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Dialog im Geiste und Sinne des Propheten

FethullH GÜLEN

 

Es geht mir ganz gewiss nicht darum, auf meinem Recht zu beharren, und mein Gedächtnis ist sicherlich nicht das beste; dennoch kann ich problemlos zehn Koranverse zitieren, die sich mit den Themen Vergebung, Dialog und Öffnung der Herzen beschäftigen. Die Existenz dieser Verse unterstreicht, dass sich der Islam an die ganze Menschheit richtet und sie umarmt.

 

Zum Beispiel heißt es im Koran Versöhnung ist gut. (4:128) Diese Aussage beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis, auf eine bestimmte Bedeutung oder auf einen bestimmten Zusammenhang. Nein, sie ist allgemeingültig. Und steht nicht auch die Wurzel des arabischen Substantivs Islam für Aufrichtigkeit, Hingabe, Frieden, Sicherheit und Vertrauen? Daraus folgt doch, dass wir nur dann wahre Muslime sein können, wenn wir diese Attribute in unserer eigenen Person leben und ihnen Anerkennung verschaffen. Wenn wir den heiligen Begriff Islam richtig verkörpern, umspannen wir alles und nähern wir uns allem in Liebe. Wenn wir uns hingegen weigern, in diesem Geiste zu handeln, können wir nicht geltend machen, den Islam verstanden, ihn verkündet oder repräsentiert zu haben.

 

Im Koran finden sich nicht nur Richtlinien, die Frieden und Sicherheit garantieren, sondern auch Verse, die den Umgang mit Kriminellen und mit Menschen, die Anarchie und Terror verbreiten, regeln. Ihnen werden Strafen, Sanktionen und Vergeltungsmaßnahmen auferlegt. Doch wenn wir uns mit Koranversen und Hadithen zur Umsetzung dieser Maßnahmen in die Wirklichkeit beschäftigen, müssen wir in jedem Fall die äußeren Umstände in Betracht ziehen und außerdem die Essenz vom Detail und das Ziel von den Mitteln zur Erreichung des Ziels trennen. So lange wir die entsprechenden Verse nicht im Kontext der Situation ihrer Offenbarung analysieren, werden wir zwangsläufig die falschen Schlüsse ziehen.

 

Ich kann in voller Überzeugung sagen, dass Frieden, Liebe, Vergebung und Toleranz grundlegende Elemente des Islam sind; andere Dinge wiederum sind nebensächlich. Unsere Priorität muss aber zunächst den wichtigen und wesentlichen Themen, die uns Muslime betreffen, gelten. Wenn Gott z.B. der Liebe so große Beachtung schenkt, wenn Er uns mitteilt, dass Er diejenigen liebt, die Ihn lieben, und wenn er dem Menschen, den Er am allermeisten liebt, den Namen Habibullah (arabisch: der, der Gott liebt und von Gott geliebt wird) verleiht, dann haben wir gar keine andere Wahl, als die Liebe als grundlegendes Element anzuerkennen. Verhaltensmaßregeln wie der Dschihad gegen Heuchler und Ungläubige sind zweitrangige Dinge, die durch äußere Umstände bedingt und mit unterschiedlichen Gründen und Bedingungen verknüpft sind. Wenn diese jedoch nicht vorliegen, wird jener Dschihad auch nicht von uns verlangt.

 

Bestimmungen, die den Umgang mit Exekutionen, Exilierung oder Krieg regeln, gelten nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Es ist so wichtig, dieses islamische Prinzip zu erklären und bekannt zu machen. Frieden, Gerechtigkeit und Stabilität sind essenzielle Elemente des Islam, während Kriege Produkte äußerer Umstände sind und nur von bestimmten Faktoren hervorgebracht werden.

 

Leider haben diejenigen, die sich von der Essenz unserer Religion abwenden und ignorieren, an welche Bedingungen die sekundären Regeln und Vorschriften geknüpft sind, jene also, die Gewalt befürworten, weil sie, ähnlich wie die Zahiriten[1], nur eine einzige Perspektive des Koran in Betracht ziehen, vieles nicht begriffen. Sie haben weder die Regeln selbst noch die für diese Regeln geltenden Bestimmungen oder die Quelle dieser Regeln verstanden. Nein, sie haben den Islam insgesamt missverstanden.

 

Liegen entsprechende Gründe vor, kommen die sekundären Regeln selbstverständlich zur Anwendung. Greifen beispielsweise ausländische Armeen unser Land an, erwartet niemand von uns, dass wir passiv in der Ecke sitzen und die Angreifer willkommen heißen: „Wie schön, dass ihr gekommen seid!"

 

Werfen wir doch einfach einmal einen Blick auf die Welt, in der wir leben! Aktuellen Agenturberichten zufolge toben an 56 Schauplätzen ‚blutige Kriege'. In so vielen Teilen der Welt fließen Ströme von Tränen und Blut, häufig unter Beteiligung von Kriegsparteien, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Sich solchen Kriegen zu widersetzen, hieße, eine menschliche Realität zu ignorieren. Sobald jemand unsere demokratischen Rechte und Freiheiten angreift, sind wir - natürlich - dazu aufgerufen, uns zu verteidigen und wenn nötig auch zu kämpfen. Doch wie ich bereits eingangs sagte: Diese Dinge sind sekundär. Das Fundament des Islam bilden der Frieden und die Umarmung der Menschheit in Liebe.

 

Ein Aufruf an die Welt

 

Was außerdem für die Aufnahme und Fortführung von Dialoggesprächen spricht, ist die Notwendigkeit, immer mehr Interessen mit anderen Menschen zu teilen - auch mit Christen und Juden. Themen, die spalten könnten, sollten dabei ausgespart werden.

 

Der Koran wendet sich an Juden und Christen:

 

O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch. (3:64)

 

Das Wort, von dem hier die Rede ist, lautet dass wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen. Wahre Freiheit erlangen wir nur dann, wenn wir uns zu keines Menschen Sklaven machen. Wer Diener Gottes wird, entgeht dieser Gefahr. Also lasst uns in diesem Punkt harmonieren. Weiter heißt es in dem Vers und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Allah. Unser aller gemeinsamer Bezugspunkt ist der Glaube an Gott. Die Prophetenschaft Muhammads wird an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang nicht genannt. Weiter heißt es im Koran:

 

Sprich zu denen, die glauben, sie mögen denen vergeben, die nicht mit den Tagen Allahs rechnen. (45:14)

 

Gemeint ist, dass wir jenen, die nicht an ein Leben nach dem Tode und an die Wiederauferstehung glauben, vergeben sollen, auf dass Er die Leute für das belohne, was sie verdienen. Das heißt, dass es niemandem außer Gott allein zusteht, jemanden zu bestrafen, der in diesem Punkt Schuld auf sich lädt.

 

Diese Haltung spiegelt sich auch in einer Antwort wider, die der Prophet Muhammad erhielt, als er Gott bat, einen heidnischen Stamm zu bestrafen. Einem Bericht zufolge wandte sich ein arabischer Beduinenstamm an den Propheten, er möge ihnen doch einige Koranlehrer schicken. Der Gesandte Gottes entsprach ihrem Wunsch, aber die Lehrer wurden in einen Hinterhalt gelockt und starben in Bi'r al-Mauna einen grausamen Märtyrertod. Als der Gesandte Gottes anschließend dafür betete, dass die Täter bestraft werden, wurde ihm folgender Vers offenbart:

 

Von dir ist es gar nicht abhängig, ob Er Sich ihnen wieder verzeihend zuwendet oder ob Er sie straft; denn sie sind ja Frevler. Und Allahs ist, was in den Himmeln und was auf der Erde ist; Er verzeiht, wem Er will, und straft, wen Er will, und Allah ist verzeihend und barmherzig. (3:128-129)

 

Überall auf der Welt interessieren sich die Menschen heute wieder für die Religion. Deshalb ist es meiner Meinung nach wichtiger denn je, den Glauben und seine wahren Werte auf angemessene Art und Weise zu repräsentieren. Wir brauchen Menschen, die rechtschaffen, selbstdiszipliniert, behutsam, aufrichtig und reinen Herzens sind, Menschen, die nicht stehlen, die sich selbst nicht zu wichtig nehmen, denen das Wohlergehen anderer mehr am Herzen liegt als das eigene und die keine weltlichen Erwartungen hegen. Wenn es der Gesellschaft gelingt, Menschen mit diesen Eigenschaften hervorzubringen, dürfen wir uns auf eine viel bessere Zukunft freuen.

 

 

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[1] Die Zahiriten kümmern sich lediglich um die äußere Bedeutung von Koran und Sunna. Daher mangelt es ihnen an Einsicht und Wahrnehmungsvermögen. Es gibt jedoch nur sehr wenige Zahiriten.

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