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Deutung eines Verses der Hikam von Ibn Ata’illah - Von Schaikh Nuh Ha Mim Keller, Amman

 

 

Unendlichkeit ist die Heimat, aus der Allah die Seele gebracht und dann wieder durch die Zunge Seines Gesandten - Allah segne ihn und gebe ihm Heil - aus ihrer Verbannung hergerufen hat.

 

Die traditionelle islamische Spiritualität beschäftigt sich mit der Antwort auf diesen Aufruf und hebt das Herz aus der Enge des Ich in die Unbegrenztheit des Wissens und der Liebe zum Göttlichen.

 

Die Leute haben viel über die innere Dimension des Islam, den Sufismus, gesprochen und geschrieben, als welcher dieser Wissenszweig bekannt ist, aber um ihn in seinem eigenen Kontext zu verstehen, habe ich daran gedacht, damit anzufangen, die Weisheitssprüche, das klassische Handbuch der geistlichen Entwicklung, Al-Hikam Al-’Ata’ijja oder „Buch der Weisheiten“, des ägyptischen Meisters Ibn ‘Ata’i-Llah zusammen mit etwas Kommentar zu übersetzen.

 

Er - Allah habe Wohlgefallen an ihm - schreibt für diejenigen, die eine Tariqa oder einen wirklichen Pfad und Scheich haben, obgleich seine Worte auch für andere interessant sein können. Er sagt:

1. Ein Kennzeichen davon, dass man noch auf eigene Werke vertraut, ist, dass sich bei einem Fehltritt die Hoffnung vermindert.1

 

Das Buch beginnt mit diesem grundlegenden Weisheitsspruch, weil es zum Adab oder „richtigen Weg“ des Reisenden auf dem spirituellen Pfad gehört, sich auf den Tauhid oder die „Göttliche Einheit“ zu konzentrieren, was in diesem Zusammenhang bedeutet, sich auf Allah zu verlassen, nicht auf Werke, da doch „Allah euch und das, was ihr tut, erschaffen hat“ (As-Saffat, 96). Die Methode des geistigen Aufstiegs ist dreifach und besteht aus Wissen (‘ilm), Handeln (‘amal) und dem sich daraus ergebenden Zustand (hal), der von Allah gewährt wird.

 

Wissen bedeutet hier alles, was uns durch den Propheten - Allah segne ihn und gebe ihm Heil - übermittelt worden ist, was der Inhalt des Göttlichen Gesetzes oder der Schari’a ist. Die Anwendung dieses Wissens, innerlich und äußerlich, mit Herz und Gliedern, ist der geistliche Pfad oder die Tariqa. Der sich daraus ergebende Zustand, dass Allah dem Herzen nahekommt und dieses daraufhin Ihm nahekommt, ist das Heraufziehen der Göttlichen Gegenwart über der Seele, was von den Sufis als „letzte Wahrheit“ oder Haqiqa bezeichnet wird.

 

Ibn ‘Ata’i-Llah, als geistiger Führer, beschäftigt sich in diesem Werk mit dem zweiten Moment dieses Aufstiegs, demjenigen von Weg und Werken, und daher beginnt er sein Buch damit, dass er den Reisenden wissen lässt, dass die Angelegenheit seines geistigen Fortschritts allein in Allahs Hand liegt. Entmutigung bei den unvermeidlichen Fehlern, die man auf dem Pfad macht, ist ein Zeichen, dass man sich mehr auf seine Taten verlässt als auf Allah.

 

Werke, gleich ob Gebet, Dhikr oder „Gedenken“ Allahs, Dschihad oder Fasten bringen einen nicht zum erstrebten Ende des Pfades, sondern sind lediglich geeignete Verhaltensweisen vor der Majestät des Göttlichen, während man sich auf dem Pfad befindet. Genau, wie wenn man sein Netz ins Meer auswirft, dies noch keine Fische herausholt, muss man es doch dort lassen, sodass, wenn Allah Fische kommen lنsst, sie gefangen werden können; ebenso sind Werke ein Netz, und ihre geistigen Erträge kommen von Allah. Abu Huraira - Allah habe Wohlgefallen an ihm - hِrte den Propheten - Allah segne ihn und gebe ihm Heil - sagen: „Niemand von euch wird durch seine Werke gerettet werden.“ Jemand fragte: „Und auch du selbst nicht, o Allahs Gesandter?“, worauf dieser erwiderte: „Nicht einmal ich selbst, außer wenn Allah mich mit Barmherzigkeit von Sich bedeckt. Aber bemüht euch, das Rechte zu tun und zu sagen.“2

 

Imam An-Nawawi kommentiert: „Der äußerliche Sinn dieser Hadithe [Anmerkung: Muslim überliefert mehrere] bekräftigt den Standpunkt der islamischen Orthodoxie, dass niemand für seine Gehorsamstaten eine Belohnung oder das Paradies verdient. Was Allahs, des Allerhöchsten, Worte ‘Geht in den (Paradies)garten ein für das, was ihr zu tun pflegtet’ (An-Nahl, 32) und ‘Siehe, das ist der (Paradies)garten. Er ist euch zum Erbe gegeben worden für das, was ihr zu tun pflegtet’ (Al-A’raf, 43) und ähnliche Verse betrifft, die darauf hinweisen, dass man durch tugendhafte Werke ins Paradies eingeht, so widersprechen sie nicht diesen Hadithen. Vielmehr ist die Bedeutung dieser Verse, dass man wegen der Werke ins Paradies eingeht, obgleich göttlich gewährter Erfolg (taufiq) dabei, diese Werke zu vollbringen, und rechtgeleitet zu sein, um dabei aufrichtig zu sein, sowie ihre Annahme eine Barmherzigkeit Allahs, des Allerhöchsten, und Seine Gunst sind.“3

 

Der wahre geistige Pfad ist einer der Dankbarkeit. Abu Sulaiman Ad-Darani pflegte zu sagen: „Wie kann ein vernünftiger Mensch auf seine Werke stolz sein, wenn seine Werke nur ein Geschenk von Allah sind und ein Segen von Ihm, für die er Ihm zu danken hat?“4 Und Abu Madyan sagt: „Die Niedergeschlagenheit des Sünders ist besser als das Frohlocken des Gehorsamen.“5

 

Ibn ‘Ata’i-Llah setzt in seinem Weisheitsspruch den Reisenden davon in Kenntnis, sich nicht vor dem wahren Pfad durch seinen eigenen hohen Vorsatz zu verhüllen. Während irada oder „Wollen“ durch den Weg vorausgesetzt, das Wort murid oder „Schüler“ tatsächlich davon abgeleitet ist, sublimiert es der Pfad schließlich durch den Tauhid in sein Gegenteil, wobei er aufzeigt, dass es eine bloße Ursache ist, verbunden mit dem Aufstieg der Seele nicht aus logischer Notwendigkeit heraus, sondern aus Allahs reiner Freigiebigkeit. Aus diesem Grund bezeichnen einige Gelehrte einen Reisenden von dem erstgenannten geistlichen Ausgangspunkt aus als einen Murid oder „Wollenden“, und einen von letzterem aus als einen Faqir oder „Bedürftigen“. Der Prophet Musa - Heil und Segen seien auf ihm - sagte, als er in das Land Midian gelangte: „Mein Herr, ich bin dessen bedürftig, was Du auch immer an Gutem zu mir herabsendest.“ (Al-Qasas, 24).

 

Diese bescheidene Aufrichtigkeit gehorsamer Knechtschaft, oder wir könnten sagen, Realismus, befähigt den ernsthaften spirituellen Reisenden, sowohl von seinem Guten als auch von seinem Bösen Nutzen zu ziehen. Er hat Nutzen von seinem Guten, indem er es als nicht von sich selbst kommend sieht, da Abu Bakr Al-Wasiti sagt: „Was Allahs Abscheu am nächsten steht, ist es, das Ich und dessen Handlungen anzuschauen“6, das heißt, weil es dem Tauhid widerspricht, da Allah sagt: „Was ihr an Gunst erfahrt, ist von Allah.“ (An-Nahl, 53).

 

Und er hat Nutzen von seinem Bösen durch seinen Glauben (iman), dass es böse ist, was an sich selbst eine Handlung des Gehorsams ist, und dadurch, es zu bereuen, was Allah, den Allerhöchsten, erfreut. Anas ibn Malik - Allah habe Wohlgefallen an ihm - überliefert vom Propheten - Allah segne ihn und gebe ihm Heil - die folgenden Worte: „Allah freut sich wahrlich mehr über die Reue Seines Dieners, wenn dieser sich zu Ihm zurückwendet, als jemand von euch auf seinem Reitkamel in einer wasserlosen Wüste, wenn dieses ihm mit seinem Nahrungs- und Wasservorrat davon läuft und er alle Hoffnung verloren hat, es wiederzufinden, dann zu einem Baum kommt, in dessen Schatten er sich hinlegt, ohne die Hoffnung, sein Reittier jemals wiederzusehen. Während er dort liegt, findet er es plötzlich bei ihm stehend, da ergreift er sein Halfter und spricht auكer sich vor Freude: ‘O Allah, Du bist mein Diener, und ich bin Dein Herr’, indem er sich vor übergroكer Freude verspricht.“7

 

Das Geheimnis der Reue (tauba) auf dem geistigen Pfad ist, dass ihr mit gِttlicher Freude von Allah, dem Allerhöchsten, begegnet wird. Abu’l-Hasan Asch-Schadhili, der Schaikh von Ibn ‘Ata’i-Llahs Schaikh, pflegte täglich zu beten: „Wenn wir Dir ungehorsam sind, dann erweise uns eine noch vollkommenere Barmherzigkeit, als wenn wir Dir gehorsam sind.“8

 

Ibn ‘Ata’i-Llah schrieb diesen ersten Weisheitsspruch seines Buches der Weisheiten, um den Reisenden davon in Kenntnis zu setzen, dass, wenn auch Fehler vorkommen, doch Arbeit geleistet werden muss: sich in Reue zu Allah zu wenden, zu erkennen, dass Allah großmütig ist, und Vertrauen darauf zu haben, dass vom geistlichen Pfad das Beste erlangt wird.

 

Das Kennzeichen, dass man auf Allah vertraut, ist, dass seine Hoffnung unvermindert ist. Das Kennzeichen, dass man sich auf sein Ich verläßt, ist, dass es sich emporschwingt, bis es einen Fehltritt gibt, wenn es aus verletztem Stolz abstürzt. Entmutigung auf dem Pfad bedeutet, dass man die göttliche Allmacht nicht begriffen hat, während Gewissheit auf dem Pfad und gegenüber seinem Herrn zum Adab derjenigen gehört, die Allah kennen.

 

Quelle: ISLAMICA MAGAZINE, Winter 2003, Nr. 10, S. 83 f. ـbertragen aus dem Englischen von ‘Abdullâh Frank Bubenheim

 

1 Ibn ‘Atâ’ Allâh, Bedrنngnisse sind Teppiche voller Gnaden, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1987.

 

2 Sahîh Muslim 4.2169, Nr. 2816.

 

3 Yahyâ ibn Scharaf an-Nawawî, Sahîh Muslim bi-Scharh an-Nawawî, 18 Bde., 1349/1930 (Nachdruck, 18 Bde. in 9, Dâr al-Fikr, Beirut, 1401/1981), 17, 160-61.

 

4 Zakariyyâ al-Ansârî, Mustafâ al-’Arûsî und ‘Abd al-Karîm al-Quschairî, Natâ’idsch al-afkâr, 4 Bde., Kairo, 1290/1875 (Nachdruck, ‘Abd al-Wakîl ad-Durûbî, o.D.), 1.114.

 

5 Schu’aib Abû Madyan al-Ansârî und al-’Arabî asch-Schauwar, Al-Minan ar-rabbâniyya al-wahbiyya fi l-ma’âthir al-Ghauthiyya, Ed. Muhammad al-Hâschimî (als Dîwân al-Qutb ar-Rabbânî al-’ آrif bi-Llâh al-Ghauth as-Samadânî asch-Schaikh Sayyidî Schu’aib Abû Madyan [...]), Matba’a at-Taraqqî, Damaskus, 1357/1958, 50.

 

6 Abû ‘Abd ar-Rahmân as-Sulamî, ‘Uyûb an-nafs wa-adwiyatuhâ, Ed. Muhammad Amîn al-Fârûqî, Dâr al-’Urûba, Damaskus, 1418/1997, 39.

 

7 Muslim 4.2104: 2747.

 

8 Abu l-Hasan asch-Schâdhilî und andere Scheichs der Schâdhiliyya-Tarîqa, Invocations of the Shadhili Order, herausgegeben und übersetzt von Nûh Hâ Mîm Keller, Dâr Abu’l-Hasan, ‘Ammân, 1418/1998, 27.

 

 

Quelle: islamische-zeitung.de

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