit dem Juni 2012 als fester "Dialogpartner" institutionalisierte Beziehungen unterhält.

Die SCO ist ein Bündnis, das – getragen von China, Russland und mehreren Staaten Zentralasiens- auf dem Feld der sogenannten Sicherheitspolitik tätig ist und manchen als künftige Alternative zur NATO gilt. Experten halten die vollständige Abkehr der Türkei vom Westen zwar für unwahrscheinlich. Doch zeigen Pläne, auf ökonomischem und auf energiepolitischem Gebiet beträchtlich enger als bisher mit Russland zu kooperieren – die Rede ist von einem türkisch-russischen Handelsvolumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 -, dass Ankara sich ehrgeizig um neue Optionen bemüht.

 

Ein offener Prozess

 

Berlin konnte sich bei seinen Einflussbemühungen bislang stets darauf stützen, dass Deutschland bis heute größter Investor und größter Handelspartner der Türkei ist. Diese Position ist inzwischen jedoch gefährdet: Gingen 2007 noch 56 Prozent der türkischen Exporte in die Eurozone, waren es 2012 nur noch 40 Prozent, während zugleich die Ausfuhren nach Nordafrika und Mittelost von 18 auf 34 Prozent stiegen. Kanzlerin Merkel will nun den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu einem neuen Aufschwung verhelfen – und plädiert dafür, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara weiter voranzutreiben. Bislang galt es in Berlin als ausgemacht, dass Brüssel zwar verhandele, um Ankara zu einer möglichst weitreichenden Angleichung seiner Regelwerke an deutsch-europäische Standards zu bewegen, dass aber ein tatsächlicher EU-Beitritt nicht in Frage komme – wegen seiner Kosten, aber auch, weil die Türkei als bevölkerungsstarkes Land ein formales politisches Gewicht beanspruchen könnte, das dem deutschen vergleichbar wäre.

Wie etwa Ruprecht Polenz urteilt, könne die EU es sich nun jedoch nicht mehr leisten, Ankara mit einer "privilegierten Partnerschaft" abzuspeisen, sondern müsse angesichts der wachsenden türkischen Eigenständigkeit einen tatsächlichen Beitritt des Landes zur EU in Betracht ziehen. Es sei, erklärt Polenz, ein "wirklich ein offener Prozess" – nicht aufgrund deutscher Nachgiebigkeit, sondern dank zunehmender Stärke und neuer Eigenständigkeit der Türkei.

 

Islamische Zeitung, 27.02.2013

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