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Wie religiös ist die Türkei?

In den letzten Jahren haben in der Türkei sozialwissenschaftliche und religionssoziologische Studien, die empirisch arbeiten, zugenommen. Der gesellschaftliche Wandel in der Türkei hat auch Institutionen und Einrichtungen hervorgebracht, die diesen Wandel soziologisch untersuchen. Vor allem die Religiosität der Türken in der Türkei steht dabei im Fokus.

 

Hierzu gab es bereits 2014 eine breit angelegte Studie mit dem Titel “Religiöses Leben in der Türkei“. Diese Studie wurde von Diyanet (2014) – dem Präsidium für Religionsangelegenheiten in der Türkeiin Kooperation mit dem Statistischen Amt der Türkei durchgeführt. 21632 Personen in 81 Provinzen wurden damals befragt. Die Studie wurde aufgeteilt in sechs Bereiche: Religiöse Identität, Glaube, Gottesdienst, Religionswissen, Leben und Religion, Religiosität.

 

2017 gab es eine ähnliche Studie, die vom Forschungsinstitut MAK (2017) durchgeführt wurde. Auch hier wurde die Religiosität der Befragten abgefragt. Die Studie wurde in 30 Großstädten (Ağrı, Aksaray, Artvin, Bayburt, Bitlis, Bolu, Düzce, Elazığ, Giresun, Gümüşhane, Karaman, Karabük, Kars, Kastamonu, Kırıkkale, Kırklareli, Kütahya, Nevşehir, Osmaniye, Sinop, Bilecik, Yozgat und Uşak), 23 Provinzen und 154 Distrikten durchgeführt. 5400 Personen wurden Face-to-Face befragt. 53,5% der Befragten sind männlich, 46,5% weiblich.

 

Ende 2023 wurde ebenfalls eine Studie des Ankara Instituts veröffentlicht (Ete, Yargi, 2023). Diese Studie befasste sich mit der Wahrnehmung von Religiosität in der Türkei. Der Bericht zielte darauf ab, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Dynamiken im Kontext nationaler, regionaler und globaler Entwicklungen zu verstehen. Die Studie bestätigte, dass Religion ein Schlüsselelement der Identität in der Türkei bleibt, aber traditionelle Formen der Religiosität weichen individuelleren Formen der Spiritualität. Demnach glaube die Hälfte der Gesellschaft, dass das wichtigste Kriterium der Religiosität der Glaube an Gott ist.

 

An dieser Stelle sollen die Ergebnisse beider Studien (da, wo es geht) verglichen und ein kurzes Fazit gezogen werden. Der Fokus liegt dabei auf der Studie von 2017, welches mit der Studie von 2014 verglichen wird.

 

86% der Teilnehmer geben an, dass sie irgendeiner Religion angehören. 6% bezeichnen sich als Deisten. 4% sind Atheisten und weitere 4% Agnostiker. Zum Vergleich: In der Studie von 2014 gaben 99,2% der Teilnehmer an, dass sie Muslime sind und 98,7% hatten keinen Zweifel darüber, dass es einen Schöpfer gibt. 87,5% bezeichneten sich als religiös. 20,9% gaben an, dass es egal ist, was oder wie sie glauben, solange sie moralisch korrekt sind. Insgesamt ist dies ein deutlicher Rückgang. In der Studie aus dem Jahre 2023 identifizieren sich 92,3% der Teilnehmer als Muslime, 3,2% als Deisten und 2,7% als Atheisten.

 

Zudem gaben 2014 die Befragten zur Frage nach ihrer islamischen Rechtsschule an, dass sie 77,5% hanafitisch, 11,1% schafiitisch, 1% caferitisch, 0,3% malikitisch und 0,1% hanbalitisch sind. 6,3% gaben an, dass sie keiner Rechtsschule angehören und 2,4% wussten ihre Zugehörigkeit nicht.

 

75% der Befragten geben an, dass sie an die Offenbarungen und Engel Gottes glauben, 15% glauben nicht daran und 10% wissen es nicht. In der Studie von 2014 sagten 96,5% aus, dass alles, was im Koran steht, richtig ist und für alle Zeiten seine Gültigkeit behält. 95,3% glaubten an die Existenz von Engeln, Dschinn und Teufel. Auch hier ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen.

 

Interessanter wird es, wenn man den Bezug zum Koran abfragt. Nur 25% sagen, dass sie den Koran zu Hause haben und lesen. 32% haben den Koran zwar zu Hause, lesen ihn aber nicht. 33% haben gar keinen Koran zu Hause und 10% haben gar keinen Bezug dazu. Dass bedeutet, nur 55% haben einen Koran zu Hause. Angesichts der Wahrnehmung der türkischen Gesellschaft scheint diese Zahl niedriger als erwartet zu sein. 32% können den Koran lesen, 54% nicht. 14% machen keine Angabe dazu. 25% besuchen einen Korankurs, 65% keinen. 10% geben keine Antwort dazu. 10% haben den Koran schon einmal auf Türkisch gelesen, 60% haben ihn nicht gelesen und 23% beantworten die Frage nicht. Bei der Studie 2014 sagten 41,9% aus, dass sie den Koran auf Arabisch lesen können.

 

Der Anteil der Befragten, die glauben, dass Gott einen Propheten schickte, beträgt 63%. 20% sagen, dass sie den Propheten Muhammed nicht in allen Lebenslagen zum Vorbild nehmen. 9% glauben an keine Prophetenschaft und 8% machen keine Aussage dazu. 2014 sagten noch 97,7%, dass sie an die Prophetenschaft Muhammeds glauben.

 

23% haben schon einmal die Biographie des Propheten Muhammed gelesen. 65% haben sie nicht gelesen. 12% machen keine Angaben dazu.

 

55% glauben an den Schicksalsbegriff. 15% gehen davon aus, dass alles determiniert ist. 10% sagen, dass der Mensch sein eigenes Schicksal macht, 10% glauben nicht ans Schicksal und 5% wissen es nicht. Auch hier der Vergleich: 98% bestätigten 2014, dass alles mit Gottes Willen geschieht.

 

73% glauben an ein Leben nach dem Tod. 10% glauben nicht, dass es ein jüngstes Gericht geben wird. 10% glauben an keine Auferstehung und 8% interessieren sich nicht dafür. 2014 sagten 96,2%, dass sie an ein Leben nach dem Tod glauben.

 

Auf die Frage, ob sie sterben wollen würden, wenn man ihnen das Paradies garantieren würde, sagen 15% „Ja“. 65% sagen „Nein“ und 20% können sich nicht entscheiden.

 

32% geben an, dass sie zum Freitagsgebet und an besonderen Nächten zur Moschee gehen. 30% gehen nie in eine Moschee. 12% nur an den Festtagsgebeten am Ramadanfest und Opferfest. 13% gehen regelmäßig in die Moschee. 13% geben keine Antwort dazu.

 

Die Grundsäule des Islams ist das 5-mal-tägliche Beten (salat). 22% sagen, dass sie 5-mal täglich beten. Exakt der gleiche Anteil von 22% ergibt sich bei den Personen, die nie beten. 26% beten ab und zu, 26% beten das Freitagsgebet und Festtagsgebete. 6% antworten nicht. 2014 gaben 42,5% an, dass sie 5-mal am Tag beten und 16,9% sagten, dass sie das rituelle Gebet nicht einhalten. 57,5% besuchten regelmäßig das Freitagsgebet. 74,4% fühlten sich unwohl, wenn sie keine Gottesdienste machen. 7,9% sagten, dass eins der wichtigsten Kriterien für Religiosität es ist, an wichtigen religiösen Tagen Gottesdienste abzuhalten

 

Der Anteil der Ausführenden erhöht sich bei den Fürbittgebeten (dua). 75% geben an, dass sie Fürbittgebete machen. 10% gelegentlich, 6% nie und 4% machen keine Aussage dazu. 2014 machten 92,5% Fürbittgebete, auch ohne einen speziellen Grund hierfür zu haben. 2023 gaben 93% an, dass sie in Notzeiten zu Gott um Hilfe beten würden, was mit dem Anteil derer übereinstimmt, die sich in dieser Studie als Muslime identifizieren.

 

Auch beim Fasten ist ein hoher Anteil ersichtlich. 45% sagen, dass sie fasten. 25% fasten gelegentlich. 30% fasten nie und 10% verweigern die Antwort. 2014 gaben 83,5% an, dass sie fasten, wenn es ihre Gesundheit zulässt.

 

30% beziehen ihre Religionskenntnisse aus theologischen Büchern. Für 45% sind Internet und Fernsehen die Quelle ihrer Informationen. 20% fragen jemanden, dem sie zuschreiben, dass er es wissen müsste. 5% antworten nicht. 2014 sagten 47,4%, dass sie ihr religiöses Wissen größtenteils im Alter von 6 bis 10 Jahren angeeignet haben.

 

15% sehen sich zu einer islamischen Gruppierung zugehörig. 60% haben keinen Bezug. 25% machen keine Angaben dazu.

 

Auch zur Gülen Bewegung gibt es eine Frage. Es wird gefragt, ob die Bewegung dazu geführt hat, dass man skeptisch gegenüber religiösen Gruppierungen geworden ist. 35% bejahen diese Aussage. 50% sagen daher, dass der Staat solche Gruppierungen prüfen müsse. 12% sagen, dass sich für sie nichts verändert hat und 3% sind unentschlossen. 2014 sagten 50,5%, dass religiöse Gruppen wichtig sind.

 

51% der Befragten sagen, dass die Religion bei der Wahl des Ehepartners wichtig ist. Da der Anteil der Praktizierenden nicht so hoch ist, kann hier davon ausgegangen werden, dass Religion teilweise als Kultur aufgefasst wird, obwohl Kultur und Religion auch im Widerspruch zueinander stehen können. 24% sagen, dass Religion bei der Wahl des Ehepartners teilweise wichtig ist. Für 20% ist es nicht wichtig und 5% sind unentschlossen. 2014 sagten 92%, dass nach der standesamtlichen Trauung, auch die Trauung vor einem Imam stattfinden muss.

 

30% wünschen sich, dass ihre Ehepartner genauso religiös sind, wie sie selbst. 45% wünschen sich, dass der Ehepartner religiöser ist als man selbst und 15% weniger als man selbst. 10% ist der Anteil der Unentschlossenen.

 

Bei der Begrüßung sagen 41% „Assalamu Alaikum“, 24% sagen „Hallo-Guten Tag“, 30% sagen „Wie geht´s?“ und 5% geben keine Antwort dazu.

 

Interessant ist der Anteil der Personen, die sagen, dass der Politiker, den sie wählen, religiös sein sollte. Für 51% ist dies wichtig. Religion wird hier verknüpft mit Vertrauen und Ehrlichkeit, welches sie dann von den jeweiligen Politikern erwarten. 24% sagen, dass es teilweise wichtig ist. 20% sehen es nicht als wichtig an und 5% machen keine Aussage dazu.

 

54% bejahen die Frage, ob sie sich einen Khalifen wünschen. 40% sagen „Nein“. 6% machen keine Angaben dazu.

 

90% geben an, dass sie es bereuen, wenn sie sündigen. Dies scheint ein sehr hoher Wert zu sein. 2% bereuen es nicht und 8% geben gar keine Antwort dazu. 2014 waren 46% der Meinung, dass Gebotenes und Verbotenes im Kontext der Gegenwart noch einmal bedacht werden müsste.

 

65% machen die Ganzkörperwaschung, die in bestimmten Situationen eine theologische Notwendigkeit darstellt. 17% machen es ab und zu, 13% wissen nicht, was das ist und 5% haben keine Meinung dazu.

 

Aus der Studie von 2014 gab es noch weitere Ergebnisse, die hier aber nicht vergleichbar sind: 85% sagten, dass sie die Pilgerfahrt nach Mekka machen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu finden. 72% der Teilnehmer machten jährlich ihre Zakat-Abgaben. 71,6% der Frauen bedeckten sich. 69,5% schlachteten ein Opfertier zum Opferfest, wenn sie dazu in der Lage sind. 61,5% gaben an, dass durch den Laizismus der Islam frei gelebt werden kann. 7,1% gaben an, dass es nicht gegen das (religiöse) Recht eines anderen verstößt, wenn man sich nicht an die Verkehrsregeln hält. 6,4% waren der Meinung, dass es keine Sünde ist, Alkohol in einer Menge zu trinken, welches nicht betrunken macht. 11,7% glaubten, dass unislamische Praktiken nötig sind, um sich vom Einfluss von bösen Blicken zu befreien.

 

Diyanet führte 2014 eine weitere Studie durch (vgl. Akgün, 2014). Diese kam zum Ergebnis, dass viele Praktiken (Aberglaube, Riten usw.) einen vorislamischen Hintergrund haben. 1380 unterschiedliche Praktiken konnten dazu festgestellt werden. Die meisten thematisierten die Familie. 335 Aberglauben und Riten in Bezug auf Familie konnten gefunden werden. Die Bereiche lassen sich insgesamt aufteilen in: 335 Familie, 319 Glück und Unglück, 272 Beerdigung, 78 Gesundheit, 73 Grabmal, 49 Frühlingsfest Hıdırellez, 39 Leben nimmt einen positiven Weg ein, 36 rituelles Gebet (salat), 31 Böser Blick, 26 Fürbittgebet (dua), 25 Opfer, 23 Pilgerfahrt, 17 Religiöse Tage, 12 Gäste, 12 Feiertage, 9 Zauber, Fluch, 9 Dschinn, Geister, 8 Aschura, 7 Gebotenes-Verbotenes, 6 Amulett, 2 Sonnen- und Mondfinsternis.

 

Fazit

 

Insgesamt ist ein deutlicher Rückgang, sowohl in Bezug auf die Glaubensinhalte als auch in der Orthopraxie ersichtlich. Dass heißt, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis (in der Umsetzung im Alltag) gibt es große Differenzen und einen großen Rückgang in der Religionsausübung.

 

Auch wenn die Diyanet-Studie viel repräsentativer ist als die MAK Studie, da sie umfangreicher und in der gesamten Türkei durchgeführt wurde, ist in der MAK Studie eine Tendenz ersichtlich. Die türkische Gesellschaft wird nicht unbedingt religiöser. Die Schwankung der Religiosität kann aber auch das Ergebnis unklarer Begrifflichkeiten sein oder nicht eindeutiger Fragetexte der Forschungen. Studien zu anderen Themen belegen eine steigende Wirtschaftlichkeit, Verstädterung und Modernisierung der Türkei. Doch die Religiosität schwankt.

 

Vor allem die Studie aus 2023 untersuchte sich ändernde Perspektiven zu religiösen Angelegenheiten wie Alkoholkonsum, sexuelle Orientierung, voreheliche Beziehungen und das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Frauen. Demnach gibt es einen sozialen Wandel in der Gesellschaft. Diese Studie bietet bedeutende Einblicke in die sich wandelnde Landschaft des religiösen Glaubens und der Praxis in der Türkei und spiegelt eine Verschiebung hin zu persönlicheren und individuelleren Ausdrucksformen des Glaubens wider.

 

 

Literatur:

·         Akgün Z.: Hurafeler inanç eksikliğinin göstergesi. In: Moral Dünyası, September 2014, S. 32-35

·         Diyanet (Hrsg.): Türkiye´de dini hayat araştırması. Diyanet: Ankara, 2014

·         Ete H., Yargi A.: Türkiye´de dindarlık algısı. Ankara Enstitüsü: Ankara, 2023

·         MAK (Hrsg.) (2017): Türkiye´de toplumun dine ve dini değerlere bakışı. MAK: Ankara, 2017

 

 

PS: Die Ergebnisse von 2023 wurden später in den Text ergänzt.

 

 

 

 

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 14.07.2017

https://www.islamische-zeitung.de/wie-religioes-ist-die-tuerkei/

 

Huffington Post, 16.07.2017

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/wie-religioes-ist-die-tue_b_17473706.html

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