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Theodizeeproblem – Warum lässt Gott Ungerechtigkeit zu

 

Vorweg eine kurze, bekannte Erzählung, welches die Thematik gut wiedergibt:

Ein Friseur schnitt einmal einem Mann die Haare und der Friseur sagte: „Ich glaube nicht an die Existenz von Gott.“

Der Muslim fragte: „Warum nicht?“

Der Friseur antwortete: „Es gibt so viel Elend und Chaos auf der Welt. Wenn es Gott gäbe, würde es dieses Chaos nicht geben.“

Der Muslim sagte: „Ich glaube auch nicht an Friseure...“

Der Friseur fragte verwirrt: „Wie meinen Sie das?“

Der Muslim sagte zum Friseur: „Siehst du die Männer draußen mit den langen Haaren?“

Der Friseur sagte: „Ja.“

Der Muslim sagte: „Wenn es Friseure gäbe, gäbe es keine Menschen mit langen und unordentlichen Haaren.“

Der Friseur antwortete: „Es gibt uns, aber die Leute kommen nicht zu uns!“

Daraufhin sagte der Muslim: „Eben. Gott existiert auch, aber die Menschen wenden sich nicht an Gott, um Führung zu erhalten. Deshalb gibt es so viele Probleme auf der Welt.“

 

Begriff und Bedeutung

 

Das Theodizeeproblem beschäftigt sich mit der Frage, wie das Vorhandensein von Leid und Bösem in einer Welt mit einem allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott zu vereinbaren ist. Dabei hat die Fragestellung seine Wurzeln im Christentum, wo ein anderes Gottesverständnis als im Islam herrscht (vgl. Şahinöz, 2018, S. 157ff). Während der Islam Gottes Weisheit und Allmacht als untrennbar betrachtet und das Leid als Teil eines größeren göttlichen Plans sieht, stellt das Christentum nur die Güte Gottes in den Mittelpunkt. Dies führte dazu, dass die Frage, warum ein allmächtiger und allgütiger Gott Leid zulässt, im Christentum zu einem zentralen Problem wurde.

 

Der Begriff “Theodizee“ selbst wurde im 18. Jahrhundert von dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz geprägt, doch die Diskussion darüber reicht bis zu den Kirchenvätern wie Augustinus und Irenäus im 2. und 4. Jahrhundert zurück. Leibniz versuchte, das Problem philosophisch zu lösen, indem er argumentierte, dass diese Welt die bestmögliche aller möglichen Welten sei. Trotz vieler möglichen Interpretationen blieb diese Fragestellung Jahrhundertelang im Gedächtnis der christlichen Theologie.

 

Said Nursi, ein bedeutender islamischer Denker des 20. Jahrhunderts, widmet sich in seinen Werken ausführlich diesem philosophisch-theologischen Dilemma. Er beleuchtet die Weisheit hinter der Schöpfung von Gut und Böse sowie den Sinn von Prüfungen und Leiden im Leben. Nursis Herangehensweise an das Theodizeeproblem basiert auf einem tiefen Verständnis von Gottes Weisheit und der menschlichen Verantwortung.

 

Die Vertreibung Adams aus dem Paradies

 

Nursi behandelt die Frage nach dem Sinn der Vertreibung Adams aus dem Paradies mit einer bemerkenswerten philosophischen Tiefe. Er argumentiert, dass Adams Vertreibung nicht als Bestrafung zu verstehen sei, sondern als notwendiger Schritt zur Erfüllung seiner göttlichen Aufgabe.

 

Adam wurde aus dem Paradies auf die Erde gesandt, damit sich der Geist des Menschen entwickeln und seine Begabungen entfalten können. Wäre Adam im Paradies geblieben, hätte er lediglich den Status eines Engels beibehalten, ohne die Möglichkeit, spirituell zu wachsen oder höhere Stufen der Vollkommenheit zu erreichen. Nursi erklärt: „Adam wurde mit einer Aufgabe betraut und dazu gesandt, dass der Geist des Menschen sich vollkommen entwickle, der Same aller menschlichen Begabung sich öffne und entfalte und das Wesen des Menschen zu einem Spiegel werde, in dem sich alle Namen Gottes sammeln“ (Nursi, k.A., S. 69).

 

Damit betont Nursi, dass das irdische Leben eine Prüfung ist, die es dem Menschen ermöglicht, seine Fähigkeiten zu entfalten und seine spirituelle Reise zu vervollkommnen. Durch das Erleben von Leid und Prüfungen kann der Mensch spirituell wachsen und eine höhere Stufe der Vollkommenheit erreichen.

 

Die Rolle des Teufels und des Bösen

 

Eine zentrale Frage des Theodizeeproblems betrifft die Existenz des Teufels und des Bösen. Nursi stellt klar, dass nicht die Erschaffung des Bösen an sich böse ist, sondern dessen Missbrauch durch den Menschen. Er erklärt: „Nicht die Erschaffung des Bösen ist böse, vielmehr das Böse zu tun ist böse“ (Nursi, k.A., S. 70).

 

Demnach kann ein Messer sowohl zum Brotstreichen als auch zum Töten eines Menschen verwendet werden. Die Erschaffung des Messers ist an sich nicht böse; es kommt darauf an, wie der Mensch es nutzt. Ebenso verhält es sich mit allem im Leben – es liegt in der Verantwortung des Menschen, seine Fähigkeiten und Mittel zum Guten oder zum Bösen einzusetzen.

 

Nursi verwendet hierzu das Beispiel des Regens, um zu zeigen, dass nichts an sich schlecht ist. Regen ist ein Segen für die Erde, da er das Wachstum von Pflanzen fördert und Leben spendet. Wird der Mensch jedoch nass, weil er z.B. vergessen hat, einen Regenschirm mitzunehmen, liegt das nicht am Regen, sondern an seiner eigenen Unachtsamkeit. Der Regen bleibt ein Segen – die negative Erfahrung entsteht durch die menschliche Nachlässigkeit. Dieses Beispiel verdeutlicht Nursis Sichtweise, dass das Schlechte nicht im Ereignis selbst liegt, sondern in der Art und Weise, wie der Mensch damit umgeht.

 

Nursi illustriert dies auch mit dem Beispiel des Feuers. Feuer ist an sich weder gut noch böse. Es kann sowohl zum Kochen als auch zur Zerstörung verwendet werden. Das moralische Urteil hängt davon ab, wie der Mensch es nutzt. Ebenso dient die Schöpfung des Teufels einem höheren Zweck: Sie stellt den Menschen auf die Probe und ermöglicht es ihm, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Dadurch kann der Mensch spirituell wachsen und seine Willensfreiheit unter Beweis stellen.

 

Die Existenz des Teufels und des Bösen ist notwendig, um einen Ort der Prüfung zu schaffen, der es dem Menschen ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln, sich zu bemühen und sich zu bewähren. Ohne diese Prüfungen und Herausforderungen bliebe der Mensch in seiner spirituellen Entwicklung auf einer statischen Stufe stehen, ähnlich wie die Engel, deren Rangordnung festgelegt ist und die keiner Prüfung unterworfen sind. Nursi schreibt: „Da die Engel nicht von den Teufeln gequält werden, gibt es für sie auch keine Fortentwicklung. Ihre Stellung ist festgelegt und unterliegt keinem Wandel“ (Nursi, k.A., S. 71).

 

Das Geheimnis von Prüfung und Verantwortung

 

Nursi betont die Bedeutung von Prüfungen und Verantwortung im Leben des Menschen. Er argumentiert, dass das Leben eine ständige Herausforderung und eine Prüfung des Glaubens darstellt. Diese Prüfungen ermöglichen es dem Menschen, seine geistigen Fähigkeiten zu entfalten und spirituell zu wachsen. Nursi erklärt: „Wenn dieses Bemühen und der Wetteifer nicht wären, würden die (verschiedenen) Begabungen des menschlichen Geistes, die den Diamanten und der Kohle gleichen, beieinander bleiben“ (Nursi, k.A., S. 71).

 

Durch die Konfrontation mit Herausforderungen und Prüfungen kann der Mensch seine geistigen Potenziale entdecken und sich von einer niederen zu einer höheren Stufe entwickeln. Das Leben ist somit eine Arena, in der der Mensch seine moralische und spirituelle Integrität unter Beweis stellen kann.

 

Die Weisheit hinter Unglück und Katastrophen

 

Nursi begegnet der Frage nach dem Sinn von Unglück und Katastrophen mit einer tiefen metaphysischen Perspektive. Er betont, dass alle Ereignisse im Universum einen Sinn und Zweck haben, auch wenn dieser für den Menschen oft nicht unmittelbar erkennbar ist. Er schreibt: „Sein (Gottes) ist das Reich. Er verfügt über Sein Eigentum so wie er will“ (Nursi, k.A., S. 73).

 

Für Nursi ist das Leben keine statische Erfahrung, sondern eine dynamische Reise, die durch Prüfungen, Veränderungen und Herausforderungen geprägt ist. Diese Erfahrungen ermöglichen es dem Menschen, die göttlichen Namen und Attribute zu erkennen und zu verstehen. In dieser Hinsicht betrachtet Nursi das Leid nicht als sinnlose Qual, sondern als Möglichkeit zur spirituellen Reifung und zur Annäherung an Gott.

 

Er vergleicht das Leben mit einem kunstvoll gestalteten Gewand (Nursi, k.A., S. 73ff), das vom Schöpfer nach seinem Willen zugeschnitten und geformt wird, um seine Kunstfertigkeit zu zeigen. Der Mensch hat kein Recht, sich über diese Veränderungen zu beklagen.

 

Fazit

 

Said Nursi bietet eine tiefgründige und ganzheitliche Antwort auf das Theodizeeproblem, indem er die Existenz von Bösem und Leid als notwendigen Bestandteil der menschlichen Prüfung und spirituellen Entwicklung betrachtet. Er argumentiert, dass das Böse nicht an sich böse ist, sondern nur durch den Missbrauch der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu etwas Negativem wird. Prüfungen und Herausforderungen sind Mittel, durch die der Mensch seine spirituellen Fähigkeiten entfalten und höhere Stufen der Vollkommenheit erreichen kann.

 

Nursis Herangehensweise an das Theodizeeproblem zeigt eine tiefe metaphysische Einsicht in die Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfung und Prüfung. Sein Verständnis von Leid, Bösem und Prüfungen als Mittel zur spirituellen Reifung bietet eine inspirierende Perspektive für Gläubige, die nach Sinn und Zweck in den Herausforderungen des Lebens suchen.

 

 

Dr, Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2025

 

 

Literatur

 

·         Nursi S.: Briefe. VFJH: Köln, k.A.

·         Şahinöz C.: Wer bist du? Die Reise des Menschen. 12. Auflage. Astec: Bochum, 2018

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