Adem Geschrieben 22. Juni 2005 Teilen Geschrieben 22. Juni 2005 Ismail Kul / FRANKFURT Interview mit Prof. Herwig Birg aus der Uni-Bielefeld 'Gegen Geburtenmangel gibt es kein Rezept mit Garantie' Als eines der grundlegenden langfristigen Probleme der modernen deutschen Gesellschaft gilt der Kindermangel bzw. die niedrige Geburtenquote. Damit zusammenhängend zeichnen sich mittel- und langfristig Probleme ab, die die Renten- und Krankenversicherung vor sehr grosse Probleme stellen werden. Aber die Veränderungen werden sich nicht nur auf diese Bereiche beschränken. Man geht davon aus, das sich das Bild der gesammten Gesellschaft verändern wird. Diese werden mit weitreichenden Problemen für die nachfolgenden Generationen verbunden sein. Es stellt sich die Frage, wie weit der Umfang dieser Entwicklung reicht, womit sie zusammenhängt und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Wir haben eines der führenden deutschen Bevölkerungswissenschaftler von der Universität Bielefeld, Prof. Herwig Birg, über diese Problematik befragt. - Es ist die Rede von sinkenden Geburtenraten. Wie sieht die Situation aus? - Alle entwickelten Länder haben eine niedrigere Geburtenrate als es sein muss, wenn man die Bevölkerung konstant halten möchte. Das Bestandserhaltungsniveau ist ungefähr 2.1 Kinder, und wir haben nur 1.3 bis 1.4 Kinder pro Frau in Deutschland. Die Türkei übrigens hat ungefähr 2.5 Kinder pro Frau. Die Quote ist in Spanien und Italien noch niedriger als in Deutschland. In Nordspanien und Norditalien beträgt die Quote 1.1 pro Frau. In den früheren Ländern des Ostblocks ist die Quote noch niedriger als in Deutschland. Aber Deutschland ist immer noch in der Spitzengruppe. Und Deutschland ist auch das erste Land der Welt, das jedes Jahr mehr Sterbefälle hat als Geburten. Das ist hier so seit 1972. Alle 200 der Länder der Welt sind auf dem Weg zu niedrigeren Geburtenraten, aber wir sind diesem internationalen Trend vorangegangen. Auch die Türkei hat ihn mitgemacht. Die Welt als ganzes hat jetzt 2.7 Kinder je Frau, 2040 werden es 2.1 sein. - Woran liegt das? - Die Menschen in Deutschland, die gar keine Kinder haben, bilden inzwischen ein Drittel an einem Geburtsjahrgang. Das ist auch ein Weltrekord. Die Frauen, die eine akademische Ausbildung haben, bleiben zu 40% ohne Kinder. Es ist ein internationaler Trend und beruht darauf: Wenn heute eine Frau auf Erwerbstätigkeit verzichtet, dann entgeht ihr ein hohes Lebenseinkommen. Wenn sie 25.000 Euro pro Jahr verdienen könnte, und wenn sie drei Kinder hätte, dafür 20 Jahre ihres Lebens nicht erwerbstätig wäre, dann sind das 500.000 Euro, die ihr entgehen. Und je höher die Löhne sind, desto mehr entgeht ihr an möglichem Einkommen, wenn sie zu Hause bliebe. Deshalb kann man sagen, je höher die Löhne sind, desto teurer sind die Kinder nach diesem Massstab. Kinder kosten zwar auch Geld, das kommt dazu. Aber das Entscheidende ist, dass Kinder das Einkommen stark reduzieren. Deshalb gibt es die folgende Regel: Je höher die Einkommen steigen, desto niedriger die Geburtenrate. Es ist eine Regel, die weltweit gilt. - Ist das im Prinzip ein ökonomisches Problem? - Es ist ein Dilemma. Um es zu beseitigen, muss man den Entscheidungszwang aufheben, entweder zu arbeiten oder Familie zu haben. In Deutschland gibt es diesen Zwang, weil es relativ wenig Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Man müsste wie in Frankreich Kinderbetreuunsmöglichkeiten anbieten möglichst schon ab dem Vorschulalter, also ab dem dritten Lebensjahr. Dann könnten die Frauen beides vereinbaren, könnten dann erwerbstätig sein, Geld verdienen und Kinder haben. Frauen müssen Familie und Beruf vereinbaren können. Das ist eine notwendige Bedingung. Aber ob diese Bedingung ausreicht ist fraglich geworden. Es gibt keine Garantie, dass die Menschen Kinder haben, denn sie haben sich an eine Gesellschaft gewöhnt, in der Kinder selten sind. Viele wollen gar keine Kinder mehr. Und dann nützt die beste Familienpolitik nichts, auch nicht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Also man muss erst in den Köpfen was verändern, dass der Wunsch nach Kindern wieder entsteht, und dann die realen Möglichkeiten von Familienarbeit und Erwerbsarbeit schaffen. Aber zuerst muss, durch Kulturpolitik, sage ich mal, die Bereitschaft zu Kindern entstehen. Er ist sehr selten geworden. Ismail Kul / FRANKFURT Zaman Zeitung 02.03.2005 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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