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Muslimisches Denken bei Franz Kafka. Ein Versuch zum 100. Todesjahr

Franz Kafka war einer der bedeutendsten Vertreter der deutschsprachigen Literatur. Er wurde am 3. Juli 1883 in Prag, damals Österreich-Ungarn, geboren und starb vor 100 Jahren am 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich.

In Kafkas Werken gibt es keine endgültigen Deutungen. Daher gilt die Interpretation seiner Texte und Erzählungen als sehr schwierig. Selbst für Kafka waren seine eigenen Werke sehr kopfzerbrechend und emotionsraubend, so dass seine letzte Bitte an seinen Freund und Verleger Max Brod war: „Alles restlos und ausnahmslos verbrennen“. Max Brod tat dies nicht, so dass wir seit 100 Jahren nur spekulieren können, was Kafka mit seinen Erzählungen und Figuren gemeint haben könnte.

Kafka und Islam

Auch in der persischen Literatur spielen die Werke Kafkas eine zentrale Rolle. Viele persische Autoren waren von Kafka inspiriert. So wird z.B. Sadegh Hedayat des Öfteren als der “persische Kafka“ bezeichnet.

Soweit bekannt, gibt es jedoch keine direkten Aussagen oder Schriften von Kafka, die sich explizit mit dem Islam oder Muslimen befassen. In seinen Tagebüchern, Briefen oder anderen persönlichen Aufzeichnungen finden sich keine Hinweise auf ein tiefes Studium oder eine Beschäftigung mit dem Islam.

Kafkas Überlegungen waren durch seine eigenen Erfahrungen und seinen eigenen Standpunkt geprägt. Daher kann man seine Werke nicht als direkte Interpretation oder Darstellung eines muslimischen Denkens verstehen.

Dennoch lassen sich in seinem Werk einige interessante Parallelen und Bezüge zum islamischen Denken erkennen. Diese können sowohl auf seine jüdischen Wurzeln als auch auf das multikulturelle Umfeld Prags zurückgeführt werden.

Franz Kafka lebte in einer Zeit des Umbruchs und der Widersprüche. Das multikulturelle Umfeld Prags, geprägt von deutschen, tschechischen und jüdischen Einflüssen, hinterließ tiefe Spuren in seinen Werken. Daher bieten seine Werke unterschiedliche Perspektiven und beleuchten die Komplexität und Vielschichtigkeit seines Schaffens. Dabei war sein Denken nicht frei von Widersprüchen.

So sind seine Schriften eine wertvolle Möglichkeit, über die Beziehung zwischen Religion, Literatur und menschlicher Erfahrung nachzudenken. Seine Werke zeigen, wie universelle menschliche Themen wie Entfremdung, Suche nach Sinn und Gerechtigkeit in verschiedenen Kulturen und Religionen aufgegriffen und interpretiert werden können.

Entfremdung

Ein zentrales Thema in Kafkas Werken ist die Entfremdung des Individuums von sich selbst, von anderen und von der Welt. Immer wieder findet man in seinen Werken Charaktere, die mit sich selbst ringen und deren Gefühle und Emotionen hin- und herschwanken zwischen Identitätskrisen und Entfremdung. Kafkas Protagonisten, wie z.B. Josef K. in “Der Prozess“ oder Gregor Samsa in “Die Verwandlung“, sind in bürokratischen Machenschaften gefangen und suchen vergeblich nach Sinn und Gerechtigkeit.

Diese Entfremdung findet sich auch im muslimischen Denken wieder. Der Mensch, der seinen niederen Gelüsten und hedonistischen Wünschen folgt (siehe auch Goethes “Faust"), nur für das Diesseits lebt und seine eigene Bedeutung in der Schöpfung nicht versteht, entfremdet sich von seinem wahren Sinn und Zweck. Der Koran lenkt den Menschen wiederum zurück zu seinem tieferen Ich und gibt ihm und seinem Handeln einen Sinn.

Suche nach dem Sinn des Lebens

Kafkas Protagonisten werden sehr oft autobiografisch dargestellt. Dabei sind sie oft auf der Suche nach dem Sinn des Lebens in einer scheinbar absurden Welt.

In dem Werk “Das Urteil“ wird Josef K. zum Tode verurteilt, ohne ein klares Verständnis der Gründe zu haben. Diese Erzählung zeigt als Parabel die Fragilität des Lebens und die Unvorhersehbarkeit des Schicksals.

In der Erzählung “Der Verschollene“ macht sich Karl Roßmann auf eine Reise, um seinen Platz in der Welt zu finden. Diese Reise ist wie eine Metapher für die spirituelle Suche des Menschen nach Sinn und Erfüllung.

Diese Suche ist auch im Islam ein zentrales Thema. Die Suche nach Sinn und Zweck, nach dem Absoluten spiegelt sich im islamischen Konzept der “Tawhid“ wieder, der Einheit Gottes, die als Ziel allen menschlichen Strebens angesehen wird. Erst das Erkennen der Einheit Gottes und seiner Weisheit, gibt dem Individuum einen klaren Sinn und Zweck.

Ohnmacht gegenüber höheren Mächten und Freiheit

Kafkas Figuren sind oft ohnmächtig gegenüber höheren Mächten, die ihr Leben bestimmen. Immer schwebt in seinen Werken das Gefühl des Ausgeliefertseins. Seine Darstellung dieser Ohnmacht zeigt jedoch auch die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung, die im Islam durch die Hingabe zu Gott und die Suche nach innerer Spiritualität angestrebt wird.

Der Muslim erreicht seine völlige Unabhängigkeit von dieser Welt und dem Materiellem, in dem er sich nur dem Schöpfer hingibt. Dadurch erlangt er einen inneren Frieden, selbst wenn äußere weltliche Umstände ihm Kummer bereiten sollten. In dem er sich nur dem Schöpfer hingibt, erreicht der Mensch eine tatsächliche Freiheit und befreit sich dadurch von der Last dieser Welt.

Schuld und Sühne

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So lautet der erste Satz von “Der Prozess“.

Das Thema Schuld und Sühne spielt nicht nur bei Dostojewski, sondern auch in Kafkas Werken eine wichtige Rolle. In Romanen wie “Das Schloss“ und “Der Prozess“ wird der Protagonist mit unerklärlichen Schuldzuweisungen konfrontiert, gegen die er sich vergeblich zu verteidigen versucht.

Diese Erfahrung der ungerechten Schuldzuweisung spiegelt sich im islamischen Konzept z.B. beim Propheten Josef, der ebenfalls zu Unrecht beschuldigt wurde und im Gefängnis landete. Muslimische Gelehrte nennen das Gefängnis daher öfters als “Schule des Propheten Josef“, wenn jemand unschuldig darin verweilen muss. Diese Schule lehrt die Person dann vieles: Dankbarkeit, Wertschätzung, Achtsamkeit, Vergebung, Reue und führt zu einem spirituellen Reifungsprozess.

Dass die Figur (Josef K.) von Kafka genauso heißt, wie der Prophet Josef, könnte sowohl willkürlich sein, als auch eine Anspielung auf den Propheten, der nicht nur im Islam, sondern auch im Judentum und Christentum eine wichtige Rolle spielt.

Zudem spielt die Identifikation mit solchen Rollen wie Josef K. eine entscheidende Rolle, warum Kafkas Werke so gut angenommen werden. Jeder hat sich schon einmal wie Josef K. gefühlt, der beschuldigt wurde, ohne etwas getan zu haben.

Allegorien und Parabeln

Kafkas Werke sind reich an Allegorien und Parabeln, die universelle menschliche Themen aufgreifen. Diese Erzählform findet sich auch im Koran und in der islamischen Literatur wieder.

In der Erzählung “Ein Hungerkünstler“ kann man eine Parabel auf die asketische Praxis des Sufismus sehen, einer mystischen Strömung des Islams, die auf Selbstentäußerung und spirituelle Reinigung abzielt.

Die Erzählung “In der Strafkolonie“ ist wie eine Allegorie auf die Unverhältnismäßigkeit von Strafe und Schuld. Ein Thema, wie schon beschrieben, welches auch im islamischen Recht eine wichtige Rolle spielt.

Mystische Erfahrungen

Kafkas Protagonisten machen oft mystische Erfahrungen, die sie an die Grenzen ihrer Wahrnehmung und ihres Verstandes stoßen lassen. Diese Erfahrungen finden sich auch in der islamischen Mystik, die auf der Einheit des Menschen mit Gott (Tawhid) beruht.

In der Erzählung “Das Schloss“ hat K. immer wieder träumerische Visionen des Schlosses, das er erreichen will. Diese Visionen sind ein Ausdruck seines Verlangens nach spiritueller Erleuchtung.

In “Der Prozess“ wird Josef K. von seltsamen Gestalten und rätselhaften Botschaften heimgesucht, die ihn auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis begleiten. Diese Erfahrungen ähneln den mystischen Erfahrungen islamischer Sufis.

Kritik an Autoritäten

Kafkas Werke üben oft Kritik an Autoritäten und Machtstrukturen. Diese Kritik findet sich auch im Islam, der ein System der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit anstrebt.

In “Der Prozess“ wird Josef K. von einer undurchdringlichen Bürokratie verfolgt, die ihn willkürlich beschuldigt und verurteilt. Diese Darstellung ist eine Kritik an autoritären Regimen und unfairen Rechtssystemen.

In dem Werk “Das Schloss“ kämpft K. vergeblich darum, mit den Autoritäten des Dorfes in Kontakt zu treten. Auch dies ist eine Kritik an soziale Hierarchien und der Entfremdung des Einzelnen von der Gemeinschaft.

Fazit

Kafkas Werke sind vielschichtig und lassen sich auf vielfältige Weise interpretieren. Die hier vorgestellten Ansätze bieten jedoch einen neuen Zugang zu Kafkas Literatur und zeigen die Relevanz seiner Schriften für ein interreligiöses und interkulturelles Verständnis.

Seine Werke lassen sich nicht auf eine bestimmte Religion oder Ideologie reduzieren. Dennoch lassen sich in seinen Schriften Parallelen zum muslimischen Denken erkennen. Kafkas Themen der Entfremdung, der Suche nach dem Absoluten, der Ohnmacht gegenüber höheren Mächten und der Schuld und Sühne finden sich auch in der islamischen Tradition wieder. Diese Verbindungen werfen ein neues Licht auf Kafkas Werk und zeigen die Relevanz seiner Literatur für ein breites Publikum.

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juni 2024
https://islamische-zeitung.de/ein-versuch-ueber-kafka/

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