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Soziologen sehen «Rebellionspotenzial». Von Andreas Hummel

 

Unsichere Zeiten

 

Jena (dpa) - Das globale Finanzdebakel, unsichere Jobs und die drohende Klimakatastrophe: Die Verunsicherung auch in der deutschen Gesellschaft wächst. Mit schwerwiegenden Folgen, wie Sozialwissenschaftler meinen und diagnostizieren ein wachsendes «Rebellionspotenzial». So sei etwa eine Erosion des Vertrauens in Politik und Wirtschaft zu beobachten, eine Entwicklung, die erhebliche politische Risiken in sich berge, erklärte der Soziologe Stephan Lessenich von der Universität Jena. «Die Wahl in Bayern hat den Vertrauensverlust der etablierten Volksparteien erst wieder deutlich vor Augen geführt.» Einen fundamentalen Wandel in der Politik sieht gar der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Hans-Georg Soeffner, gekommen. «Die reine Dominanz des Ökonomischen über das Politische ist ganz offenkundig gebrochen.»

 

Über «Unsichere Zeiten» und die damit verbundenen Herausforderungen diskutieren in dieser Woche noch bis Freitag bis zu 2000 Soziologen im thüringischen Jena. Dabei verstehen sie sich vor allem als Analytiker. «Wir haben eine Fülle von guten Analysen aus den vergangenen Jahrzehnten zu bieten», erklärte Soeffner. «Und so können wir zeigen, welche weiteren Entwicklungen möglich sind.» Jedoch dürfe Unsicherheit nicht nur negativ verstanden werden. «Wir sehen Transformation auch als Zeit der Chancen.»

 

Aus Sicht der Soziologen hat die wachsende Unsicherheit inzwischen alle Lebensbereiche erfasst - auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. «Die Partnerschaften werden brüchiger und lebenslange Ehen gibt es tendenziell seltener», sagte Lessenich, der Mitorganisator des Kongresses ist. Dennoch überschattet die internationale Finanzkrise den Kongress und macht vor allem die Wirtschaftssoziologen zu gefragten Gesprächspartnern.

 

Wie etwa Lessenichs Jenaer Kollegen Klaus Dörre. «Die Krise war seit langem absehbar», stellte er klar. Ein großes Problem sei die mangelnde Transparenz an den Märkten. «Der Finanzsektor wurde dereguliert, ohne entsprechende Transparenzregeln durchzusetzen.» Doch die Märkte könnten nur auf Basis von Vertrauen funktionieren, das weiterhin fehle. «Die momentanen Rettungspakete der Regierungen haben nur eine aufschiebende Wirkung.» Die Regierungen erkauften sich damit Zeit. Ein Ende der Krise sei nicht in Sicht und die Ängste und Unsicherheiten nähmen zu. Es sei dringend nötig, neue Kontrollsysteme zu etablieren, so Dörre.

 

Der Münchner Soziologe Ulrich Beck sieht angesichts der neuen Verunsicherungen Zeiten gravierender Veränderung. «Gegenwärtig erleben wir die Emanzipation der ökonomischen Interessen von den nationalen Bindungen und Kontrollinstitutionen», sagte er. «Das bedeutet die Trennung von Herrschaft und Politik.» Die Herrschaft werde nun in «diffuse Macht» verwandelt, teilweise in den Cyberspace, in Märkte und mobiles Kapital ausgelagert, teilweise auf die Individuen abgewälzt. «Zugleich beginnt ein Ringen um transnationale Regulierungen - in der Finanzpolitik ebenso wie in der Klimapolitik.»

 

Durch den von der Menschheit verursachten Klimawandel werden laut Beck die Karten in Gesellschaft und Politik weltweit neu gemischt. «Deshalb ist der Klimawandel keineswegs ein direkter, nicht zu verhindernder Weg in die Apokalypse - er eröffnet auch die Chance, die nationalstaatlichen Bornierungen der Politik zu überwinden und einen kosmopolitischen Realismus im nationalen Interesse zu entwickeln.» Das Nationalstaatsprinzip sei nicht länger in der Lage, die Ungleichheiten des Klimawandels abzubilden. Inzwischen würden die Klimagefahren jedoch räumlich - in andere Länder - oder zeitlich - in die Zukunft noch ungeborener Generationen - exportiert.

 

Als Reaktion auf die wachsenden Unsicherheiten beobachtet Soeffner einerseits eine Protestbewegung, die sich sowohl im wachsenden «Rebellionspotenzial» im Wahlverhalten, dem Vertrauensverlust der etablierten Volksparteien als auch in der steigenden Zahl der Nichtwähler widerspiegele. Zum anderen suchten die Menschen verstärkt nach Sicherheit in religiösen Gemeinschaften oder Vereinen. Kritisch sei jedoch, dass diese wachsende Selbstorganisation unkontrolliert von der Öffentlichkeit ablaufe.

 

«Wir können zeigen, dass bestimmte bestehende Illusionen über die Möglichkeiten des Nationalstaates sich nicht länger halten lassen», erklärte Soeffner zu den Leistungen seines Faches. «Die Systemtheorie hat schon vor Jahren, indem sie die Problematik der Weltgesellschaft artikuliert hat, darauf hingewiesen, dass es nur durch übernationale Bündnisse zu Lösungsmöglichkeiten solcher Probleme kommen kann.»

 

IZ - 08.10.2008

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