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Ein Appell an die Vernunft

Integration, Kennenlernen, Verantwortung und Pressefreiheit vs. Rassismus, Islamfeindlichkeit, Extremismus und Medienbashing

Folgende Geschichte erzählte der verstorbene, ehemalige Integrationsbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, Dr. Klaus Lefringhausen, gerne auf Veranstaltungen: Eine türkische Familie zog in eine neue Wohnung ein, in direkter Nachbarschaft zu einer deutschen Familie. Die türkische Familie backte einen Kuchen und wartete darauf, dass die Nachbarn sie besuchen und sie willkommen heißen. So kannten sie es aus ihrer eigenen Tradition. Die deutsche Familie backte ebenfalls einen Kuchen, denn es ist bei ihnen üblich, dass die neuen Nachbarn vorbeikommen und sich vorstellen. Beide Familien blieben mit ihrem Kuchen allein.

Doch leider blieben sie nicht nur mit ihrem Kuchen alleine sondern öfters auch mit ihren Vorurteilen. Denn es sind solche kleinen Missverständnisse und das Unbekannte, die zu Verwirrungen und Vorurteilen führen. Beide Familien aus unserer Geschichte könnten nun solche Vorurteile entwickeln. Die türkische Familie könnte die deutsche Familie mit Diskriminierung und Ausgrenzung beschuldigen. Die deutsche Familie könnte davon ausgehen, dass die türkische Familie sich ausgrenzt und eine Parallelgesellschaft mitten in der Nachbarschaft formt. Hätten sie aber beide die Information, wie sich alte und neue Nachbarn in der jeweiligen Kultur verhalten, käme es nicht zu diesen Vorurteilen.

Unkenntnis führt also zu Unsicherheit, dies zu Distanz und letztendlich zu Angst. Daher ist es von großer Bedeutung, das Unbekannte zum Bekannten zu machen. Nur so kann ein friedliches Miteinander gewährleistet werden. Nur so kann Integration funktionieren. Integration ist aber kein Zustand und hat auch keinen Endpunkt. Es ist eher ein ständiger Prozess.

In diesem Prozess muss das Fremde und Fremdartige als etwas Negatives aus den Köpfen beseitigt werden. Das geht nur, wenn man sich kennenlernt. Hierzu sagte Ali, der vierte Khalif und Schwiegersohn des Propheten Muhammed: „Der Mensch mag das nicht, was er nicht kennt.“ Wenn man sich kennt, merkt man, wie gleich man eigentlich ist. Somit verschwindet das Fremde. Anstelle dieser kommt Freundschaft hervor.

Was dieses Kennenlernen ausmacht, kann man an Hand des folgenden Beispiels erkennen: Auf dem Schulhof kann man öfters folgenden Satz hören: „Alle Türken sind doof. Bis auf meinen Freund Ali, der ist anders. Der ist gut.“ Ali ist eigentlich ganz und gar nicht anders. Das Problem ist, dass Derjenige, der diesen Satz ausspricht, die anderen Türken gar nicht kennt oder sie aus verschiedenen Gründen nicht leiden kann. Und als Quelle dieser Gründe projiziert er deren Fehler auf deren Herkunft: Türke. Dadurch wird leider zu oft dichotomisiert in “wir“ und “sie“.

Auch hierfür ein Beispiel: Wenn Mehmet ein Tor für die deutsche Nationalmannschaft schießt, ist er der deutsche Fußballkönig. Wenn Ahmet eine Bank ausraubt, ist er der türkische Bandit. “Mehmet“ ist dann “wir“ und Ahmet ist dann “sie“, obwohl sie beide gleicher Herkunft sind. Das darf nicht sein. Das schadet der Integration und ist kontraproduktiv. Man darf Charakterschwäche nicht nach der Herkunft ausmachen. Es kann ja nicht am Geburtsort, an den Genen oder an der Ethnie liegen, dass ein Mensch gewalttätig wird, Autos aufschraubt oder Banken ausraubt.

Daher müssen wir differenzierter denken. Wir müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass keine Rasse, Ethnie, keine Volksgruppierung und keine Nation schlechter ist als eine andere. Nur so, also auf Augenhöhe, nützt es, miteinander ins Gespräch zu kommen. Andernfalls ist jeder Dialog nur eine Zeitverschwendung.

Und das Kennenlernen darf nicht nur künstlich auf bestimmten Veranstaltungen stattfinden. Sondern, das muss im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeitsplatz, im Supermarkt, im Kino gelebt werden. Nur so können Ängste tatsächlich abgebaut werden.

Wenn dieses Kennenlernen im Alltag ausbleibt, kann das friedliche Miteinander gestört werden. Wir haben dafür in der Geschichte zahlreiche Beispiele.

Ibn Haldun, der Begründer der Soziologie, sagte „Die Geschichte wiederholt sich.“ Ja, sie wiederholt sich, weil der Mensch nicht aus seinen Fehlern in der Vergangenheit lernt.

Heute in der Gegenwart haben wir es neben Salafisten auch mit rechtsradikalen Gruppierungen zutun, die mit verschiedenen Vorwänden u.a. gegen Flüchtlinge, Muslime und den Islam hetzen. Diese Gruppen gibt es gerade da, wo es verschwindend geringe Muslime oder generell geringe Ausländer gibt. Also da, wo es nicht zum Kennenlernen kommt.

Diese Gruppierungen sind der Meinung, dass sie das Volk sind. Nein, das sind sie mit Gewissheit nicht. Überall in Deutschland erhebt sich die Stimme der Mehrheit. Sie zeigt diesen Extremisten, wie das Volk wirklich denkt. Damit übernimmt die Mehrheit Verantwortung.

Nicht weniger schlimm, sind geistliche Brandstifter. Als Ende Juli 2014 eine bekannte Zeitung einen Hasskommentar gegenüber dem Islam allgemein abdruckte, habe ich noch am selben Tag geschrieben, dass diese Kommentare zu brennenden Moscheen führen und dass es nachher niemand gewesen sein will. 14 Tage später begann die Serie der Moscheebrandanschläge. Nach den ersten Bränden gab es viel Schweigen. Nach 7 Tagen schrieb ich, dass dieses Schweigen den Tätern die Motivation gibt, weiter zu machen. Nach nur 12 Stunden nach diesem Schreiben kam es zu einem weiteren Brand. Und dann ging es weiter…

Wegen der fehlenden differenzierten Betrachtung der globalen Ereignisse gab es alleine in einer Woche nach den Pariser Attentaten im Januar 2015 in Deutschland 47, in Frankreich über 50 registrierte Anschläge auf Moscheen.

Pressefreiheit oder Meinungsfreiheit sind Werte, auf die wir nicht verzichten können. Auch in Form von Satire, Humor oder anderer Kunst. Es sind Lebenselixiere der Demokratie. Sachliche, inhaltliche und kritische Aussagen sind völlig legitim, auch wenn sie gegen die eigene Meinung sind. Persönliche Beleidigungen, polemische Überspitzungen, persönliche Schmähungen, Verletzung der Würde jedoch, die darauf abzielen, andere Kulturen oder Gruppen zu schikanieren, und keine Kritiken oder Meinungen beinhalten oder die nicht einen Gegenstand sachlich betrachten, sind nicht konstruktiv, haben keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern führen nur zu Bloßstellungen und eben Auseinandersetzungen. Pressefreiheit gibt also niemandem das Recht, den Gegenüber herabzuwürdigen oder zu provozieren. Kritik sollte angemessen rübergebracht werden und vor allem sachlich bleiben.

 

  • 166 Stgb Abschnitt “Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ lautet: (1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
    (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

So führt auch, wie die Studien zeigen, die Bloßstellung des Islams zu Radikalisierungen und Ausgrenzungen. Differenzierte Islam- und Integrationsdebatten sind daher notwendig. Die Integrationsdebatten sind leider zu reinen Islamdebatten geworden. Die Islamophobie ist in manchen Gruppen zur Islamfeindlichkeit übergegangen. Durch die permanente negative Berichterstattung werden rechtsradikale Gruppen und Salafisten in ihren Meinungen bestätigt und sie legitimieren sich dadurch.

Zu den Medien sagte Malcolm X einmal „Wenn du nicht aufpasst, werden die Zeitungen dich dazu bringen, die Menschen zu hassen, die unterdrückt werden und jene zu lieben, die unterdrücken.“ In einem anderen Zitat sagte er: „Die Medien sind die mächtigste Einrichtung auf der Erde. Sie haben die Macht Unschuldige schuldig und Schuldige unschuldig zu machen – und das ist Macht, weil sie den Verstand der Masse kontrollieren.“ Es geht also auch um Konstruktionen. „Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!“ wie George Orwell so schön beschrieb.

Hier ist ganz klar die journalistische Ethik und Verantwortung gefragt. Denn von solchen Berichten bedienen sich sowohl die Rechtsradikalen („Wir sagten doch, dass Muslime böse sind!“) als auch Salafisten („Wir sagten doch, dass sie uns nicht wollen!“).

Selbstverständlich ist der Anteil der Journalisten, die die Pressefreiheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit der Journalisten missbrauchen, genauso gering wie der Anteil der Menschen, die die Religionen missbrauchen, instrumentalisieren und politisieren. Es geht hier also um Minderheiten.

Doch die Mehrheit schweigt nicht mehr. Wir wissen, dass Gewalt, Hass, Unterdrückung nur dann stattfinden kann, wenn die Mehrheit schweigt. Das Volk zeigt Gesicht, in dem es Rassisten und Extremisten die Grenzen zeigt. Auch der Presserat hat den besagten Hasskommentar der Zeitung gerügt.

Das ständige Rechtfertigen der Muslime für 0,001% der Muslime in einer anderen Ecke der Welt hat zu einem Witz unter den Muslimen geführt: „Na, hast du dich heute schon distanziert?“ Sich zu distanzieren ist nicht die 6. Säule des Islam.

Natürlich verurteilen auch Muslime jegliche Art von Gewalt, Hass, Terrorismus und Extremismus aus dem religiösen Milieu. Natürlich verurteilen auch Muslime jegliche Handlungen, die das Miteinander in der Gesellschaft zerstören. Und auch Muslime versuchen Radikalisierungen und dem Salafismus entgegenzuwirken. Jeder, der den Koran liest und sich nach dem Leben des Propheten Muhammed orientiert, wird all dies verurteilen. Wir glauben nicht an Gewalt. Diese stehen im völligen Gegensatz zum Frieden, der in unserem Glauben eine so zentrale Rolle spielt.

Terroristen haben keine Definitionshoheit über den Islam, sondern die 99,99% der Muslime weltweit, die solche brutalen Banden verabscheuen. Muslime sind keine Terroristen und Terroristen sind keine Muslime. Sie sind schlicht und einfach Terroristen. Wenn diese meinen, im Namen des Islams zu handeln, haben sie die Lehren des Islams verzerrt. Sie haben den Islam nicht verstanden, denn Gott unterstützt keine Mörder. Diese Mörder fügen nicht nur den Opfern ihrer Handlungen Leid zu, sondern auch allen Gläubigen, denn sie vermitteln ein falsches Verständnis unseres Glaubens. Nur weil jemand sagt, dass er im Namen des Islams handelt, heißt es nicht, dass das auch wirklich so ist. Daher müssen wir uns die Taten anschauen, nicht das, was gesagt wird.

Es gibt keinen theologischen Unterbau für Terror oder Gewalt im Islam, nicht im Koran, nicht im Leben des Propheten. Vielmehr haben wir es mit ehemaligen Kriminellen zu tun, die jetzt durch die zerbrochene und fehlende Struktur in vielen Ländern des Nahen Ostens vermeintlich Theologen spielen, in dem sie die Theologie politisch und ideologisch eindeutig missbrauchen um Macht und Herrschaft zu erlangen. Wir Muslime dürfen das nicht zu lassen.

Die Taten dieser Mörder dürfen nicht dazu führen, 2 Milliarden Muslime weltweit oder 5 Millionen Muslime hier in Deutschland unter Generalverdacht zu stellen. Sonst geben wir sowohl diesen Terroristen als auch den Rassisten einen Spielraum.

Wir Muslime sind deutsche Muslime. Wir möchten, dass dies auch so wahrgenommen wird. Viele von uns werden auch hier begraben werden. Der Islam ist nicht an eine Ethnie gebunden. Es gibt Muslime aus allen Ländern, Kulturen, Hautfarben der Welt. Und wir Muslime setzen uns ein für Einigkeit, Recht und Freiheit. Wie der Islamgelehrte Said Nursi schon sagte: „Wir sind die Vertreter der Liebe. Für Hass haben wir keine Zeit.“

Cemil Şahinöz

Islamische Zeitung, Februar 2015

http://www.islamische-zeitung.de/iz3.cgi?id=18752

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