carpe_fortunam Geschrieben 12. April 2010 Teilen Geschrieben 12. April 2010 Unglück von Smolensk Nationaltragödie, zweiter Teil Von Marta Kijowska 12. April 2010 - Ohne Katyn wären die Polen heute eine andere Nation“: Dieser Satz wurde im September 2007, nach der Warschauer Premiere von Andrzej Wajdas „Katyn“, in den Medien oft zitiert. Er stammte von dem Produzenten des Films, Michal Kwiecinski, wurde aber bald dem Regisseur zugeschrieben, der, selbst Sohn eines vom sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordeten Offiziers, bereitwillig den darin enthaltenen Gedanken aufgriff. „Abgesehen davon, dass viele von uns ihre Väter und Brüder nicht verloren hätten“, sagte er damals gegenüber dieser Zeitung, „hätten wir weiterhin einen Großteil unserer Elite gehabt, also all diese Professoren, Ärzte, Historiker und Lehrer, die in Katyn ums Leben gekommen waren.“ Andrzej Wajda meinte damit, dass die in Katyn Ermordeten der Oberschicht der polnischen Vorkriegsgesellschaft angehörten, dem Adel und dem Bürgertum, und dass zu ihren Qualitäten nicht nur Bildung und Fachkompetenz gehörten, sondern auch Patriotismus, Religiosität und ein bestimmter Ehrenkodex, der ihrem Verhalten enge Schranken setzte. Letzteres zeigte Wajda nicht zuletzt in den ersten beiden Szenen seines Films: Es ist der 17. September 1939. Auf einer Brücke über dem Grenzfluss Bug stoßen zwei Flüchtlingsströme aufeinander: Die einen fliehen vor den Deutschen, die anderen vor den Russen. In der Menschenmenge ist eine junge Frau, die fieberhaft nach ihrem Mann, einem Offizier der besiegten polnischen Armee, sucht. Sie findet ihn bald in einem schlecht bewachten sowjetischen Gefangenenlager, doch nur um zu erfahren, dass seine Offiziersehre ihm verbietet, mit ihr zu fliehen. Ein Verhalten, auf die Wajdas polnische Zuschauer mit Verständnis und Akzeptanz, westliche Korrespondenten hingegen mit Verblüffung reagierten: Ein Mann in Todesgefahr, der eine Fluchtmöglichkeit nicht nutzt, war für sie kein Ehrenmann, sondern ein Versager. Gespenster der Geschichte Wer in den letzten zwei Tagen die Bilder von dem tragischen Flugzeugabsturz in Smolensk sah und die ersten Reaktionen der polnischen Prominenz hörte, konnte ähnliche Assoziationen haben. In Katyn sei erneut die polnische Elite umgekommen, sagte unmittelbar nach der Katastrophe Lech Walesa, und auch diesmal finden sich immer mehr Medien, die diesen Satz eifrig aufgreifen. Doch die Analogie stimmt nur bedingt, und man sollte sie, bei allem Respekt für die Opfer des Unglücks, nicht überstrapazieren. Bei den Ermordeten von 1940 handelte es sich um fast 22.000 Männer, darunter vor allem Offiziere, Polizisten, Intellektuelle, die in der Tat den Großteil der Elite einer damals führungslosen, sich im Krieg gegen zwei Übermächte, Deutschland und Sowjetunion, befindenden Nation bildeten und deren Abwesenheit auch nach dem Krieg schmerzlich vermisst wurde. „Als 1945 der Wiederaufbau Polens begann“, so Wajda ferner, „hatten wir ihren Verlust sehr stark gespürt, denn diese Männer hätten eine große Rolle im öffentlichen Leben gespielt - unabhängig davon, welches politische Schicksal dem Land bevorstand. Unsere Vorkriegsintelligenz war sich ihrer Verantwortung und ihres Stellenwerts in der Gesellschaft sehr bewusst, und sie hätten sich dementsprechend verhalten. Stattdessen war alles plötzlich vorbei, wie in einem Traum. Und wir mussten wieder ganz von vorn anfangen.“ Vor einem solchen Neuanfang steht das heutige Polen trotz des kaum fassbaren Ausmaßes der politischen und menschlichen Tragödie, die der Tod der polnischen Politprominenz um Präsident Lech Kaczynski bedeutet, nicht. Die politische und wirtschaftliche Situation des Landes ist stabil, die Regierung voll einsatzfähig, die Amtsgeschäfte des verunglückten Präsidenten wurden sofort vom Parlamentspräsidenten (und aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten), die des Zentralbankchefs und der Militärführung von deren Stellvertretern übernommen. So nüchtern dies klingen mag: Man sollte sich diese Tatsachen vor Augen führen, wenn der Schockzustand, in dem sich das Land im Moment befindet, bald überwunden werden soll. Und das sollte er schon allein deswegen, weil die vielen Gespenster, mit denen die polnische Geschichte aufwartet, im kollektiven Denken der Polen nicht wieder die Oberhand gewinnen dürfen. Konträre Tendenzen im Land „Warum immer wir?“; „Katyn - der verfluchte Ort, der uns schon wieder das Beste wegnimmt“; „Polen, Christus der Nationen“: Schon lassen sich unter den traumatisierten Menschen, die in diesen Stunden die polnischen Straßen und Kirchen füllen, solche Stimmen vernehmen. Angesichts der plötzlichen Verunsicherung und der lähmenden Trauerstimmung ist dieses Pathos verständlich. Doch gilt es zu bedenken, dass der Begriff „Elite“ sogar in Polen heute eine andere, weniger umfassende und vor allem in geistiger Hinsicht viel weniger idealistisch gestimmte Konnotation hat. Polen ist auch heute, nach der Tragödie von Smolensk, auf dem besten Weg, ein modernes, in alle europäischen und weltlichen Strukturen eingebundenes Land zu werden, und es darf sich nicht selbst diesen Weg versperren, indem es in den alten historischen Fatalismus zurückfällt. Wie sehr sich die polnische Gesellschaft in den letzten Jahren gewandelt hat, aber auch wie stark Vergangenheit und Gegenwart sich im polnischen Nationalbewusstsein aneinander reiben, spiegelt nicht zuletzt die Passagierliste des fatalen Flugs wider, angefangen mit dem Präsidentenpaar, das für höchst unterschiedliche, oft konträre Tendenzen im Land steht: Lech Kaczynski, für die einen „der beste Präsident, den wir je hatten“ und „der Präsident aller Polen“, für die anderen zu konservativ, nationalistisch und dogmatisch oder gar, wie es ein ehemaliger Anhänger vor kurzem formulierte, „politisch nicht mehr tragbar“. Dann Maria Kaczynska: eine loyale Präsidentengattin, die aber gleichzeitig eigene politische Akzente setzte, etwa durch Auseinandersetzungen mit dem Chef des ultrakatholischen Radiosenders „Radio Maryja“, ihr Engagement für den Umweltschutz oder ihren Einsatz für eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes. Neben ihnen waren Menschen wie Ryszard Kaczorowski an Bord, der letzte Präsident der polnischen Exilregierung in London; Anna Walentynowicz, die berühmte Kranführerin von der Danziger Werft, eine der Legenden der „Solidarnosc“-Bewegung; Janusz Kurtyka, Leiter des Instituts für Nationales Gedenken, des Inbegriffs der Aufarbeitung kommunistischer Vergangenheit; ranghöchste Befehlshaber der Armee und Oberhäupter der Kirche, zweier Institutionen, die in Polen schon immer höchste Autorität genossen; Vertreter der unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen. So gern sie sie weiterhin an ihrer Spitze sähen: Auch ohne diese Menschen, um den Satz von Michal Kwiecinski noch einmal aufzugreifen, werden die Polen langsam eine andere Nation. Text: F.A.Z. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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