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Von A. S. Bruckstein Çoruh DER TAGESSPIEGEL, 12.10.2010

 

Islam-Debatte

 

Die jüdisch-christliche Tradition ist eine Erfindung

 

Auf dem derzeitigen Kampfplatz gibt es vor allem einen Gegner: den Islam. Dabei bedarf es einer neuen Liaison der jüdischen Intellektuellen mit den Muslimen dieses Landes.

Die Republik spricht täglich von der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes. Gewöhnlich im Sinne der Verteidigung unseres Rechtsstaates und des Grundgesetzes, der freiheitlichen Werte unserer Gesellschaftsordnung, auch gern mit der „Gleichstellung der Geschlechter, Freiheit der Kunst, Meinungs- und Religionsfreiheit“. Ein Kampfplatz, auf dem es vor allem einen Gegner gibt. Der zu gar keinem Bindestrich zu taugen scheint: der Islam.

Oft wird er reflexhaft gleichgesetzt mit Religion – einer Religion, die ihre „kriegerisch-arabischen“ Ursprünge nicht verleugnen könne. Sie bestehe aus Sharia und Koran, so erklären uns die Experten, Moderatoren, Pädagogen, Politiker und Journalisten und beschwören dagegen die jüdisch-christliche Tradition.

Sie alle hantieren ganz ohne Scham mit den Begrifflichkeiten einer ihnen fremden literarischen Überlieferung, die – ebenso wie die rabbinische – eine ganze Welt kasuistischer Urteilsfindungen umfasst, wobei ein bedrohlich belehrender Gestus der Eindeutigkeit vorherrscht: Im Koran steht dies, der Islam sagt jenes, die Sharia befiehlt dieses.

Um das Jahr 2001 herum haben der Schriftsteller Navid Kermani und ich in Berlin ein mehrjähriges Projekt zu den Verflechtungen europäischer, jüdischer, arabischer, islamischer, persischer literarischer Traditionen initiiert. Mit einer Gruppe von jüdischen und islamischen Gelehrten wollten wir zeigen, wie komplex, wie vieldeutig jüdische und islamische Traditionen sind, wie beflügelnd – und wie sehr es nottut, zwischen religiöser Tradition und soziopolitischer Realität zu unterscheiden. In der öffentlichen Debatte hingegen endet doch alles immer wieder bei Terror, Ehrenmord, Kopftuch und Koran. Und der drohenden Kapitulation „unserer Kultur“.

Vor mehr als hundert Jahren gab es ähnliche Prozesse gegen den Talmud, in denen das gesamte rabbinische Judentum unter Anklage stand. Jüdische Philosophen haben damals gegen die Eindeutigkeiten der öffentlichen Zuschreibungen eine arabischsprachige Quelle aus dem 13. Jahrhundert zitiert, die überraschend klare Worte findet: Die Moderatoren der Debatte „erklären gar nichts, berühren niemals etwas Tieferes in den Dingen, sie bewegen sich weit entfernt von den Wissenschaften, sie haben nicht einen Funken von jener menschlichen Begabung, die Dinge selbständig zu durchdenken, daher missachten sie auch die Auslegungen der Weisen und lesen traditionelle Texte nach ihrem eigenen begrenzten Verständnis“. Und falls die Kritiker sich gar als Hüter der Aufklärung aufspielen, um die Tradition der anderen verächtlich erscheinen zu lassen, so seien diese wohl „noch größere Idioten als die einfältigen Frommen, noch größere Schwätzer, die ihre Reden mit großem Einfluss und immensem Schaden unter der Intelligentsia losplatzen lassen“.

Der Autor dieser scharfen Worte ist der judeo-arabische Philosoph Moses Maimonides (1135-1204). Er ist der größte unter den rabbinischen Gelehrten, gehört zu den arabischsprachigen Juden des Maghreb, seine Philosophie ist Teil der arabischen Aufklärung. Rabbinisches und Islamisches ist für ihn in vielerlei Hinsicht eng verwoben. Gegen den Versuch, Jüdisches von Arabischem zu trennen oder gar einer jüdisch-christlichen Geschichte zuzuordnen – gegen diesen Irrtum ist schon Jacques Derrida auf dem Skopusberg in Jerusalem in den späten Achtzigern vor Studenten der Hebräischen Universität angetreten. Ich war dort, zu dieser Zeit, an der Universität in Jerusalem tätig, in Jerusalem ansässig. Wie sein Vorgänger fand Derrida klare Worte für die posttraumatische protestantische Konstruktion des jüdisch-christlichen Abendlandes, mitten in Jerusalem, mitten im Krieg: „Oh, wenn Maimonides dies nur gewusst hätte!“ Wie er und mit ihm die gesamte jüdische Tradition zum Gespann dieses fantastischen Galoppzugs durch die jüdisch-christlich-abendländische Geschichte würde, was für eine abstruse Konstruktion!

Hat nicht Henryk M. Broder uns gerade erst daran erinnert, unangenehm sicherlich, aber doch wahr, dass der Bindestrich der jüdisch-christlichen Geschichte vor allem eine Geschichte der Glaubenskriege, der Unterdrückung, des Antisemitismus und der Gewalt war, von der Schoah ganz zu schweigen? Derridas Frage lässt den Phantomschmerz des Verschwindens jüdisch-arabischer Allianzen spüren: „Wenn Maimonides dies nur gewusst hätte, dass man ihn und mit ihm die gesamte jüdische Tradition eines Tages für diesen seltsamen Kampf rekrutieren würde, dass er unwissentlich ein Abkommen mit dem postlutherischen Deutschland unterzeichnet haben würde, würde seine Seele dann in Frieden ruhen?“

Es stockt einem der Atem bei so viel Geschichtsvergessenheit. Es ist gruselig, mit welchem Pathos der geistigen und moralischen Überlegenheit die selbst ernannten Vertreter des jüdisch-christlichen Abendlandes muslimischen Zeitgenossen, ganz egal welcher Nationalität und welcher kulturellen Prägung, die europäische Aufklärung vorhalten. Das Eis bleibt dünn, nach gerade einmal siebzig Jahren.

Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen. Jüdisch-christlich ist eine Konstruktion, geprägt von einer Genese des Fortschritts, die in der Reformation und in der Französischen Revolution gipfelt. Erst nach der Schoah hat in Deutschland ein jüdisch-christlicher Dialog begonnen. Dabei entsprachen die Trennlinien dieses Dialogs paradoxerweise ziemlich genau den Trennlinien zwischen muslimischen und christlichen Überzeugungen heute. Selten gibt es für die offensichtlichen Gemeinsamkeiten dieser beiden Traditionen auch ein öffentliches Zeugnis, wie etwa zur Zeit, als die Republik über Navid Kermanis Äußerungen zum Kreuz in helle Aufregung geriet und Fürsprecher wie Micha Brumlik am Ende doch, wenn auch eher leise, darauf hinwiesen, dass auch für viele Juden – wie soll man es sagen – jede Form der Kreuzestheologie letztlich Blasphemie bleibt.

Zu Zeiten, als es in Deutschland noch eine jüdische Gelehrsamkeit gab, die in ihrer kosmopolitischen und kritischen Geistesart einzigartig war und der klassischen jüdisch-arabischen Tradition im Geiste nah verwandt, da wussten die jüdischen Gelehrten um die Liaison der Juden und Muslime. Bis in die frühen dreißiger Jahre haben sich jüdische Gelehrte in der Verteidigung ihrer universalen Vernunftstradition und ihrer Kritik der Christologie Rückendeckung geholt bei den Denkern der arabischen Aufklärung. Kaum einer erinnert daran, dass Moses Mendelssohns politische Aufklärungsschrift „Jerusalem“ (1789) vor allem da, wo sie von Kant abweicht, auf Argumente arabischer Aufklärungstraditionen zurückgreift. Und erinnern wir uns daran: Im 19. Jahrhundert waren es die Juden, deren Tradition unter dem Generalverdacht verweigerter Integration, doppelter Loyalitäten, primitiver Spiritualität und pathologischer Abgrenzung gegenüber ihren deutschen Mitbürgern stand.

Während heute Karikaturisten, die eine Bombe in den Turban des Propheten zeichnen, Auszeichnungen erhalten, erhob das Marburger Landgericht 1888 Anklage gegen einen Volksschullehrer, der 1886 ähnlich Brisantes ins Herz der rabbinischen Tradition platzierte. Inmitten der durch den Berliner Antisemitismus- Streit aufgeheizten Diskussion über jüdische Parallelgesellschaften und über die Unvereinbarkeit der Halakha mit den Werten der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte dieser Lehrer behauptet, der Talmud erlaube den Juden unmoralisches Verhalten gegenüber Nichtjuden. Die jüdische Gemeinde hatte dies als eine Beleidigung der gesamten Judenheit verstanden und den Lehrer verklagt. Daraufhin legte das Gericht zwei Sachverständigen die Frage vor, „ob eine Beschimpfung des Talmud auch eine Beschimpfung der gesamten jüdischen Religion und also straffällig sei“. Auch die assimiliertesten unter den jüdischen Intellektuellen haben damals verstanden: „Es ist Zeit, dass wir wieder bekennen müssen.“ In jenem Prozess übernahm der jüdische Neukantianer Hermann Cohen die Verteidigung des talmudischen Judentums. Der Angeklagte wurde zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt. Heute wissen wir: Gewaltsame Ausgrenzung, Mord und Totschlag konnte auch dieser Prozess nicht stoppen.

Die Fronten haben gewechselt. Was lesen wir heute? „Beim Islam handelt es sich um einen militanten Monotheismus, der seine Herkunft aus der Welt kriegerisch-arabischer Nomaden nicht verleugnen kann“ – und „sechs Millionen Muslime in der Bundesrepublik werfen Assimilations- und Integrationsprobleme auf“. In Zeiten, in denen muslimische Traditionen unter Generalverdacht stehen, bedarf es einer erneuten Liaison der jüdischen Intellektuellen mit den Muslimen dieses Landes. Es ist wieder Zeit, dass wir bekennen müssen. Wo Muslime Fremde sind, sind wir es auch.

Die Autorin ist Fellow am Käte-Hamburger-Kolleg in Bonn und Professorin für jüdische Philosophie mit zahlreichen Veröffentlichungen im In- und Ausland. 2009 kuratierte sie die Ausstellung „Taswir – Islamische Bildwelten und Moderne“ im Martin-Gropius-Bau.

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