Zum Inhalt springen
Qries Qries Qries Qries Qries Qries

Empfohlene Beiträge

trinitat-tagung-nov-2010-7.jpg

 

 

Selma Öztürk: Herr Sahinöz, wie bewerten Sie die derzeitige Integrationsdebatte in Deutschland?

 

Cemil Sahinöz: Integrationsdebatte? Habe ich wohl nicht mitbekommen… Denn das, was wir im Moment als “Debatte“ bezeichnen, ist nichts als eine reine Polemik. Mit Integration hat diese Polemik ebenso wenig zu tun. Es ist eher ein Ausdruck der Islamophobie.

 

S.Ö.: Ist Sarrazin der Auslöser dafür?

 

C.S.: Nicht unbedingt. Es gab auch schon vor Sarrazin derartige Aussagen. Wenn es nicht in den Medien aufgetaucht wäre, hätte niemand Sarrazins Buch beachtet. Ich hatte aber trotzdem gehofft, dass durch diese Polemik eine ernste Diskussion zum Thema Integration in Deutschland beginnen würde. Leider kam es nicht dazu…

 

S.Ö.: Was war denn das eigentliche Problem?

 

C.S.: Also über ´Integrationsunwilligkeit´ kann man ja noch sprechen. Aber über ´Integrationsunfähigkeit´? Da gibt es nichts zu sagen… Viele Jugendliche, mit denen ich sprach, sagten nach den Aussagen von Sarrazin, dass sie sich ja dann sowieso nicht anstrengen brauchen, weil sie sich ja laut Sarrazin gar nicht integrieren könnten. Es läge ja an ihren Genen. Somit wäre ja alles ´vorherbestimmt´. Sie sagten, „Wenn ich eine Arbeit finde, sagt man ´ihr klaut uns unsere Arbeit´. Wenn ich keine Arbeit finde, sagt man, ´ihr lebt von unserer Sozialsteuer.´“ Diese Debatte war also sehr polarisierend.

 

S.Ö.: Meinen Sie denn, dass diese ganze Debatte oder Islamophobie ein Spiegelbild der Gesellschaft ist?

 

C.S.: Keinesfalls. Diese Scheindebatte ist eine Konstruktion. Sie ist kein Abbild der Gesellschaft und ist nicht repräsentativ. Genauso sind es auch nicht die Marionetten, die in den Medien auftreten. Man lädt Extrempunkte in die Sendungen ein, die sich dann um Banalitäten streiten. Auf der einen Seite sitzen radikale Muslime auf der anderen Seite extreme Islamgegner. Beides sind vom Aussterben bedrohte Wesen in Deutschland. Und das ist auch gut so.

 

S.Ö.: Herr Sahinöz, in Ihrem letzten Buch „Leben und Arbeiten mit türkischen und muslimischen Familien“ geht es u.a. um kulturelle Unterschiede. Erschweren diese kulturellen Unterschiede das Miteinander?

 

C.S.: Nein, ich denke nicht. Hierzu möchte ich gerne eine kurze Geschichte erzählen, die der verstorbene, ehemalige Integrationsbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, Dr. Klaus Lefringhausen immer erzählte: Eine türkische Familie zog in eine neue Wohnung ein, in direkter Nachbarschaft zu einer deutschen Familie. Die türkische Familie backte einen Kuchen und wartete darauf, dass die Nachbarn sie besuchen und sie willkommen heißen. So kannten sie es aus ihrer eigenen Tradition. Die deutsche Familie backte ebenfalls einen Kuchen, denn es ist bei ihnen üblich, dass die neuen Nachbarn vorbeikommen und sich vorstellen. Beide Familien blieben mit ihrem Kuchen allein… Diese kurze Geschichte trifft den Kern. Die türkische Familie könnte nun sagen: ´Was für eine rassistische Familie. Kommen uns nicht einmal besuchen.´ Die deutsche Familie könnte sagen: ´Diese Ausländer grenzen sich wieder aus und bilden Parallelgesellschaften.´ Aus einem kleinen Missverständnis kann also ein großer Streitpunkt entstehen. Und es sind genau diese kleinen Missverständnisse und das Unbekannte, die zu Verwirrungen und Vorurteilen führen. Daher ist es von großer Bedeutung, das Unbekannte zum Bekannten zu machen. Nur so kann ein friedliches Miteinander gewährleistet werden. Nur so kann Integration funktionieren. Integration ist aber kein Zustand und hat auch keinen Endpunkt. Es ist eher ein ständiger Prozess.

 

S.Ö.: Wie bewerten Sie die türkische Gesellschaft und deren Entwicklung in Deutschland?

 

C.S.: Ich spreche eigentlich nicht von ´türkischer Gesellschaft´ in Deutschland. Denn es gibt nur eine Gesellschaft in Deutschland. Hierzu gehören alle Menschen, die in Deutschland leben. Es gibt aber verschiedene Communitys. Wenn wir von der ´türkischen Community´ sprechen, müssen wir auch selbstkritisch sein. Die ´türkische Community´ hat es schlicht und einfach versäumt, in Bildung zu investieren. Da braucht man sich gar nicht herum zu reden. Stattdessen muss man dagegen etwas unternehmen. Man sollte den Jugendlichen Perspektiven anbieten und sie für Bildung motivieren.

 

S.Ö.: Sie arbeiten ja nicht nur als Integrationsbeauftragter, sondern auch als Familienberater. Was sind die häufigsten Probleme bei den Jugendlichen?

 

C.S.: Neben psychischen Problemen bei türkischen Frauen sind Suchtproblematiken bei türkischen Jugendlichen sehr auffällig. Die Wenigsten haben Alkoholsucht. Viele kommen eher mit Drogenproblemen. Aber die absolute Top 1 Problematik scheint Spielsucht zu sein. Das zeigen uns auch die Statistiken. Spielsucht ist in Deutschland am meisten unter türkischen Jugendlichen verbreitet. Mit steigender Tendenz.

 

S.Ö.: Als Soziologe, was meinen Sie, woran das liegt?

 

C.S.: Das hat verschiedene Gründe. Bei vielen ist es so, dass die eigenen Eltern auch spielen. Die spielen dann in den türkischen Cafés, die in Wirklichkeit kleine Casinos sind. Das färbt natürlich ab. Aber zum großen Teil hängt dies ebenfalls mit der Perspektivlosigkeit zusammen. Wenn man einen schlechten Abschluss, keine Chancen auf einen Beruf hat und die eigenen Eltern keine Unterstützung anbieten, versucht man natürlich anders an schnelles Geld zukommen. Bei Spielsucht fängt dies immer klein an. Mit ein paar Euro. Schnell werden dadurch ein ganzes Vermögen und anschließend eine hohe Summe an Schulden. Leider musste ich schon dutzende Familien begleiten, die alleine nur wegen Spielsucht zerbrochen wurden.

 

S.Ö.: Was raten Sie also den türkischen Eltern?

 

C.S.: Ich rate ihnen einen Paradigmenwechsel an. Deutschland ist ihre Heimat. Und auch das ihrer Kinder. Man muss aufhören, weiterhin in die Türkei zu investieren. Das kommt immer noch häufiger vor, als man glaubt. Das muss aufhören. Die Investition muss in die Bildung in Deutschland geschehen. Die Jugendlichen müssen zur Universität motiviert werden. Natürlich ist mir klar, dass nicht jeder studieren muss. Aber zumindest sollte man die Kinder erst einmal darin unterstützen.

 

S.Ö.: Und wie sieht es generell mit Muslimen aus?

 

C.S.: Naja, es gibt ja viele verschiedene Jama´ats, Gruppen und Organisationen. Das ist nicht weiter schlimm. Schlimm wird es, wenn sich diese Gruppen bekämpfen. Ehrlich, den Jugendlichen interessiert es überhaupt nicht, welcher Gruppe man angehört. Solange jeder in seiner eigenen Gruppe ist und die anderen Gruppen nicht ständig schlecht macht, kann man positive Wege gehen.

 

S.Ö.: Und was brauchen die Muslime in Deutschland?

 

C.S.: Ganz klar eine Elite. Eine Elite von muslimischen Akademikern, die sich in Deutschland wohl fühlt. Mit unserer Zeitschrift Ayasofya versuchen wir die Netzwerkarbeit für eine solche Elite zu leisten.

S.Ö.: Vielen lieben Dank für dieses aufschlussreiche Interview, Herr Sahinöz.

 

C.S.: Ich danke Ihnen, Frau Öztürk.

 

 

Milli Gazete, 13.11.2010pencil.png

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Gast
Dieses Thema wurde nun für weitere Antworten gesperrt.
×
×
  • Neu erstellen...