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Künstliche Intelligenz und Fatwa-Erstellung – Chancen und Gefahren

 

Seit jeher stellen sich Menschen religiöse Fragen, die ihren Alltag betreffen. Ob es um moralische Dilemmata geht, politische Entscheidungen oder neue Technologien, der Bedarf an Orientierung im Licht des Glaubens ist geblieben. In der islamischen Welt war es über Jahrhunderte Aufgabe der Gelehrten, für diese Fragen religiöse Antworten zu finden. Diese Antworten nennt man Fatwas.

 

Früher saßen diese Gelehrten in Moscheen oder Medresen, kannten die Überlieferungen auswendig, berieten sich, diskutierten und spürten die Verantwortung für das, was sie sagten. Heute passiert etwas Neues. Immer mehr Muslime geben ihre Fragen online ein und erhalten eine Antwort in Sekunden. Nicht selten stammt diese Antwort aus einer Datenbank, generiert von künstlicher Intelligenz.

 

Vom Rechtsgelehrten zum Algorithmus

 

Früher reichte ein Mensch eine Frage persönlich ein, oft mit einem langen Gespräch verbunden. Der Mufti hörte zu, stellte Gegenfragen, betrachtete die Lage der Person und entschied dann, was mit dem Koran, den Hadithen und den Usul al-Fiqh in Einklang stand. Jeder Fall wurde einzeln betrachtet, weil keine zwei Menschen genau gleich sind. Mit der Zeit wurden Fatwas dokumentiert, gesammelt, kommentiert und in Sammlungen weitergereicht. Die klassische Fatwa war daher nie nur ein Text, sie war Beziehung, Zuhören, Abwägen und Verantwortung.

 

Im 20. Jahrhundert entstanden neue Formen. Bücher, Radiosendungen, Fernsehformate, später Websites. Die Fatwa wurde massentauglich. Sie verlor ein Stück ihrer persönlichen Tiefe, gewann aber Reichweite. Mit dem Einzug der Digitalisierung veränderte sich auch der Rhythmus der religiösen Antwort. Immer mehr Menschen wollten sofortige Antworten. Und plötzlich kam KI ins Spiel.

 

Die Maschine antwortet

 

Heute können Programme anhand von Millionen religiösen Texten Fragen beantworten. Ein Benutzer fragt, ob ein bestimmtes Lebensmittel halal ist oder wie er mit einem Erbstreit umgehen soll. Die Maschine durchsucht ihre Daten, gleicht Aussagen miteinander ab, erkennt Muster, spuckt eine Antwort aus. Viele Nutzer merken kaum noch, dass diese Antwort nicht von einem Menschen stammt. Sie sehen eine präzise formulierte Fatwa, logisch, ordentlich und schnell. Genau das, was man erwartet.

 

Doch hier beginnt das eigentliche Problem. Fatwas sind kein technischer Output. Sie leben vom Herzen, vom Zuhören, von Erfahrung, von einem tiefen Verständnis der Lebensrealität. Eine KI weiß nicht, ob jemand verzweifelt ist oder nur neugierig fragt. Sie kennt keine Kultur, keine Dialekte, keine Zwischentöne. Sie gibt Antworten, aber sie trägt keine Verantwortung. Genau hier liegt die große Gefahr.

 

Noch mehr Halluzinationen und erfundene Quellen

 

Ein weiteres Problem zeigt sich in der Qualität der Daten, mit denen moderne KI-Systeme trainiert werden. Je neuer die Version, desto mehr schöpft sie aus einem Internet, das inzwischen überfüllt ist mit halluzinierten KI-Texten. Diese maschinell erzeugten Inhalte wirken oft überzeugend, sind aber inhaltlich falsch, ungenau oder erfunden. Wenn KI-Modelle wiederum mit solchen fehlerhaften Texten weitertrainiert werden, entsteht ein Kreislauf der Desinformation.

 

Im Bereich der Fatwa-Erstellung führt das zu einer besonders heiklen Lage. Denn dort geht es nicht nur um Information, sondern um religiöse Verantwortung. Es häufen sich Fälle, in denen KI Fatwas generiert, die auf Quellen verweisen, die es gar nicht gibt. Sie nennt Bücher, Autoren, Hadithe oder Gelehrtenmeinungen, die nie existiert haben. Für Laien ist das kaum erkennbar. Die Autorität des Textes wirkt überzeugend, doch der Inhalt ist ein Trugbild. Das gefährdet nicht nur das Vertrauen in religiöse Urteile, sondern auch das religiöse Leben der Menschen selbst.

 

Was KI nicht leisten kann

 

Eine Fatwa ist also nicht nur ein Text. Sie ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Fragendem und Antwortendem. Sie lebt von Empathie, von Fingerspitzengefühl, von einem inneren Maßstab, der nicht messbar ist. Kein Programm der Welt kann erkennen, wie die Stimmung im Raum ist oder ob jemand zwischen den Zeilen um Hilfe bittet. Auch kann keine KI sagen, wann Schweigen besser ist als Reden.

 

Zudem droht die Gefahr der Vereinheitlichung. Künstliche Intelligenz arbeitet mit Mustern. Was oft vorkommt, wird bevorzugt. Seltene Meinungen verschwinden. So verliert die Vielfalt islamischer Gelehrsamkeit ihre Stimme. Minderheitenmeinungen, die in bestimmten Kontexten sinnvoll und nötig wären, geraten unter die Räder eines Systems, das auf Durchschnittlichkeit trainiert ist. Das Ergebnis: Fatwas werden glatt, stromlinienförmig, ohne Tiefe.

 

Chancen gibt es auch

 

Natürlich bietet KI auch Möglichkeiten. Sie kann helfen, Informationen schneller zugänglich zu machen. Sie kann Gelehrten bei der Recherche helfen, Texte vergleichen, historische Urteile einordnen. In Regionen ohne Zugang zu Muftis kann sie erste Orientierung bieten. Doch sie darf niemals an die Stelle des Gelehrten treten. Wer sich allein auf Programme verlässt, wird bald aufhören zu fragen. Er bekommt keine Rückfragen mehr, keine Kritik, keine Sorge. Nur Antworten. Und das ist gefährlich.

 

Die Zukunft braucht Maß und Grenzen

 

Für Muslime bedeutet diese Entwicklung eine Herausforderung. Es geht darum, Technik nicht zu verteufeln, aber auch nicht blind zu vertrauen. Fatwas müssen menschlich bleiben. Sie brauchen Zeit, Raum, Nähe. Es reicht nicht, dass eine Antwort korrekt ist. Sie muss auch passen. Nicht zur Theorie, sondern zum Menschen. Und das kann keine Maschine leisten.

 

Die islamische Welt steht an einem Wendepunkt. Zwischen Tradition und Technik, zwischen Nähe und Algorithmus. Wer den Islam bewahren will, muss verstehen, dass religiöses Wissen nicht nur in Büchern steht. Es lebt in Gesichtern, in Gesprächen, in Erfahrungen. Und in einer Verantwortung, die kein Programm tragen kann.

 

Die Frage ist also nicht, ob KI Fatwas erstellen kann, sondern ob sie darf. Und wer das entscheidet.

 

 

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2025

 

https://islamische-zeitung.de/ki-und-fatwas-chancen-und-gefahren/ 

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