Webmaster Geschrieben vor 14 Stunden Teilen Geschrieben vor 14 Stunden Seelsorge ist eine Menschenwürde Ein soziologisch und religionspsychologisch fundierter Beitrag Inmitten einer Gesellschaft, die sich zunehmend an Effizienz, Funktionalität und Selbstoptimierung orientiert, gerät etwas zutiefst Menschliches immer mehr in Vergessenheit: die Seelsorge. Nicht im institutionellen oder dogmatisch reduzierten Sinne, sondern als existenzieller Akt der Zuwendung zu einer Seele, die nicht mehr weiterweiß. Seelsorge ist keine Zusatzleistung oder kein spirituelles “Wellnessprogramm“, sondern ein Ausdruck von Menschenwürde und vielleicht eine der letzten Bastionen gegen die völlige Technisierung und Entseelung des Daseins. Die Soziologie der inneren Not Die moderne Gesellschaft scheint immer mehr ihre Rituale zu verlieren. Das zeigt sich nicht nur in der Entleerung von Gotteshäusern oder in der Vereinzelung des Individuums, sondern vor allem in den diffusen Formen des Leids, das sich heute äußert. Depressionen, Sinnkrisen, Burnout oder der Verlust von Selbstverortung, sie alle sind Symptome eines tieferliegenden soziologischen Problems, nämlich der Zersplitterung der Lebenswelten. Der französische Soziologe Émile Durkheim sprach bereits im 19. Jahrhundert von “Anomie“ (Durkheim, 1983), einem Zustand der Normlosigkeit, in dem das Individuum den Halt verliert, weil die gesellschaftlichen Werte nicht mehr orientierend wirken. Diese Diagnose hat heute nichts an Aktualität verloren. Doch während Durkheim noch auf kollektive Institutionen wie Religion oder Familie hoffte, die stabilisierend wirken könnten, erleben wir heute ihren fortschreitenden Zerfall. In dieser Leere bleibt das Individuum zurück, fragmentiert, überfordert, überinformiert und doch innerlich leer. Die Soziologie hat dabei lange einen Bogen um das gemacht, was sie selbst kaum fassen konnte: das spirituell existenzielle Bedürfnis des Menschen. Dabei wäre genau das ihre Aufgabe. Die Gesellschaft nicht nur als Funktionseinheit, sondern als Beziehungsgewebe zu begreifen, in dem auch das Unsichtbare seinen Platz hat und dazu gehört auch die Seele. Die Psychologie der Religion und die Wunde der Entwurzelung Die religionspsychologische Perspektive ermöglicht einen tieferen Blick auf jene innere Wunde, die viele Menschen heute mit sich tragen. Der Mensch ist nicht nur ein denkendes und handelndes Wesen, sondern auch ein deutendes. Und dort, wo Sinn fehlt, beginnt die Seele zu bluten. In der Sinnsuche ist nicht nur eine psychologische Frage (Frankl, 1946), sondern auch eine existentielle. Menschen, die im Leiden keinen Sinn finden, zerbrechen daran. Die Seele verdurstet nicht nur an fehlender Zuwendung, sondern vor allem an fehlender Deutung, denn der Mensch ist auf Sinn hin geschaffen. Wenn jedoch alle Antworten fehlen, wenn Philosophie spekuliert und Psychologie nur Verhalten regulieren will, dann entsteht ein leerer Raum, in dem das Ich nicht mehr antwortfähig ist. Seelsorge ist genau in diesem Moment notwendig. Nicht als Moralisierung oder als therapeutische Optimierung, sondern als ehrliche, mitfühlende und hörende Begleitung. Der Seelsorger ist weder Arzt noch Guru, sondern ein Mensch, der den Mut hat, beim anderen stehenzubleiben. Der den Schmerz nicht analysiert, sondern aushält. Der nicht fragt: „Wie kann ich dich reparieren?“, sondern: „Wie kann ich bei dir sein?“ Der Verlust der Transzendenz Dabei ist ein zentrales Problem unserer Zeit der Verlust der Transzendenz. Die Vorstellung, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Selbst, ist in der postmodernen Kultur verdächtig geworden. Die Ich-Zentrierung, verkleidet als Selbstverwirklichung, hat die Fähigkeit zur Hingabe untergraben. Dabei ist es gerade das Gefühl, Teil eines größeren Zusammenhangs zu sein, das dem Menschen Trost, Halt und Hoffnung gibt. Seelsorge, verstanden im religionspsychologischen Sinne, ist daher mehr als Zuwendung, sie ist ein Ort der Transzendenzöffnung. Wer in der Not begleitet wird, spürt durch das Gegenüber nicht nur Trost, sondern manchmal auch das stille Wirken einer größeren Wirklichkeit. In diesem Sinne ist Seelsorge nicht einfach nur Beziehung. Es ist bemerkenswert, dass fast alle Religionen der Welt, vor allem das Judentum, das Christentum und der Islam, Formen der Seelsorge kennen. Diese Vielfalt zeigt, dass Seelsorge keine konfessionelle Praxis ist, sondern ein anthropologisches Grundbedürfnis. Seelsorge als Widerstand gegen die Entmenschlichung Die Gesellschaft der Zukunft wird sich daran messen lassen müssen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht, nicht nur materiell, sondern auch seelisch. Seelsorge ist hier kein Luxus, sondern ein Menschenrecht. Wer einem anderen zuhört, ohne ihn zu bewerten, wer sich an seine Seite stellt, ohne ihn zu benutzen, wer seine Tränen nicht mit Ratschlägen erstickt, sondern mit Schweigen begleitet, der handelt im tiefsten Sinne menschenwürdig. In einer Zeit, in der Maschinen Gefühle simulieren, Menschen nach Algorithmen funktionieren sollen und das Soziale in Netzwerken zu Likes verkommt, ist echte Seelsorge ein Akt der Rebellion. Sie verweigert sich der Logik des Nutzens und bleibt der Logik der Würde verpflichtet. Der Mensch ist daher kein Problem, das gelöst werden muss. Er ist ein Geheimnis, das begleitet werden darf. Seelsorge erkennt das an. Sie glaubt nicht, dass alles wieder gut wird. Aber sie glaubt, dass niemand allein gehen muss. Fazit Seelsorge ist eine Haltung, eine Form von Ethik, die nicht in Lehrbüchern steht, sondern in der Begegnung lebendig wird. Sie ist auch kein Privileg der Gläubigen, sondern ein Grundrecht jedes Menschen, gläubig oder nicht. Wer in der Tiefe seiner Not wahrgenommen, begleitet und gehalten wird, erfährt etwas, was keine App und kein Algorithmus je leisten können: die Erfahrung, dass seine Würde unantastbar ist. Genau darin liegt das Besondere der Seelsorge und ihre unersetzliche Bedeutung für unsere Zeit. Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, November 2025 Literatur Durkheim E: Der Selbstmord. Suhrkamp: Berlin, 1983 Frankl V.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Deuticke: Wien, 1946 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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