Webmaster Geschrieben 10. Juni 2011 Teilen Geschrieben 10. Juni 2011 Fethullah Gülen: “Es gibt in der Türkei keinen Abgrund zwischen Muslimen und Kemalisten” Er gibt ganz selten Interviews: Erstmals bezieht nun der in den USA lebende islamische Prediger und Gelehrte Fethullah Gülen im großen Exklusiv-Interview mit den Deutsch Türkischen Nachrichten Stellung zu kontroversen Positionen: Er spricht über die mögliche Versöhnung zwischen rivalisierenden Gruppen in der Türkei, über die Ziele der nach ihm benannten Gülen-Bewegung, über Gewalt im Islam und über die Möglichkeit seiner Rückkehr in die Türkei. Deutsch Türkische Nachrichten: Glauben Sie, dass der Islam und die moderne Gesellschaft vereinbar sind? Viele Menschen im Westen glauben, dass es nur ein Entweder-Oder gibt… Fethullah Gülen: Hier muss man zunächst fragen: Was bedeutet „Moderne“? Unser Schöpfer hat die Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten ausgestattet. Jeder Mensch muss seine Fähigkeiten entwickeln, damit er einmal die Vollkommenheit erlangt. Eine dieser Fähigkeiten ist Ausdauer: Wir brauchen unter Umständen viel Ausdauer, damit sich Wahrheit und Gerechtigkeit in der Welt durchsetzen können. Diese Ausdauer erwerben wir durch Bildung. Die Wissenschaft schärft unser Denken, damit wir unserem Ziel näher kommen. Unsere Sicht auf die Moderne ist von diesem jahrhundertelangen Streben nach Vollkommenheit geprägt. Wir wissen aber auch, dass sich diese Grundbegabung der Ausdauer in etwas Negatives verwandeln kann. Wir nennen sie dann Starrsinn. Und dieser Starrsinn, der immer von mangelndem Wissen herrührt, führt dann sehr leicht zum blinden Glaubenseifer . So entstehen religiöse Feindseligkeiten. Im Islam finden Sie keine Begründung für einen solchen Glaubenseifer , im Gegenteil. ¬Die Verschiedenheit der Menschen ist für uns ein besonderer Wert. Jeder Unterschied deutet in einzigartiger Weise auf unseren Schöpfer hin. Aus diesem Grund benennt der Koran die Unterschiedlichkeiten von Hautfarbe, Rassen, Sprachen, Fähigkeiten und bezeichnet die individuellen Eigenschaften als Zeichen des Schöpfers und als Notwendigkeit des Lebens. Zu verschiedenen Zeiten wurden den Menschen verschiedene Propheten gesandt, die für gemeinsame Werte einstanden. Aber die verschiedenen Lehren der Propheten berücksichtigten die nach Zeit, Raum und Bedingungen unterschiedlichen Lebensformen. Dies stellt für den Koran eine wesentliche Dimension der menschlichen Existenz dar. Weil die Menschen aber so unterschiedlich sind, müssen sie vor allem eines lernen: In Frieden und Brüderlichkeit zu leben! Der Islam verlangt von ihnen ausdrücklich diese Lebensweise. Mehr noch: Genau deswegen sind Blutvergießen, Anarchie und Chaos mit dem Wesen des Menschen unvereinbar. Sie machen die Erde nicht zu einem lebenswerteren Ort. Zu der Vereinbarkeit des Islams mit der modernen Gesellschaft sollte auch folgendes betont werden: Die westeuropäische Moderne ist nicht dadurch entstanden, dass sie besonders radikal vom Christentum abgerückt ist. Viele Elemente der Religion finden sich in der Moderne wieder. Das Zusammenspiel von Denken und Glauben, von Weltanschauung und Wirtschaft, von Soziologie und Politik sind Gedanken, die sich von der Religion herleiten lassen. Diese Elemente finden wir auch im Islam. Für uns ist dies in doppelter Hinsicht bedeutend: Diese Gedankenlinien beschreiben die gemeinsame Basis zwischen dem Islam und der Moderne.. Und sie geben uns die Regeln, wie Muslime miteinander in verschiedenen Gesellschaften in Frieden leben können. Das ist übrigens nicht neu: Bereits im 14. Jahrhundert haben Muslime mit Christen, Juden, Sabäern, anderen Religionen und auch Atheisten miteinander und in Frieden gelebt. Welche Rolle sollen Religionen überhaupt in den verschiedenen Gesellschaften spielen? Wo können Religionen dazu beitragen, dass das Zusammenleben verbessert wird? Es fällt uns heute schwer, Religionen überhaupt zu verstehen, weil wir den Menschen zu sehr auf sein körperliches Dasein reduzieren. Dessen körperliche Bedürfnisse müssen befriedigt werden. Dieser materialistischen Sicht setzt die Religion ein anderes Konzept entgegen. Dieses ist metaphysisch und sagt, dass in der gesamten Schöpfung der Sinn, an den auch die Materie gebunden ist, Priorität hat und ihm dient. Diesen Sinn erfahren wir nicht körperlich, sondern durch Herz, Verstand, Gewissen und Emotionen. So haben die Menschen einerseits das Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit. Sie haben aber auch das Bedürfnis nach einer moralischen und geistigen Erziehung, die den Verstand, das Herz und die Seele mit einbezieht. Diese Seite sprechen die Religionen an. Die Aufgabe konnte auch nicht von der Philosophie, der modernen Psychologie oder der Psychoanalytik übernommen werden: Selbst in den modernsten Gesellschaften gibt es immer noch Religionen. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Mensch etwas sucht, was ihm „heilig“ ist. Er legt auf die Heiligkeit der Quelle einen besonderen Wert – was also über alle Jahrhunderte Dauer hat und auch nicht durch Zeitströmungen verändert wird. Die Religionen berufen sich auf ihren Schöpfer und auf die Propheten und haben daher eine größere Wirkung. Deshalb versuchen die Menschen auch nach Jahrhunderten noch, den Wegen von Abraham, Moses, Jesus und Mohamed (Friede sei mit ihnen) zu folgen. Die Aufgabe der Religionen in der modernen Gesellschaft besteht also darin, dafür zu sorgen, dass die Menschen zu aller Zeit und ohne Zwang geistig und moralisch gut erzogen werden. Sie müssen sich für die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen einsetzen – damit sich Liebe, Barmherzigkeit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft entwickeln können. Die Aufgabe der Religionen besteht darin, der Erde Frieden und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darin liegt heute und in der Zukunft ihre große Verantwortung. Wie soll aus Ihrer Sicht das Verhältnis von Staat und Religionen sein? Es gibt ein islamisches Prinzip, das sagt: „Jede Epoche hat ihre Besonderheit, und die Zeit ist ihr Interpret. Wenn die Zeit ein Urteil fällt und eine Deutung hervorbringt, kann diesen nicht widersprochen werden.“ Dieses Prinzip sieht die Menschheitsgeschichte als einen sich evolutionär gestaltenden Prozess. Nicht alle Besonderheiten einer Epoche sind unabänderlich. Idealisierte Sichtweisen werden oft von der historischen Entwicklung widerlegt. Was heute als ideal angesehen wird, muss nicht in alle Zukunft ideal sein. Hätte man zur Zeit des Osmanischen oder Habsburger Reichs oder im viktorianischen Zeitalter in England von einer Demokratie im heutigen Sinn gesprochen, man hätte es vermutlich als grotesk empfunden. Das gegenwärtige Verhältnis von Staat und Religion ist nicht das Ergebnis eines Kampfes des Staats mit der Religion. Es ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen der Kirche, die sich theokratisch zu legitimieren versuchte, und dem Bürgertum. Hier konnte man sehen: Etwas, was an einer bestimmten evolutionären Entwicklungslinie als ideal gegolten hat, kann nicht für alle Ewigkeit als ideal gelten. Der Islam trägt diesem dynamischen Prozess Rechnung: Es gibt im Islam keinen Klerus und somit auch keine Herrschaft der Geistlichen. Deswegen kann es aus islamischer Sicht keine Theokratie geben. Oder: Das Prinzip der Unfehlbarkeit gilt im Islam nur für die Propheten und sonst niemanden. In den Abschnitten im Koran über die Söhne Israels wird neben dem Propheten Samuel auch der Herrscher Saul erwähnt. In der islamischen Geschichte gab es einen Kalifen als Herrscher und einen Scheich ul-Islam als den Beauftragten für die religiösen Angelegenheiten und Institutionen. Der Islam kennt feste Wahrheiten und Normen, die die unveränderlichen Realitäten des menschlichen Wesen und des gesamten Universums ansprechen. Und er kennt solche, die gewissermaßen variabel sind. Diese entsprechen einer Art des Brauchtums, der Tradition (ma´ruf) und enthalten die wichtigsten Grundsätze einer Gesellschaft, die den wesentlichen Grundsätzen der Religion wie Glaubenswahrheiten, grundlegende Gebets-, Moral- und Verhaltensnormen nicht widersprechen. Dies sind also Prinzipien, die einer ständigen neuen Überprüfung unterzogen werden – weil sie sich ja ändern und dem Wandel der Gesellschaft unterliegen. Diese Zusammenhänge definieren das Verhältnis der Religion zum Staat. Die Beziehung kann sich ändern. Es gibt aber auch in dieser Beziehung unveränderliche Prinzipien: Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich, Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, Unveräußerlichkeit der Freiheits- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und freie Wahlen. Der Staat ist kein Selbstzweck: Unser Prophet (Friede sei mit ihm) sagte: „Der Herr eines Volkes ist derjenige, der ihm dient.“ Der Staat muss dem Volk dienen. Er darf den Staatsdienst nicht als Einnahmequelle sehen, sondern als Dienst am Volk. In der Vergangenheit haben sich die Religionen teilweise bis aufs Messer bekämpft.. Ist das unvermeidlich, weil ja alle Religionen von sich behaupten, allein im Besitz der Wahrheit zu sein? Das ist wahr, und es waren nicht nur die Religionen, die einander bekämpft haben – auch innerhalb einer Religion gab es Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Aus islamischer Sicht sehen wir diese Unterschiede zwischen Religionen und Konfessionen nicht als etwas Negatives. Sie entsprechen der Vielfalt der Schöpfung. Die großen Weltreligionen wie Islam, Christentum und Judentum haben dieselben Wurzeln. Aus diesem Grund nennt Allah im Koran all diese Religionen „Islam“ – im Sinne der Hingabe zu Gott. Alle Propheten sind vom Schöpfer gesandt worden, um dieselben Grundsätze zu verkünden. Daher muss ein Muslim, um ein Muslim sein zu können, an alle Propheten – Moses, Jesus und Mohamed – und alle heiligen Bücher (Thora, Bibel, Koran) anerkennen. Alle Unterschiede sind zweitrangig und können niemals Grundlage für Streit oder Zwist sein. Wenn die Religionen aber dennoch miteinander streiten, so sind es nicht die Religionen, die einander widersprechen. Es ist dann Streit unter den Angehörigen von Religionsgemeinschaften. Er entsteht, wenn diese Angehörigen die Religion ideologisieren oder für weltliche Ziele und Interessen missbrauchen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem Islam, dem Christentum und dem Judentum. Aber wie schon für die Schöpfung allgemein so gilt im Islam auch für das Verhältnis der Religionen zueinander: Der Koran verabscheut nichts so sehr wie Blutvergießen, Zerstörung, Chaos und Anarchie. Die Angehörigen von Religionsgemeinschaften dürfen die Religion nicht als Waffe einsetzen. Die Aufgabe der Religion ist es, den Menschen ein Leben in Frieden auf Erden zu ermöglichen. Die Religion darf nicht für weltliche Zwecke eingesetzt werden. Sie muss in Aufrichtigkeit und mit Reinheit der Absicht (ihlas) gelebt werden. Andernfalls ist dies eine Behauptung, die keine Gültigkeit hat. Welche Chancen bietet der interreligiöse Dialog und wo sehen Sie die Grenze dieses Dialogs? Ich würde lieber von einem „Dialog zwischen Religionsangehörigen“ sprechen. Wenn wir vom Dialog sprechen, so meinen wir nicht, dass die Religionen auf ihre eignen Wahrheitsnormen verzichten sollen. Wir wollen aber, dass Religionen in der heutigen Welt nicht Waffen, sondern Verständigungs- und Konsensmittel werden. Die Religionen sollen einander kennenlernen und das Ideal des „friedlichen Zusammenlebens“ anstreben. Wir wünschen uns, dass die Religionen die falschen Ansichten voneinander, die sie wegen der Geschichte und der falschen Informationen gegeneinander pflegen, korrigieren und jeden so akzeptieren, wie er ist, wie er glaubt. Darauf aufbauend sollen sie die Beziehungen zueinander gestalten. In den vergangenen Jahrhunderten haben die Menschen oft wenig von ihrer eigenen Religion gewusst. Mit anderen Religionen kamen sie meist überhaupt nicht in Berührung. Daher waren sie natürlich anfällig für die Vorurteile, die von politischen Autoritäten geschürt wurden. Oft wurden Missverständnisse geschürt und Konflikte angefacht. So entstanden Feindschaft und Fanatismus. Heute leben wir in einer Zeit der Mobilität und der modernen Kommunikationsmittel. Wir können viel mehr voneinander wissen. Wir können blinde Gefolgschaft durch Denken, Wissen und Vernunft ersetzen. Jeder sollte seine eigene Religion ordentlich kennen. Wir gehen davon aus, dass alle Religionen dasselbe Ziel haben. Sie sollen die Erde zu einem Ort des Friedens und der Freundschaft entwickeln. Wenn man diesem Gedanken folgt, wird der Kampf der Religionen unmöglich. Durch Dialog kann diese Entwicklung natürlich sehr beschleunigt werden. Mit Vertretern welcher Religion sprechen Sie leichter – mit Juden oder mit Christen? In seiner vierzehn Jahrhunderte langen Geschichte hat sich der Islam Menschen aus allen Religionen zugewandt, und ermöglichte ihnen das Leben in einem Klima der Beschaulichkeit und der Religionsfreiheit. In den islamischen Ländern, besonders in den Grenzen des Osmanischen Reiches bildeten Nicht-Muslime die Mehrheit der Bevölkerung. Gemäß der Volkszählung von 1907 bildeten im Osmanischen Reich die Nichtmuslime in der Hauptstadt Istanbul 47 % der gesamten Bevölkerung. Während unserer langen Geschichte konnten sich Angehörige aller Religionen und auch Atheisten in den islamischen Ländern problemlos aufhalten. Deshalb liegt es mir auch persönlich fern, einen Religionsangehörigen vor einem anderen zu bevorzugen. Ali (Gott sei zufrieden mit ihm) sagt: „Unter den Menschen sind Muslime unsere Brüder in der Religion. Andere sind unsere Brüder in der Menschheit”. Dieser Satz verbietet mir die Bevorzugung einer einzelnen Religion. Ich habe es im Übrigen kaum erlebt, dass andere Menschen ihre Arme geschlossen halten, wenn Sie anderen Ihre Arme öffnen. Der Mensch ist als ein würdevolles, gnädiges Geschöpf erschaffen worden. Solange er sich nicht der menschlichen Würde gänzlich entkleidet, kann die Großherzigkeit und Gnade in seiner Seele immer für die guten Beziehungen wirken. Seit dem 11. September 2001 muss der Islam ernsthaft einen Kampf gegen Vorurteile führen. Was wird benötigt, damit ein ausgewogenes Bild diese Vorurteile ersetzt? Politische Haltungen, ideologische Parteilichkeit und Auseinandersetzung um Interessen können Menschen manchmal zu großen Fehlern verleiten. Vorurteile können aus Unwissenheit entstehen – sie können aber auch aus politischen Motiven geschürt werden. Seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 leidet der Islam unter dem latenten Vorwurf des Terrorismus – und das, obwohl bereits der Begriff Islam Erlösung, Wohlfahrt und Frieden bedeutet! Es gibt zweifellos Menschen, die aus politischen Motiven die haltlose Behauptung, der Islam sei eine Terror-Religion, weiter anheizen. Dazu gehören auch jene, die andere Menschen, die nur dem Namen nach Muslime sind, zu Terrorakten anstacheln und sie für politische Zwecke benutzen. Der Abbau dieses unzutreffenden und verbreiteten Vorurteils fällt jedoch in erster Linie den Muslimen selbst zu. Die Muslime müssen den Islam unentwegt in seinem Kern und wirklichen Wesen veranschaulichen und darüber öffentlich sprechen. Sie müssen den Islam in seinem wirklichen Wesen vertreten und in ihrem Leben praktizieren. Wenn dies gelingt, wird die große Mehrheit der Menschen sagen: „Das ist also der richtige Islam. Die anderen, die den Boden vorbereiten und bewirken, dass der Islam und Terror nebeneinander erwähnt werden, begehen einen großen Fehler!” In allen Religion, Systemen und Ideologien finden wir Extremisten, die die Religion in ihr Gegenteil verkehren. Wenn die Muslime ihre Religion in ihrem Kern und Wesen sichtbar machen, vertreten und praktizieren, wird der Islam nicht aufgrund von Taten verurteilt werden, die in seinem Namen niemals geschehen dürfen. Was denken Sie über Osama bin Laden? Ich habe nach dem 11. September gesagt: „Einer der Menschen, die ich auf der Welt am meisten hasse, ist Bin Laden, weil er das helle Antlitz des Islam getrübt und es durch ein schmutziges Bild ersetzt hat. Er hat seine eigenen Begehren als die Stelle der islamischen gestellt und war ein Vorreiter der Barbarei. Wir verfluchen derartige Gedanken und Taten ” Ich würde heute sagen: Es geht nicht um Osama Bin Laden oder um eine andere Person. Gestern gab es Bin Laden, heute und morgen kann es andere geben. Jeder, der im Namen der Religion etwas Falsches macht und Anlass zum Missverständnis über den Islam gibt, stößt mich ab, wenn er das aus egoistischen Gründen absichtlich tut. Eine faule Frucht an einem Baum bedeutet nicht, dass es an diesem Baum nur faule Früchte gibt. Sie liefert jedoch denjenigen einen Vorwand, die nur die faulen Früchte an einem Baum sehen wollen. Stellen Sie sich einen gesegneten und bestandfesten Baum mit Milliarden von Früchten vor, der sich überall auf der Erde verzweigt hat. Dieser Baum gibt nicht nur neue Früchte, er bringt seit Jahrhunderten Früchte hervor. Unter diesen Früchten kann es immer faule Früchte gegeben. All diejenigen, die ihre wichtige Position dazu missbrauchen, an dem Baum sich und andere Früchte verfaulen zu lassen, werden zu Mördern von all den Milliarden guter Früchte an dem Baum. Immer wieder wird dem Islam ein latenter Hang zur Gewalt unterstellt. Wie steht der Islam zu Gewalt? Was sagen die Schriften des Propheten wirklich? Wo sind Dinge verbindlich, wo handelt es sich um historische Reminiszenzen? Der Islam bedeutet bereits seinem Namen nach die Hingabei zu Gott und den daraus resultierenden Frieden, Ruhe, Wohlfahrt und Erlösung. Sein Ziel besteht darin, dass nicht nur im Zusammenleben der Menschen, sondern in allen Formen des Lebens – den Tieren, Pflanzen, dem ganzen Ökosystem – ein Gleichgewicht, die Ordnung, Einheit, Ruhe und Frieden herrschen sollen. Der Zweck des Islam besteht darin, Barmherzigkeit für alle Wesen zu bringen. Barmherzigkeit ist die Quelle des Friedens, des Gleichgewichts, der Ruhe, der Einheit und der Harmonie. Im „Besmele”, der wesentlichsten Formel, die wir als Muslime vor jeder guten Tat als Eingangsformel rezitieren, stellt sich unser Schöpfer als der Barmherzige und der Gnädige vor. Sogar seine Bestrafung, ist seiner Barmherzigkeit und Gnade untergeordnet. Das bedeutet, dass der Islam in vollem Maße die Manifestation der Barmherzigkeit des Schöpfers ist. Diese Manifestation der Barmherzigkeit gilt nicht nur für die Menschen, sondern für die gesamte Schöpfung. Der Schöpfer hat das ganze Universum als eine Hilfeleistungs-Symphonie förmlich wie einen einzigen Organismus erschaffen. Nehmen Sie einen Apfel: Um einen Apfel zu bekommen, braucht man einen Apfelkern. Selbst die Arbeit aller Menschen kann diesen nicht hervorbringen. Man hat Bedarf nach der Keimfähigkeit und der Fähigkeit zum Apfel-Werden. Man hat Bedarf nach der lebendigen Erde, nach der Sonne mit ihrer Wärme und ihrem Licht. Man hat Bedarf nach der Erdkugel mit ihren Bewegungen um sich und der Sonne herum; nach Nächten, Tagen und Jahreszeiten, nach dem Wasser und Regen und nach einer makellosen Hilfeleistung aller Elemente im Rahmen bestimmter Maßstäbe. Für einen Apfel arbeitet quasi das ganze Universum zusammen! Für den Schöpfer, der das Universum und den Menschen in so einer Komposition als einzelne Organismen erschaffen hat, sind Hass und Feindseligkeit das Verabscheuungswürdigste überhaupt. Nichts ist so schlimm wie das Zerstören des Gleichgewichts, des Friedens, der Ordnung, Ruhe und Harmonie im Leben der Menschen und des Universums. Der Koran missbilligt und verbietet dieses Zerstören des Gleichgewichts, Friedens, der Ordnung, Ruhe und Harmonie in vielen Versen. Er bezeichnet das Blutvergießen und Zwietracht als die zwei Dinge, die dem Wesen des Menschen am meisten zuwiderlaufen. Der Koran geht sogar noch weiter: Er schreibt vor, dass wir einander für gute Taten helfen und verbietet ausdrücklich die gegenseitige Hilfeleistung für das Begehen von Sünden und Feindseligkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass der Islam der Gewalt den Weg bahnen würde: Der Prophet des Islams (Friede sei mit ihm) befehlt sogar einem Menschen, der einem anderen Menschen ein Messer zum Nutzen gibt: Er solle ihm das Messer mit dem Handgriff reichen und nicht mit der scharfen Seite. Wenn ein Tier geschächtet werden soll, so darf das Messer dem Tier nicht gezeigt werden, befiehlt unser Prophet. Er verbietet während einer Schlacht aus Rachegefühlen Körperteile wie Ohren, Nase, Hand, Arm abzuschneiden. Solch eine Religion liefert niemals Anlass zu Gewalt. Der Islam befiehlt, dass nicht nur das Ziel, sondern auch das Mittel zum Ziel absolut rechtmäßig sein muss. Diese Norm kann auch nicht durch einen historischen Kontext außer Kraft gesetzt werden. Der Islam befiehlt nicht, mit aller Gewalt und um jeden Preis als Sieger dazustehen. In jedem Schritt sollen wir Muslime uns so verhalten, dass die Gotteszufriedenheit der einzige Kurs ist, dem wir folgen. Daher kann zum Krieg nur dann als letzter Ausweg gegriffen werden, wenn zwischenstaatliche Problemen nicht durch diplomatische Beziehungen politisch gelöst werden können. Der Islam macht im Falle eines Krieges zur Bedingung, dass dieser unbedingt im Rahmen rechtlicher, moralischer und menschlicher Normen stattfinden muss. Glaube und Wissenschaft sind ebenfalls Konfliktfelder. Im Grunde muss jede Religion dieses Verhältnis neu definieren. Wie sieht die islamische Perspektive aus? Diese Frage ist von großer Bedeutung und stellt sich in der Tat für alle Religionen. Manche Forscher vertreten die Meinung, dass das Christentum im Westen das Priestertum und die Liebe zu sehr in den Vordergrund stellt und den Verstand und die Wissenschaft nicht auf gleichem Maß sieht. Dies führte dazu, dass die “Natur” mit der Zeit als ein Vorhang betrachtet wurde, der den Menschen von Gott und von der Gottesliebe trennt. Ich glaube, dass es eher um die Verurteilung der profanen Welt ging und nicht um die Verurteilung der ganzen Natur. Der Kampf zwischen der Kirche und dem progressiven Bürgertum entwickelte sich zu einem Kampf zwischen Religion und Wissenschaft, da das Bürgertum in diesem Kampf viel mehr die Naturwissenschaften, das heißt die positiven Wissenschaften und die von ihr entwickelten Technologien vereinnahmte. Durch den Dualismus von Descartes kam es zu einem Kompromiss, und die Bereiche von Religion und Wissenschaft wurden getrennt. Die Religion wurde als ein dogmatisches Gebäude gesehen, die nicht unbedingt eine rationale, logische und wissenschaftliche Dimension aufweisen muss. Diese Trennung von Religion und Wissenschaft wurde zu einem wichtigen Faktor bei der Entstehung und Verbreitung des Positivismus und Materialismus im Westen. Die Wissenschaft wurde vom Glauben und dem daraus resultierenden Verantwortungsgefühl und der Furcht vor dem Jenseits getrennt. Neben vielen Segnungen diente die Wissenschaft in den unersättlichen Händen des Menschen auch zur Erfindung der tödlichsten Waffen. Nach dem berühmten Ausdruck von Einstein wurde die Religion ohne Wissenschaft blind, und die Wissenschaft ohne Religion lahm. Es ist kein Zufall, dass die blutigsten, weltweiten Kriege der Menschheitsgeschichte im 20. Jahrhundert ausbrachen. Deshalb muss die Thematik auch unter diesem Aspekt betrachtet werden. Der Islam betrachtet die Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft anders. Unser Schöpfer hat uns drei Bücher gegeben: Den Koran als „offenbartes“ Buch, den Menschen und das Universum als „erschaffene“ Bücher. Das Buch der Religion und die beiden Bücher, der Mensch und das Universum, heben sich gegenseitig nicht auf. Sie widersprechen einander nicht, ganz im Gegenteil: Sie bedingen einander und erklären sich gegenseitig. Das Buch der Religion, das Universum und der Mensch sind der Ausdruck derselben Bedeutung. Sie interpretieren einander und helfen, dass sie verstanden werden. Sowohl das Universum, als auch der Mensch und das Buch der Religion sind drei Bücher, die uns vom Schöpfer berichten. Von dieser grundlegenden Tatsache ausgehend trennt der Islam das Wissen und den Glauben nicht voneinander und betrachtet sie nicht als widersprüchlich. Der Mensch, der nicht nur über einen physischen Körper, sondern auch über Verstand, Herz und Gefühl verfügt, sucht auf jeder Stufe des Lernens nach mehr Wissen und besserem Verständnis. Das ist der Grund, warum die Muslime in den ersten fünf Jahrhunderten ihrer Geschichte in allen Wissenschaftsbereichen eine glanzvolle Arbeit leisten konnten und diese Wissenschaften riesige Fortschritte machten. Vor allem die Naturwissenschaften, die den Kosmos und Mensch erforschten, wurden nach den Kreuzzügen nach Andalusien und Sizilien in den Westen gebracht und setzten ihre Entwicklung dort fort. In den Augen des Islam und der Muslime ist die Wissenschaft ein heiliges, religiöses Bestreben. Ein Koranausleger, Hadith-Wissenschaftler, islamischer Rechtswissenschaftler, Sufi konnte gleichzeitig ein Mathematiker, Chemiker, Mediziner und Astronom werden. Diese wurden niemals als widersprüchlich wahrgenommen, sondern als einander dienende, unterstützende und vervollständigende Gebiete. Diese Sichtweise kann heute im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Technologie sehr hilfreich sein. In der modernen Gesellschaft sind Toleranz und Emanzipation wichtige Werte. Sind diese mit dem Islam vereinbar? Der Koran spricht alle Menschen an. Er ist keineswegs diskriminierend und separierend, er will sich für alle Menschen öffnen. Der Islam sieht alle Menschen prinzipiell als die Angehörigen einer Familie, und er möchte, dass die Beziehungen zwischen den Familienangehörigen im Rahmen von Annehmlichkeit, Gefälligkeit und Güte verlaufen. Diese Verhaltensformen gelten nicht nur gegenüber Muslimen, sondern allen Menschen außer den kriegswilligen Angreifern. Der Islam verbietet den Zwang zum Glauben. Niemand darf zur Annahme des Glaubens gezwungen werden. Der Ton des Koran gegenüber den Christen, Juden und Sabäern, die er Besitzer von Offenbarungsschriften nennt, ist versöhnlich und tolerant. Alle sollen in „würdiger Weise auf Erden wandeln“, und die Anrede an alle soll „Frieden!“ lauten. Der Islam kann auf vierzehn Jahrhunderte des Pluralismus verweisen. Die 1963 durch die katholische Kirche begonnene Bewegung des Dialoges und der Toleranz gegenüber Juden und Muslimen war von Beginn an ein Bestandteil des täglichen Lebens im Islam. Die erste Tätigkeit des Propheten, als er nach Medina auswanderte, war es mit den dort lebenden Juden und Polytheisten, eine gemeinsame schriftliche Verfassung des friedlichen und brüderlichen Zusammenlebens zu formulieren. Die Beipiele der Toleranz, des Zusammenlebens und des Dialogs in vierzehn Jahrunderten islamische Geschichte würden Bände füllen. Eines sei besonders hervorgehoben: Vor dem Tod unseres Propheten kamen 60 Christen aus Nadschran nach Medina. Sie tauschten sich über Islam und Christentum mit dem Propheten aus. Schließlich fassen sie den Entschluss Christen bleiben zu wollen. In dieser Zeitspanne wird ihnen erlaubt, im Mescid-i Nebewi, der Prophetenmoschee schlafen und ihre christlichen Gottesdienste verrichten zu können. Zuletzt wird mit ihnen eine Vereinbarung getroffen. Die Vereinbarung mit dem im islamischen Raum lebenden Christen sah unter anderem das Recht auf eine umfassende, freie Religionsausübung vor. Als Sultan Mehmed der Eroberer 1453 Istanbul erobert hatte, erlaubte er die Einwanderung der Juden vom Balkan nach Istanbul. Er förderte sogar die Einwanderung der Juden aus den europäischen Ländern in das Osmanische Reich. Als ein Ergebnis dessen wanderten Juden aus vielen europäischen Ländern dorthin. Der Brief, den Rabbi Isaac Tzafarti als ein Jude unter den Eingewanderten an die Juden in Deutschland schrieb, ist von großer Bedeutung. Er zeigte, wie das Leben der Nicht-Muslime in muslimischen Ländern aussah und welche Rechte und Freiheiten der Islam ihnen zugesprochen hatte. Die Muslime erlaubten Angehörigen anderer Religion unter ihrer Verwaltung nicht nur die freie Religionsausübung, sondern sie fanden auch keinen Nachteil daran, wenn eine Moschee, Kirche oder Synagoge nebeneinander lag. Es ist sogar erlaubt, dass in demselben Gotteshaus in einem Bereich Muslime und in dem anderen Christen oder Juden beten. Was die Frage der Freiheiten anbetrifft: Bei der Betrachtung der Freiheit gibt es zwischen dem Islam und den modernen Systemen manche Unterschiede. Da ist zunächst die Freiheit des Einzelnen. Der Islam möchte den Menschen davor bewahren, in etliche vergängliche und zwecklose Begierden, Gewohnheiten oder Praktiken zu geraten, die ihm persönlich und anderen Menschen schaden. Er will auf keinen Fall, dass der Mensch zum Sklaven der Selbstsucht, seiner materiellen Wünsche und Triebe wird. Er fördert die seelische, spirituelle und moralische Größe und menschliche Tugenden. Zweitens bewertet der Islam alle Menschen gemäß der monotheistischen Überzeugung als Gottesdiener. Dem Islam nach ist jeder Mensch ein von Gott erschaffener Diener. Alle Menschen sind gleich.. Kein Mensch ist dem anderen überlegen und keiner darf über den anderen verfügen. Die Rechte und Freiheiten, die die Vereinten Nationen vor weniger als einem Jahrhundert als grundlegende Rechte und Freiheiten verkündet haben, sprach der Islam schon vor Jahrhunderten der ganzen Menschheit zu. Nach den Vorschriften des Islams sind folgende fünf Grundrechte und Freiheiten zu garantieren: Recht und Freiheit auf das Leben; Recht und Freiheit auf Meinung, Religion und Glaubensausübung; Recht und Freiheit auf privates Eigentum; Recht und Freiheit auf geistige und körperliche Gesundheit; Recht und Freiheit auf Eheschließung und Familiengründung. Der Islam sieht die schwersten Strafen für diejenigen vor, die diese grundlegenden Rechte und Freiheiten verletzen. Er bewertet zum Beispiel das ungerechte Töten eines Menschen wie das Töten aller Menschen, und das Retten vom Leben eines Menschen wie das Retten des Lebens aller Menschen. Die Bewegung, die sich auf Sie beruft, hat sich die Bildung auf die Fahnen geschrieben. Warum? Bildung und Erziehung sind die wichtigsten Dimensionen des menschlichen Lebens. Der Mensch erhebt sich durch lebenslanges Lernen zur wahren Menschlichkeit. Das Leben des Menschen ist wie eine Reise. Es gibt eine weltliche Phase, von der Geburt bis zum Tod. Danach gelangt die Seele ins Jenseits. Zu Beginn seiner Reise ist der Mensch in einem äußerst hilflosen und bedürftigen Zustand. Er kann ohne Hilfe nicht überleben. Dies unterscheidet ihn fundamental vom Tier. Das Tier hingegen kommt in einem Zustand zur Welt, in dem ihm beinahe alles beigebracht worden zu sein scheint. Bald nach der Geburt lernt das Tier in sehr kurzer Zeit die Gesetze des Lebens und gewöhnt sich an das Leben. Die Hauptaufgabe des Tieres besteht also nicht darin, durch Lernen Vollkommenheit und durch Kunstfertigkeit Fortschritt zu erreichen. Seine Aufgabe besteht darin, entsprechend seiner Anlagen zu handeln und dadurch seinem Schöpfer zu dienen. Der Mensch dagegen muss von Geburt an lernen. Er kennt die Gesetze des Lebens nicht. Er kann erst nach ein bis zwei Jahren aufstehen und laufen, frühestens nach fünfzehn Jahren lernt er, seine Nachteile und Interessen zu unterscheiden. Die Hauptaufgabe des Menschen besteht also darin, unter Beweis zu stellen, dass er die Fähigkeit dazu besitzt, ein Leben in höheren Welten zu führen. Er kann durch Bildung eine Richtung für seine Reise finden und Klarheit im Denken erlangen. So kann er seine Aufgabe als Gottesdiener erfüllen, das Geheimnis des Seins begreifen und sich zum wahren Menschheitshimmel erheben. Der Mensch ist außerdem ein Wesen mit einem freien Willen. Über den Willen zu verfügen bedeutet, dass der Mensch ständig zwei Alternativen hat. Er kann das Richtige oder das Falsche tun, er kann entscheiden, welchem von beiden er den Vorzug gibt. Sein Leben besteht aus der Gesamtheit solcher Entscheidungen. Aus diesem Grund ist die Entscheidung darüber, was falsch oder richtig ist, nicht nur die wichtigste Dimension des menschlichen Lebens, sondern das erste Mittel zu einem würdevollen und sinnvollen Leben. Die Fähigkeit der Unterscheidung kann nur mit präziser und perfekter Bildung ermöglicht werden. Bildung und Erziehung sind nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Gesellschaften von vitaler Bedeutung. Als Individuum ist der Mensch in dem Maße ein Mensch, in dem seine Gefühle gebildet sind. Der den Körper betreffende Teil der Erziehung kann vielleicht jeder erfassen. Entscheidend ist es jedoch die geistige, emotionale und seelische Erziehung zu verstehen und anzuwenden. Die Völker erhalten ihre Existenz mit neuen Generationen aufrecht. Jedes Volk, das seine Zukunft garantieren möchte, muss einen Teil seiner Möglichkeiten auch für Kinder und Jugendliche, die die erwachsenen Menschen von morgen sind, gebrauchen. Viel Energie wird für nutzlose Dinge verschwendet. Aber alles, was für die Erhebung der neuen Generationen zur wahren Menschheit ausgegeben wird, wird wie eine unerschöpfliche Einnahmequelle weiter existieren. Das wahre Leben ist für den Menschen nur mit Wissenschaft und Bildung möglich. Die Positionen und die Würde, die man durch Wissenschaft und Bildung erhält, sind höher und langlebiger als die Positionen, die durch andere Wege erreicht werden. Die nach Ihnen benannte Bewegung wird oft angefeindet. Man unterstellt ihr, dass sie eine versteckte Agenda hat; dass sie staatliche Organisationen unterwandert, um irgendwann den Gottesstaat auszurufen. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen? Verstehen Sie bitte meinen unziemlichen Ausdruck nicht falsch. Ich hatte nie den Anspruch, etwas besonderes zu sein. Um Ihrer Frage aber deutlich zu beantworten: Gibt es in der Geschichte irgendeinen Propheten, dem nicht etwas vorgeworfen wurde? Unzählige Propheten wurden ermordet, viele wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Einer der Gemeinsamkeiten aller Propheten war jedoch, dass sie für ihre religiösen Vermittlungen von den Menschen nichts erwarteten. Wenn sogar unschuldige Menschen wie die Propheten zu Unrecht beschuldigt, ja sogar getötet wurden, dann ist niemand vor unbegründeten Vorwürfen gefeit – selbst, wenn er alles nur zum Wohl der Menschen unternimmt. Außer den Propheten waren tausende Wissenschaftler und Heilige den schwersten Vorwürfen ausgesetzt. Viele wurden gar hingerichtet oder verbrannt, obwohl sie für das Wohl der Menschen gearbeitet hatten. Sie werden beschuldigt, wenn Ihre Tätigkeiten, auch wenn Sie gar keine weltbezogene Interesse haben, manche Menschen stören, die sich daran gewohnt haben, ihre Ideologien für ihre eigene Interessen zu benutzen. Sie werden irgendwelchen Vorwürfen ausgesetzt, wenn diese sich mit Intrigen und Komplotts in „staatliche Institutionen eingeschlichen“ haben – nicht zuletzt, weil alle von den anderen immer nur das Schlechteste annehmen. Ich habe eine religiöse Identität und habe in der Türkei lange Jahre als ein Staatsbeamter das Amt eines Imams und eines Predigers ausgeübt. Insofern müssen die Anschuldigungen gegen meine Person solche Anschuldigungen sein, die sie sich für die Tagespolitik am besten eignen. Ich bin seit 1958 mit meinen offiziellen Diensten, Artikeln, Predigten und Taten öffentlich tätig. Mit diesen Anschuldigungen, die Sie genannt haben, hat man gegen mich vor allem in Putschzeiten Klagen erhoben. Seit über 50 Jahren konnten jedoch keine Beweise vorgebracht werden, die diese Anschuldigungen rechtfertigen. Jede Anklage gegen mich endete mit Freispruch. Auch bei dem Verfahren, das in der Ära „28. Februar” gegen mich eröffnet wurde, bestätigte der Kassationshof einstimmig meinen Freispruch. Darüber hinaus wurde kein einziger von den Millionen von Menschen, die nach Behauptungen der „Bewegung” angehören sollen, irgendwo in der Welt wegen der genannten Anschuldigung verurteilt. Ist es nun nicht klar und deutlich, wie sinnwidrig Anschuldigungen solcher Art sind? Die Türkei befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Worin besteht der Beitrag, den die Bewegung in der Türkei spielen kann? Evolution ist ein wesentlicher Bestandteil des Daseins. Keine Gesellschaft kann an einem bestimmten Punkt stehen bleiben, vor allem in einer Zeit, in der die Kommunikations- und Verkehrsmittel weit entwickelt sind, die Informationstechnologie keine Grenzen kennt und der „Wandel“ zum faszinierendsten und wirkungsvollsten Begriff geworden ist. Auch die türkische Gesellschaft erlebt einen Wandel, und zwar seit ein paar Jahrhunderten. Wir sind eine Gesellschaft, die in Richtung der Verwestlichung geht. Wir haben es geschafft, nach der konstitutionellen Monarchie endlich zur Republik zu gelangen. Wir führten in der Zeit der Republik bestimmte Reformen durch und etablierten vor 61 Jahren durch die Einführung des Mehrparteiensystems die Demokratie. Diese ständig vorwärts laufende Bewegung unserer Gesellschaft wurde aber- und abermals blockiert, und zwar von denjenigen, die die Türkei zum Status quo verurteilen wollen. Sie haben Angst vor dem Wandel der Gesellschaft, was gleichzeitig einer der Gründe für die Anschuldigungen gegen meine Person ist. Die Gesellschaft wird jedoch ihre nach fortschrittliche Bewegung beibehalten. Nach 1980 gelangte die Türkei durch den Druck im In- und Ausland zur freien Marktwirtschaft. Durch die Entwicklung zur freiheitlichen Demokratie- und Rechtsstaatlichkeit in den vergangenen zehn Jahren kann heute auch von einem gewissen Fortschritt gesprochen werden. Ich muss offen gestehen, dass ich die Frage, welchen Anteil die „Bewegung”, die mir zugeschrieben wird, nicht beantworten kann. Diese „Bewegung” oder besser „freiwillige Gemeinschaftsarbeit“ gehört nämlich nicht zu einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft. Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft nehmen an dieser Gemeinschaftsarbeit teil. Daher ist es schwer abzuschätzen, welchen Beitrag sie zu diesem Wandel geleistet haben. Ihre Rolle mit Bildungs-, Toleranz-, und Dialogaktivitäten können vielleicht dazu gezählt werden, dazu braucht man allerdings vielleicht eine umfassende soziologische Forschung. Wird es in der Türkei immer die zwei Gräben zwischen Kemalisten und Muslimen geben – oder kann es da nicht einmal zu einem pragmatischen Nebeneinander, oder gar einer Versöhnung kommen? Diese Frage setzt voraus, dass unter den Kemalisten keine Muslime und unter den Muslimen keine Kemalisten zu finden sind und diese beiden Gesellschaftsteile absolut widersprüchlich sind. Ich sage das, nicht weil ich die Frage korrigieren möchte, sondern um den Kern des Problems, das Sie genannt haben, hervorzuheben. In der Türkei kann weder von zwei Gruppen gesprochen werden, die sich deutlich in Muslime und Kemalisten trennen, noch von einem unüberbrückbaren Abgrund zwischen diesen zwei Gruppen. Wir sind das Erbe einer „Imperiums-Gesellschaft”, geprägt von einem ineinander verschlungenen Mosaik. Wir lebten Jahrhunderte lang als ein Mosaik der Völker, Religionen und Sprachen mit Muslimen, Christen, Juden, Sunniten, Aleviten, Türken, Kurden, Tscherkessen, Griechen, Bulgaren, Bosniaken, Serben und Arabern. Die türkische Gesellschaft ist das Erbe dieses Mosaiks und weiß mit anderen Menschen, egal aus welcher Religion, Rasse oder Ethnizität, gemeinsam brüderlich zu leben. In der Türkei gibt es leider, zum Teil auch auf Grund ausländischer Einflüsse, sehr kleine aber einflussreiche Gruppen, die sich von diesem brüderlichen Miteinanderleben gestört fühlen, weil es ihren Interessen zuwiderläuft. Es gibt keine zwei voneinander gelösten Gruppen von Muslimen und Kemalisten. Ich hoffe persönlich, dass auch diese kleinen Gruppen, die ich gerade erwähnt habe, eines Tages die Tatsache erkennen werden, dass es zu ihrem Vorteil und in ihrem Interesse ist, sich in das Gesellschaftsmosaik der Türkei zu integrieren, deren Vielfalt einen Reichtum darstellt. Dies ist auch im Interesse der Welt, wenn man die Bedeutung der Türkei und unserer Region in der Welt in Betracht zieht. Werden Sie noch einmal in die Türkei zurückkehren? Natürlich sehne ich mich nach meiner wunderschönen Heimat. Heimweh ist etwas, was jeder einsame Mensch hat und diesen Schmerz kann nur das Wiedersehen stillen. Dazu kann ich nur sagen, dass ich ein freiwilliger Gefangener des Schicksals bin. Welche Botschaft haben Sie für die Muslime in Deutschland? Gott bewahre! Ich bin nicht in der Position, an andere Menschen Botschaften zu formulieren. Als ein Diener Gottes, der die Hoffnung hegt, Seine Zufriedenheit zu erlangen und an diesem Ziel den Dienst an Menschen als eine wichtige Dimension der Gottesverehrung betrachtet, kann ich jedoch folgendes sagen: Es ist die Aufgabe der Muslime in einer gloablisierten und einem großen Dorf gleichenden Welt, in der jeder zu jedem nachbarliche Beziehungen hat, gemäß den Nachbarschaftsprinzipien zu verhalten, die der Islam für wichtig hält. Es ist ihre Aufgabe und zu ihrem Vorteil, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass unser Prophet (Friede sei mit ihm) als ein Segen für alle Welten gesandt wurde. Deshalb muss sich jeder Muslim als ein Mensch des Segens verhalten. Er soll sich vor jedem Verhalten fern halten, das das unbefleckte und helle Antlitz des Islam verdunkeln kann. Welche Botschaft haben Sie für die Nicht-Muslime in Europa? Wie ich bei der vorherigen Frage aufgezeigt habe, finde ich es von großer Bedeutung, dass sich alle nach Prinzipien verhalten, die bei Muslimen und Nichtmuslimen Akzeptanz finden. Insofern ist es im Interesse der ganzen Welt und der Menschheit den Sinnspruch von Ali, der auch zuvor schon erwähnt wurde, den Ehrenplatz zu einzuräumen: „Die Menschen aus unserer Religion und Überzeugung sind unsere Brüder in der Religion. Andere sind unsere Brüder in der Menschheit.” Das Gespräch führten Süleyman Bag, Ercan Karakoyun und Michael Maier DTN, 10.06.2011 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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