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Bioethik im Islam – Antworten auf ethische Grenzfragen der modernen Medizin, wie Gentechnik, Organspende und Lebensverlängerung

 

Wenn über Bioethik gesprochen wird, ist der Islam für viele kein naheliegender Gesprächspartner. Doch wer sich mit seinen Quellen, seiner Denkweise und seiner Geschichte befasst, entdeckt eine tief verwurzelte ethische Tradition, die sich mit erstaunlicher Klarheit und Tiefe auch auf moderne Fragen übertragen lässt.

 

Der Koran und die Sunna, also die Worte und Taten des Propheten Muhammed, liefern keinen fertigen Maßnahmenkatalog. Sie eröffnen aber einen ethischen Raum, in dem sich aktuelle medizinische Herausforderungen auf spirituell durchdachte Weise verhandeln lassen. Die islamische Bioethik wächst nicht aus einem Labor, sondern aus der Frage, was es heißt, Mensch zu sein.

 

Ein ethischer Rahmen, gewachsen aus Text und Geschichte

 

Schon im 8. Jahrhundert begannen islamische Gelehrte, sich mit Fragen medizinischer Eingriffe auseinanderzusetzen. Sie sammelten antikes Wissen, kommentierten es, verbesserten es und stellten es in einen ethischen Rahmen. In dieser Zeit entstanden erste medizinische Werke, die nicht nur Techniken beschrieben, sondern auch deren moralische Tragweite behandelten. Der Mensch wurde nie als reines Objekt der Forschung betrachtet. Sein Körper galt als anvertrautes Gut. Diese Sichtweise zieht sich durch Jahrhunderte muslimischer Wissenschaftsgeschichte.

 

Mit dem Aufkommen moderner Medizin verschoben sich die Fragen. Doch die Prinzipien blieben. Die Achtung vor dem Leben. Die Vorstellung, dass Heilung erlaubt ist, aber nicht um jeden Preis. Und das ständige Bemühen, neue Mittel an alten Maßstäben zu messen.

 

Gentechnik – zwischen Hoffnung und Grenzüberschreitung

 

In der islamischen Ethik ist der Mensch kein Schöpfer. Er ist Verwalter, nicht Eigentümer. Diese Sicht wirft bei genetischen Eingriffen heikle Fragen auf. Wenn ein Fehler im Erbgut das Leben zerstört, kann man dann eingreifen? Die meisten Gelehrten sagen ja, wenn es der Heilung dient. Eine medizinische Therapie, die einem Kind das Leben rettet, ist kein Eingriff in Gottes Schöpfung, sondern ein Akt der Fürsorge. Aber sobald das Ziel eine vermeintliche “Optimierung“ ist, etwa zur Verbesserung des Aussehens, wird die Sache heikel.

 

Viele islamische Ethiker ziehen hier eine rote Linie. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch erlaubt. Der Mensch darf nicht zur Ware werden. Wer Gene bearbeitet, muss wissen, wo seine Verantwortung beginnt und wo sie aufhört. Und vor allem, dass sie nicht dort endet, wo der Eingriff technisch gelingt.

 

Organspende – das Geschenk des Lebens

 

Im Koran steht, dass wer ein Leben rettet, die ganze Menschheit gerettet hat: „Wer es (menschliches Wesen) am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält“ (Koran, 5:32). Diese Aussage bildet den Kern vieler Fatwas, also islamischer Rechtsgutachten, die sich mit Organspenden befassen.

 

In den letzten Jahrzehnten haben viele islamisch-geprägte Länder gesetzliche Regelungen eingeführt, die Organtransplantationen unter bestimmten Bedingungen erlauben. Die Spende darf freiwillig sein. Sie darf kein Geschäft sein. Und sie darf niemanden zum Schaden bringen.

 

Der Tod wird dabei meist durch den Hirntod definiert. Bei unwiederkehrbarem Herz- und Atemstillstand, bei Ausfall der Hirnfunktionen gilt man als verstorben. Das führt in manchen Gemeinschaften zu Unsicherheiten, weil viele Menschen den Moment des Todes anders empfinden. Hier zeigen sich Spannungen zwischen moderner Medizin und traditionellen Vorstellungen. Trotzdem wächst die Bereitschaft zur Spende. Auch weil die Vorstellung stark ist, dass der Mensch durch seinen Tod anderen das Leben schenken kann. Nicht als Verlust, sondern als letzte gute Tat.

 

Lebensverlängerung – wo endet das Erlaubte?

 

Im Islam ist das Leben heilig. Aber es ist nicht absolut. Passive Sterbehilfe, also die Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen, wenn dies medizinisch keinen Sinn mehr macht, ist möglich. Auch hier gilt: Das Leben gehört nicht dem Arzt, nicht dem Patienten und nicht dem Staat. Es ist anvertraut. Und diese Verantwortung bedeutet auch, den natürlichen Tod zu respektieren.

 

Gleichzeitig ist es verboten, das Leben absichtlich zu beenden. Aktive Sterbehilfe, Euthanasie wird von islamischen Gelehrten abgelehnt. Auch assistierter Suizid gilt als unvereinbar mit dem Glauben. Der Tod soll nicht provoziert werden, aber er darf eintreten, wenn der Körper seine Kraft verliert. Hier liegt eine tiefe Weisheit: Der Mensch darf loslassen, wenn die Zeit gekommen ist.

 

Einzelfall entscheidet

 

In solchen komplexen Fragen gibt es keine Schablonen. Jeder Fall bringt eigene Umstände, Gefühle und Grenzen mit sich. Der Islam erkennt das an. Statt starrer Regeln entwickelt er Entscheidungsprozesse. Gelehrte, Ärzte, Betroffene und Familien beraten gemeinsam. Sie schauen, was medizinisch möglich, ethisch vertretbar und spirituell tragbar ist.

 

Dabei orientieren sie sich an Grundprinzipien wie dem Schutz des Lebens, der Absicht hinter der Handlung und dem Maß des Zumutbaren. Es geht nicht darum, alles gleich zu entscheiden, sondern gerecht. Der Islam hat über Jahrhunderte Strukturen geschaffen, die genau das ermöglichen. Fatwas, also individuelle Rechtsgutachten, sind ein Ausdruck dieser Haltung. Sie entstehen aus Abwägung, Beratung und Verantwortung, nicht aus Automatismus.

 

Zwischen Wissenschaft und Gewissen

 

Die islamische Bioethik bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits akzeptiert sie medizinischen Fortschritt. Andererseits bleibt sie wachsam gegenüber seinen Schattenseiten. Sie stellt Fragen, wo andere nur Möglichkeiten sehen. Sie prüft, wo andere handeln. Und sie erkennt, dass nicht jede Antwort in einem Labor gefunden werden kann.

 

Wer den Islam als Gesprächspartner in bioethischen Debatten ernst nimmt, findet keine einfachen Lösungen, aber eine klare Haltung. Eine, die sich nicht versteckt, aber auch nicht aufdrängt. Eine, die den Menschen sieht, mit all seiner Zerbrechlichkeit. Und eine, die an das Leben glaubt, nicht als Besitz, sondern als Vertrauen.

 

 

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Dezember 2025
 

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