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Empfohlene Beiträge

Einundzwanzigster Blitz

 

Eine Abhandlung über die Wahrhaftigkeit

 

Diese Abhandlung war ursprünglich die vierte von sieben Problemstellungen der Siebzehnten Anmerkung des Siebzehnten Blitzes. Sie ist wegen ihres Zusammenhanges mit der Wahrhaftigkeit Zweiter Punkt des Zwanzigsten Blitzes geworden. Auf Grund ihres Glanzes ist sie als Einundzwanzigster Blitz in den Band »Blitze« eingereiht. Diese Abhandlung sollen die Mitschüler mindestens alle fünfzehn Tage einmal lesen.

 

 

»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen. Und streitet nicht miteinander, damit ihr nicht kleinmütig werdet und euer Sieg euch nicht verloren gehe.« (Sure 8, 46) »Und steht vor Allah in Ehrfurcht.« (Sure 2, 238) »Wohlergeht es dem, der seine Seele reinigt und zu Schanden wird der, der sie verdirbt.« (Sure 91, 9-10) »Und verkaufet nicht meine Ayat (Qur’anverse, Wunderzeichen) für ein Geringes.« (Sure 2, 41)

Oh meine Brüder im Glauben und meine Gefährten im Dienst am Qur’an! Ihr wisst ja und sollt es wissen, dass in dieser Welt, besonders in den Diensten für das Jenseits der wichtigste Grundsatz, die größte Macht, der am besten aufgenommene Fürsprecher, der dauerhafteste Stützpfeiler, der kürzeste Weg zur Wahrheit, das wirksamste Gebet der Seele, das wunderbarste Fahrzeug zum Ziel, die erhabenste Eigenschaft, der reinste Gottesdienst die Wahrhaftigkeit ist.

Aber obwohl nun die Wahrhaftigkeit gleich der oben erwähnten Eigenschaften so viele Kräfte in sich umfasst, und obwohl wir in dieser fürchterlichen Zeit diesen schrecklichen Feinden, der Unterdrückung und dem stürmischen Sittenverfall gegenüber inmitten aller Irrtümer so wenige sind, so schwach und arm, hilflos und kraftlos, hat dennoch die Güte Gottes eine so große und schwere, eine so allumfassende und heilige Aufgabe auf unsere Schultern gelegt. Mit Sicherheit müssen wir mehr als jeder andere, mit unserer ganzen Kraft nach der Wahrhaftigkeit streben, ja dazu sind wir geradezu verpflichtet. Wir haben es in ganz besonderem Maße nötig, dieses Geheimnis der Wahrhaftigkeit fest in uns zu verankern. Sonst geht nicht nur das, was wir bisher durch diesen heiligen Dienst gewonnen haben, zum Teil wieder verloren, setzt sich nicht fort, wir werden auch noch dafür unnachsichtig zur Verantwortung gezogen.

Wenn wir stattdessen unserer Wahrhaftigkeit um einiger niederer, gemeiner Gefühle und eines persönlichen Nutzens willen verlustig gehen, weshalb uns das ausdrückliche Verbot Gottes mit einer Drohung trifft, wie es die folgende Ayah ausdrückt,

 

 

»Und verkaufet nicht meine Ayat (Qur’anverse, Wunderzeichen) für ein Geringes.« (Sure 2, 41)

was uns zugleich auch zum Schaden unserer ewigen Glückseligkeit gereicht und was zudem auch noch sinnlos, nutzlos, schädlich, Besorgnis erregend, abscheulich und scheinheilig ist, so bedeutet das darüber hinaus einen Anschlag auf das Recht aller Brüder, die in diesem Dienst mit uns zusammen stehen und überdies einen Angriff auf die Dienste am Qur’an und eine Respektlosigkeit vor der Heiligkeit der Glaubenswahrheiten.

Oh meine Brüder! Vor einer bedeutenden, großen und guten Tat stehen sehr viele Hindernisse und Schwierigkeiten. Die Teufel befassen sich sehr mit denen, die jenen Dienst verrichten. Wegen dieser Hindernisse und dieser Teufel ist es notwendig, sich auf die Kraft der Wahrhaftigkeit zu stützen. Ihr sollt euch von den Ursachen fern halten, welche die Wahrhaftigkeit zerstören, so wie ihr euch von Schlangen und Skorpionen fernhaltet.

So wie unser Ehrwürdiger Prophet Josef (Friede sei mit ihm) gesagt hat:

 

 

»Wahrlich, die Seele verlangt gierig nach dem Bösen.« (Sure 12, 53)

Man darf seiner Seele in ihrer Gier nicht vertrauen. Eure Ichsucht und die Gier eurer Seele sollen euch nicht verführen. Um diese Wahrhaftigkeit zu erwerben und zu erhalten und die Hindernisse zu überwinden, sollen die kommenden Grundsätze euer Wegweiser sein.

 

Erster Grundsatz: Auf euren Werken muss das Wohlwollen Gottes ruhen. Auch wenn die ganze Welt grollt, ist das nicht wichtig; Hauptsache Er ist mit euerem Tun einverstanden. Auch wenn das ganze Volk es ablehnt, hat das keine Wirkung, wenn nur Er (Allah) es angenommen hat. Wenn Er (Allah) damit einverstanden ist und es angenommen hat, wenn Er es dann will und Seine Weisheit es erlaubt, bringt Er auch die Leute dazu, es anzunehmen und damit einverstanden zu sein. Ihr sollt euch nicht davon abhängig machen. Deswegen soll man sich in diesem Dienst allein das Einverständnis Gottes des Gerechten als Ziel unmittelbar vor Augen stellen.

 

Zweiter Grundsatz: Ihr sollt euch nicht über die Brüder, die in diesem Glaubensdienst stehen, abfällig äußern. Und ihr sollt auch nicht Gefühle von Missgunst und Neid unter den Brüdern wachrufen, indem ihr ihnen eure Überlegenheit demonstriert. Denn, wie eine Hand des Menschen mit seiner anderen Hand keine Rivalität praktiziert, und wie ein Auge das andere Auge nicht kritisiert, wie die Zunge das Ohr nicht anklagt und das Herz die Ungehörigkeiten der Seele übersieht, ja vielmehr deren Unvollkommenheiten ergänzt, ihre Fehler zudeckt, ihr in ihren Bedürfnissen zu Hilfe eilt und sie in ihren Aufgaben unterstützt. So erlischt im gegenteiligen Falle das Leben in jenem Menschenkörper, seine Seele entflieht und sein Körper zerfällt.

Und so wie des Weiteren die Zahnräder einer Maschine nicht gegeneinander konkurrieren und miteinander kämpfen und einander zu überflügeln trachten, sich ihre Fehler nachsehen, einander nicht kritisieren und sich in ihrem Arbeitseifer nicht gegenseitig aufhalten, vielmehr sich bereitwillig um des gemeinsamen Zieles willen gegenseitig in ihren Bewegungen Hilfe leisten und dem Zweck ihrer Herstellung entsprechend in echter Verbundenheit und Übereinstimmung miteinander drehen. Sobald ein Staubkörnchen zwischen sie gerät, sie angreift, behindert, beschädigt, die Fabrikation gestört wird, ohne ein Ergebnis läuft, unproduktiv bleibt, so wird dann also der Fabrikbesitzer diese Fabrik ganz und gar abbauen, demontieren.

Seht, ihr Schüler der Risale-i Nur und Diener des Qur’an! Ihr und wir bilden die Organe einer geistigen Verkörperung, die der Bezeichnung eines vollkommenen Menschen würdig ist. Wir stellen die Zahnräder einer Fabrik dar, welche im Ewigen Leben die ewige Glückseligkeit als Ergebnis zeitigt. Und wir sind Schauerleute, die auf einem Schiff des Herrn arbeiten, welches die Gemeinschaft Mohammeds, mit dem Friede und Segen sei, zum Ort des Friedens an der Küste der Geborgenheit trägt. Mit Sicherheit bedürfen wir eines Gemeinschaftsgeistes und wahrhaften Sinnes für die Einheit, ja müssen ihn im Geheimnis der Wahrhaftigkeit zu gewinnen trachten, welcher vier Einzelpersonen die Geisteskräfte von 1111 Personen verleiht.

Wenn drei Einser sich nicht vereinigen, ist ihr Wert in der Tat nur Drei, vereinigen sie sich aber nach dem Geheimnis der Zahlen, so nehmen sie den Wert von 111 an. Schreibt man vier mal vier getrennt, ergibt sich der Wert von sechzehn. Wenn sie aber mit dem Geheimnis der Bruderschaft und mit der Einheit im Ziel und mit der Übereinstimmung in den Aufgaben in Einklang kommen und in einer Reihe Schulter an Schulter gehen, dann werden sie zu einer Macht mit dem Wert von 4444.

Genauso legen auch sehr viele geschichtliche Begebenheiten Zeugnis dafür ab, dass wirklich im Geheimnis der Wahrhaftigkeit Macht und geistige Kraft von sechzehn opferbereiten Brüdern die Viertausend übersteigt. Der Sinn dieses Geheimnisses ist folgend:

In einer wahrhaftigen und aufrichtigen Gemeinschaft kann jeder Einzelne mit den Augen der anderen Brüder sehen und auch mit ihren Ohren hören. Bilden zehn Männer eine wirkliche Einheit, so hat jeder einzelne in gewissem Maße eine geistige Kraft und Macht, als ob er mit zwanzig Augen sähe, mit zehn Gehirnen dächte, mit zwanzig Ohren hörte, mit zwanzig Händen arbeitete *.

 

Dritter Grundsatz: Ihr sollt wissen, dass eure ganze Kraft aus der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit erwächst. In der Tat liegt Kraft in der Gerechtigkeit und in der Wahrhaftigkeit. Auch die Ungerechten gewinnen Kraft aus ihrer Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, die sie in ihrem Unrecht zeigen.

Beweis dafür, dass die Kraft in der Gerechtigkeit und in der Wahrhaftigkeit liegt, ist unser Dienst hier. Ein ganz klein wenig Wahrhaftigkeit in diesem unseren Dienst beweist diese Behauptung und ist in sich selbst ein Beweis. Denn im Vergleich zu dem Dienst an Wissenschaft und Glauben, den wir seit mehr als zwanzig Jahren in meiner Heimat und Istanbul verrichtet haben, wurde hier mit euch in sieben, acht Jahren hundertfach mehr geleistet. Während ich in meiner Heimat und Istanbul hundert- ja sogar tausendfach mehr Helfer hatte als Brüder, die hier mit mir arbeiten, bin ich einsam und ohne Angehörige, ein Fremdling und ein halber Analphabet. Ich habe absolut keinen Zweifel mehr daran, dass der Dienst, den ich seit sieben, acht Jahren trotz der unmenschlichen Überwachung und der Unterdrückung durch die Beamten mit euch getan habe und die geistige Kraft, die hundertfach mehr Erfolg als die früheren Dienste zeitigt, aus eurer Wahrhaftigkeit erwachsen sind.

Zudem muss ich euch gestehen, dass ihr mich mit eurer aufrichtigen Wahrhaftigkeit gewissermaßen vor der Scheinheiligkeit bewahrt habt, die unter dem Deckmantel von Ruhm und Ruf meiner Seele schmeichelte. Und so werdet ihr dann, nachdem ihr – mit Gottes Hilfe – die vollkommene Wahrhaftigkeit errungen habt, auch mich in alle Wahrhaftigkeit einführen. Ihr wisst ja, dass Hasret Ali (Allahs Wohlwollen sei mit ihm) mit diesem seinem an die Zeiten der alten Propheten gemahnenden Wunder und Hasret Ghaus ‘Asam (Allah heilige seine Geheimnisse) mit jener seiner zukunftsweisenden Wundergabe euch auf Grund des Geheimnisses der Wahrhaftigkeit ihre Gunst und Anerkennung bezeigen. Sie unterstützen und trösten euch und spenden euch für euren Dienst geistigerweise Beifall.

In der Tat sollt ihr überhaupt keinen Zweifel daran haben, dass euch diese ihre Anerkennung aus eurer Wahrhaftigkeit erwächst. Wenn ihr wissentlich nicht an der Wahrhaftigkeit festhaltet, werden euch ihre Schläge ereilen. (Doch es sind Schläge von liebender Hand, die euch den Zehnten Blitz wieder in Erinnerung rufen sollen.) Wenn ihr euch derartige hervorragende Leute zu eurer Unterstützung als Lehrer über euch wünscht, dann bemüht euch um vollkommene Wahrhaftigkeit nach dem Geheimnis

 

 

»Sie geben euren Brüdern den Vorzug vor sich selbst.« (Sure 59, 9)

Der Seele eurer Brüder sollt ihr vor eurer eigenen Seele hinsichtlich der Würde, dem Rang, dem Wohlwollen der Leute, ja sogar der materiellen Vorteile und solcher Dinge den Vorzug geben, die eurer Seele angenehm erscheinen. Ja, einem Gläubigen eine tiefgreifende Glaubenswahrheit, deren er bedarf, in ihrer ganzen Schönheit darzulegen, ist sogar mit aller kindlichen Unschuld von großem Nutzen ohne jeden Schaden. Soweit möglich solltet ihr euch freuen, wenn ihr einen Kollegen, der eigentlich gar nicht möchte, doch noch dafür gewinnen könnt, damit eure Seele nicht der Selbstzufriedenheit anheim falle. Wenn ihr den Wunsch habt: »Ich will etwas Verdienstvolles tun. Ich möchte über dieses schöne Thema sprechen.« Dann ist das so weit noch keine Sünde und kein Fehler. Doch kann dies dem Geheimnis der Wahrhaftigkeit unter euch zum Schaden gereichen.

 

Vierter Grundsatz: Die Vorzüge eurer Brüder sollt ihr eurer eigenen Persönlichkeit zugehörig und ihre Tugenden als in euch selbst befindlich vorstellen und in ihrer Würde (berechtigterweise) stolz und dankbar sein. Die Mystiker verwenden unter sich die Fachbezeichnungen: »in der Seele seines Lehrers aufgehen« und »in der Persönlichkeit des Gesandten Gottes Mohammed, mit dem Friede und Segen sei, aufgehen«.

Ich bin kein Sufi. Aber ihr Grundsatz ist auch auf unserem Weg ein schöner Grundsatz und heißt: »in der Persönlichkeit der Gemeinschaft der Brüder aufgehen«. Unter den Mitbrüdern nennt man es »tefani«. Das heißt: Sich aufgeben und ineinander auflösen. Mit anderen Worten: »Seine eigenen egoistischen Gefühle soll man vergessen und in den Vorzügen und Empfindungen seiner Mitbrüder gedanklich mitleben.« Grundlage unseres Weges ist ja die Bruderschaft. Sie ist nicht das Band zwischen Vater und Sohn, auch nicht zwischen Scheich und Murid, sondern das Band wahrhaftiger Bruderschaft. Da kann es dann höchstens noch einen Lehrer (im Sinne eines älteren Bruders – A.d.Ü) dazwischen geben. Damit unser Weg »Freundschaft« sei, ist es unsere Lebensart »Freund zu sein«. Was aber eine Freundschaft erfordert, ist, ein besonders nahe stehender Freund, ein zu jedem Einsatz bereiter Kamerad, ein über alles schätzenswerter Gefährte und ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Bruder zu sein.

Der Grundstein dieser Freundschaft ist aber aufrechte Wahrhaftigkeit. Der Mann, welcher diese aufrechte Wahrhaftigkeit zerbricht, verliert in höchsten Höhen auf dem obersten Gipfel dieser Freundschaft seinen Halt; und es ist möglich, dass er in den tiefsten Abgrund hinunterstürzt. Er wird dazwischen nichts mehr finden, woran er sich noch festhalten könnte.

In der Tat bieten sich zwei Wege an. Es ist möglich, dass diejenigen, die diesen unseren Weg, die Große Straße, die der Qur’an ist, verlassen haben, ohne es zu merken, der atheistischen Streitkraft, die uns Feind ist, Hilfe leisten. Insha’allah werden diejenigen, die durch die Risale-i Nur in den heiligen Kreis des Qur’an eingetreten sind, dessen Worte ein Wunder sind, immer das Licht der Erkenntnis, die aus dem Qur’an erwächst, mehren, in der Wahrhaftigkeit wachsen und den Glauben (untereinander) stärken und so nicht in solche Abgründe stürzen.

 

Erster Grund: Oh meine Freunde im Dienst am Qur’an! Einer der wirksamsten Gründe, Wahrhaftigkeit zu erwerben und zu bewahren, ist: »Mit dem Tod verbunden« zu sein. In der Tat ist das, was die Wahrhaftigkeit beeinträchtigt und zur Scheinheiligkeit und einem weltlichen Leben führt »die Länge der Wünsche«. Was vor der Scheinheiligkeit Abscheu hervorruft und die Wahrhaftigkeit erlangen lässt, ist, »mit dem Tod verbunden« zu sein. Das heißt: Man soll seinen Tod erwägen und bedenken, dass die Welt vergänglich ist, um sich vor den Einflüsterungen der Begierde zu retten.

In der Tat haben Ordensleute und die Kenner der Wahrheit aus den folgenden Versen des weisen Qur’an ihre Lehren empfangen

 

 

»Jede Seele wird den Tod schmecken.« (Sure 3, 185) »Mit Sicherheit wirst du (Oh mein Gesandter) sterben, und mit Sicherheit werden sie (die Ungläubigen) auch sterben.« (Sure 39, 30)

und für die Erwählung ihres Weges die »Verbundenheit mit dem Tod« zur Grundlage genommen. Sie haben die Vorstellung, ewig (auf Erden) zu leben, welche den »Längengrad der Wünsche« (= Begierden) bildet, durch jene Verbundenheit ausgelöscht.

Als eine Art von Arbeitshypothese oder Bild (vor dem geistigen Auge) stellen sie es sich vor und malen sie es sich aus, schon gestorben zu sein... gewaschen zu werden; nehmen an, ins Grab gelegt zu werden. Indem sie diese Überlegungen immer weiter fortsetzen, wird die triebverhaftete Seele von diesen Erwägungen und Vorstellungen betrübt und entsagt bis zu einem gewissen Grade ihren ausschweifenden Wünschen. Diese Verbundenheit hat sehr viele Vorteile. Da eine Überlieferung unseres Propheten Mohammed, mit dem Friede und Segen sei, lautet

 

 

»Ihr sollt euch den Tod, der die Genüsse bitter werden lässt und sie zunichte macht, oft ins Gedächtnis rufen.«

erteilt sie uns diese Verbundenheit als Lektion.

Da wir aber nicht die Berufung der Ordensleute haben, es uns vielmehr um Tatsachen geht, ist es nicht notwendig, dass wir uns nach Art der Ordensleute Bilder und Vorstellungen ausmalen. Außerdem stimmt das nicht mit dem wahren Weg überein. Wenn man versucht, sich die Folgen auszumalen, so sollte man nicht die Zukunft in die Gegenwart herüberholen, vielmehr von den Tatsachen ausgehend von der Gegenwart in die Zukunft hinüberdenken, sie in den Blick bekommen. In der Tat kann man seine eigene Leiche als einzige Frucht am Gipfel dieses kurzen Lebensbaumes betrachten, ohne dass es dazu einer Arbeitshypothese oder bildlichen Vorstellung bedürfte. So wie er dabei einzig seinen eigenen Tod erblickt, so erblickt er dort auch das Ende seiner Zeit, sobald er nur ein wenig zur anderen Seite hinübergeht. Sobald er noch ein wenig weiter zur anderen Seite hinübergeht, wird er auch Zeuge des Endes der Welt. So öffnet sich ihm der Weg zur vollkommenen Wahrhaftigkeit.

 

Ein zweiter Grund: In der Kraft eines durchforschten Glaubens und in dem Licht, das aufstrahlt, wenn wir über den Glauben nachsinnen, so wie er der Schöpfung immanent ist und uns in der Erkenntnis ihres Meisters gegeben wird, gelangen wir zu einer Art von (göttlicher) Gegenwart, bedenken, dass der barmherzige Schöpfer allgegenwärtig und allschauend ist, suchen bei keinen anderen nach Seinem Wohlwollen außer bei Ihm. Sich in Seiner Gegenwart noch mit Anderen zu beschäftigen, ja von ihnen Hilfe zu erwarten, widerspricht dem Anstand, den Seine (göttliche) Gegenwart erfordert. Zieht man dies in Betracht, so bewahrt man sich vor Scheinheiligkeit und gelangt zur Wahrhaftigkeit. Wie dem auch sei... es gibt dabei noch viele Grade und Abstufungen. Jeder hat daran seinen Anteil, zieht daraus seinen Nutzen und hat dementsprechend davon seinen Gewinn. Da in der Risale-i Nur viele Wahrheiten erwähnt wurden, die den Menschen vor der Scheinheiligkeit bewahren und zur Wahrhaftigkeit führen, überlassen wir das Weitere den übrigen Risale-i Nur Abhandlungen. Und so beenden wir diese hier.

Wir wollen hier nun zwei, drei unter sehr vielen Ursachen, die von der Wahrhaftigkeit weg- und zur Heuchelei hinführen, kurz erläutern.

 

Erstens: Ein Konkurrenzkampf, der um eines materiellen Vorteils willen entsteht, untergräbt nach und nach die Wahrhaftigkeit. Zum einen vereitelt er das Ziel dieses Dienstes, zum anderen vernichtet er auch den materiellen Gewinn selbst.

In der Tat hat dieses Volk immer den Gedanken der Hochachtung und der Unterstützung für diejenigen, die für die Wahrheit des Islam und für die jenseitige Welt arbeiten, genährt. Und sie haben sich tatsächlich um die Deckung ihrer materiellen Bedürfnisse gekümmert, mit der Absicht, an ihrer aufrichtigen Wahrhaftigkeit und an ihren treuen Diensten auf ihre Weise Anteil zu haben. Damit sie keine Zeit verlieren sollten, haben sie ihnen mit materiellen Gütern wie Spenden und Geschenken, geholfen und ihnen ihre Verehrung bezeigt. Aber diese Unterstützung und Hilfe darf man nicht verlangen, vielmehr werden sie frei gegeben. Ja man sollte noch nicht einmal in seinem Herzen einen Wunsch hegen, auch nicht durch seine Haltung eine Hoffnung zum Ausdruck bringen. Vielmehr wird alles auf unerhoffte Weise gegeben. Anderenfalls erleidet die Wahrhaftigkeit Schaden. Außerdem gerät man so in die Nähe des in folgendem Qur’anvers ausgesprochenen Gebotes:

 

 

»Ihr sollt meine Ayat (Qur’anverse, Wunderzeichen) nicht um ein Geringes verkaufen.« (Sure 2, 41)

Dadurch ist der Wert der guten Taten teilweise abgebrannt (und vernichtet). Wer sich also nach einem materiellen Vorteil sehnt und in dieser Hoffnung verweilt, der wird danach in der Triebhaftigkeit seiner Seele und durch seine Eigenliebe, um sich einen solchen Vorteil nicht von einem anderen wegnehmen zu lassen, gegen seinen wahren Bruder und Kollegen im gemeinsamen Dienst ein Gefühl der Rivalität in sich entwickeln. Die Wahrhaftigkeit erleidet Schaden; der heilige Dienst geht zu Grunde. In den Augen der Leute der Wahrheit entsteht eine beklemmende Situation. Und auch der materielle Gewinn geht verloren. Nun ja... Dieser Teig benötigt noch viel Wasser. Ich will hier abbrechen und nur noch zwei Beispiele erzählen, um das Geheimnis der Wahrhaftigkeit und die herzliche Gemeinschaft unter meinen wahren Brüdern zu bestärken.

 

Erstes Beispiel: Um großen Reichtum zu erlangen und gewaltig an Macht zu gewinnen, haben Weltleute, ja sogar ein Teil der Politiker und bedeutende Komitees im menschlichen Gemeinschaftsleben den Grundsatz der Gütergemeinschaft für sich zur Richtschnur gemacht. Trotz aller Missbräuche und Nachteile gewinnen sie ganz erstaunlich an Macht und erzielen einen großen Gewinn. Aber trotz aller Nachteile einer solchen Gütergemeinschaft ändert sich durch die Gemeinschaft im Wesentlichen nichts. Jeder einzelne ist wie einem Besitzer über das Ganze vergleichbar, wenn auch nur unter bestimmten Umständen und in gewisser Hinsicht; aber einen Vorteil davon hat er nicht. Nun gut...

Wenn dieser Grundsatz der Gütergemeinschaft in dem Bemühen um das Jenseits praktiziert wird, bewirkt er einen gewaltigen Gewinn ohne einen Nachteil. Denn der gesamte Besitz bringt es als ein Geheimnis mit sich, dass er vollständig in die Hände jedes einzelnen Teilhabers dieser Gesellschaft übergeht. Wenn nämlich von vier, fünf Männern, welche die Absicht haben, eine Gesellschaft zu begründen, einer Petroleum, einer einen Docht, einer einen Lampensockel, einer einen Zylinder und einer ein Streichholz herbeibringt, so können sie die Lampe entzünden. Jeder wird Besitzer einer vollständigen Lampe. Wenn dann jeder Gesellschafter je an einer Wand einen großen Spiegel hat, so erscheint in jedem einzelnen Spiegel zusammen mit dem ganzen Zimmer eine fehlerfreie und ungeteilte Lampe.

Genauso verhält es sich auch mit der gemeinschaftlichen Arbeit, was die jenseitigen Güter im Geheimnis der Wahrhaftigkeit, die Gesellschaft im Geheimnis der Brüderlichkeit, die Solidarität im Geheimnis der Eintracht betrifft: Die Summe dieser Gemeinschaftsarbeit und all das Licht, das aus ihr entspringt, wird jedem Einzelnen zur Gänze in seinem Arbeitsheft gutgeschrieben. Dies wurde so von allen Meistern und Heiligen geschaut und bezeugt und ist ein Erfordernis der allumfassenden Barmherzigkeit und der Freigiebigkeit Gottes.

Oh meine Brüder! Insha’allah wird materieller Gewinn euch nicht zu einem Konkurrenzkampf verführen. Aber, von dem Gesichtspunkt des Nutzens (für das Leben im) Jenseits ist es möglich, dass ihr euch täuschen lasst, so wie ein Teil der Ordensleute sich täuschen lässt. Aber wo ist da das bisschen persönlicher Verdienst und wo ist, entsprechend dem obigen Beispiel, Verdienst und Licht aus der gemeinsamen Arbeit?

 

Zweites Beispiel: Die Handwerker, die mit den Produkten ihrer handwerklichen Arbeit einen möglichst hohen Gewinn erzielen wollen, erwerben durch ihre Zusammenarbeit einen bedeutenden Reichtum. So haben zehn Leute, die Nähnadeln produzieren wollten, versucht, diese Stück für Stück herzustellen. Als Ergebnis dieser Einzelherstellung waren nur drei Nadeln täglich die Frucht eines solchen Ein-Mann-Handwerkes. Dann haben sich diese zehn Leute nach den Regeln einer Produktionsgemeinschaft vereinigt. Einer bringt Eisen, einer versorgt den Ofen, einer bohrt die Löcher, einer steckt das Material in den Ofen, einer spitzt die Nadeln an usw. Jeder einzelne beschäftigt sich nur mit einer Teilarbeit in seinem Nadelproduktionsbetrieb. Da die Arbeit jedes einzelnen einfach ist, geht keine Zeit verloren, jeder gewinnt in seinem Tun an Geschicklichkeit und macht seine Arbeit sehr schnell. Danach haben sie unter sich das Ergebnis ihrer Produktion geteilt, die nach den Gesetzen der Arbeitsteilung und Gemeinschaftsproduktion durchgeführt wird. Sie haben gesehen, dass auf jeden einzelnen statt dreier Nadeln täglich dreihundert Nadeln entfielen. Dieses Beispiel wurde unter den weltlichen Handwerksleuten sprichwörtlich und regte sie zur Gemeinschaftsproduktion an.

Oh meine Brüder! Wenn nun schon in weltlichen Angelegenheiten, bei opaker Materie, auf diese Weise Einheit und Verbundenheit so gewaltige Summen als Gewinn abwerfen, so könnt ihr einen Vergleich anstellen, was für einen großen Gewinn es erbringt, wenn sich durch die Gnade Gottes in dem Spiegel jedes einzelnen das Ganze reflektiert, das von einer anderen Welt und leuchtend ist, und das man nicht in kleine Stücke zu zerteilen braucht. Jeder einzelne bekommt so viel Belohnung wie die ganze Gemeinschaft verdient. Diesen gewaltigen Gewinn soll man nicht durch Konkurrenzkampf und Unaufrichtigkeit entgleiten lassen.

 

Zweitens: Das zweite Hindernis, an dem die Wahrhaftigkeit zerbricht, ist die Ruhmsucht, die aus dem Geltungsbedürfnis entsteht und unter dem Deckmantel von Würde und Ehre die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und öffentliche Anerkennung zu gewinnen sucht. Seinem Bedürfnis nach Selbstbestätigung zu schmeicheln und dem Tier in uns auf ein Postament zu erheben, ist eine äußerst bedenkliche Krankheit des Geistes und öffnet der Scheinheiligkeit und Selbstgefälligkeit, was »unbewusste Abgötterei« genannt wird, die Türe.

Oh meine Brüder! Unsere Berufung im Dienst am weisen Qur’an ist die Wahrheit und Bruderschaft. Das Geheimnis der Bruderschaft ist: »Jeder soll mit seiner Persönlichkeit in den Brüdern aufgehen * und ihrer Seele vor der eigenen Seele den Vorzug geben.« Darum soll solch ein Konkurrenzdenken, das aus dem Bedürfnis nach Amt und Würden erwächst, unter uns keinen Einfluss haben. Denn es ist mit unserem Weg ganz und gar nicht zu vereinbaren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Würde der Brüder im Allgemeinen jedem einzelnen von ihnen gehören sollte, hoffe ich nur, dass es den Risale-i Nur Schülern hundertfach ferne liegt, diese große Würde des Geistes für ein kleines, persönliches Stückchen Ruhm zu opfern und für eine Würde, die in Konkurrenzkämpfe verstrickt, nur sich selber sucht. In der Tat dürfen sich das Herz, der Verstand und die Seele der Risale-i Nur Schüler nicht zu solchen niedrigen, schaden-trächtigen und gemeinen Dingen herabwürdigen. Doch jeder findet in sich seine Triebnatur. Und zuweilen gehen diese Empfindungen der Seele in Fleisch und Blut über. Sie üben bis zu einem gewissen Grade, dem Geiste zum Trotz und entgegen Herz und Verstand ihren Einfluss aus. Ich will euren Geist oder euer Herz nicht verdächtigen, auch eurem Verstand nicht die Schuld geben. Auf Grund der Wirkung, die der Risale-i Nur gegeben ist, vertraue ich auch darauf. Doch eure Gefühle und Neigungen, Empfindungen und Vorstellungen führen euch zuweilen in die Irre. Deswegen werdet ihr manchmal nachdrücklich ermahnt. Dieser Nachdruck bezieht sich auf Gefühle und Neigungen, Empfindungen und Vorstellungen. Ihr sollt in eurem Verhalten Besonnenheit an den Tag legen.

Wäre es unsere Berufung, die Würde eines Scheichs anzustreben und gäbe es da nur eine einzige Rangstufe oder eine begrenzte Anzahl Rangstufen: Um diesen Rang würden sich mehrere talentierte Kandidaten bewerben. Es gäbe einen Wettbewerb um das eigene Fortkommen. Aber unsere Berufung ist die Bruderschaft. Ein Bruder kann einem Bruder kein Vater sein und sich nicht so verhalten wie ein geistiger Meister. Die Stellung in der Bruderschaft ist weit gefächert. Sie kann nicht Anlass dafür sein, dass man sich müht, einander den Rang abzulaufen und versucht, sich gegenseitig zu überflügeln. Bestenfalls kann der Bruder dem Bruder Stütze und Rückhalt sein; so vervollkommnet er seinen Dienst. Hier ein Beweis, dass es auf den Wegen der Väter und Lehrer infolge des Wettstreits, durch ehrgeiziges Mühen um Lohn, in dem Streben nach dem Höchsten, zu äußerst mangelhaften und gefährlichen Ergebnissen kommen kann: Wenn unter Ordensleuten bei aller so bedeutsamen und erhabenen Vollkommenheit und aller Verdienste Divergenzen und Rivalitäten auftreten, so ist das folgenschwere Ergebnis davon, dass ihre heiligen und erhabenen Kräfte den Stürmen der Ketzerei nicht standhalten können.

 

Drittens: Das dritte Hindernis heißt Angst und Habsucht. Dieses Hindernis wurde zusammen mit einigen anderen Hindernissen in der Abhandlung »Sechs Stürme« vollständig erklärt. Wir wollen es dabei belassen und bitten und flehen zu dem Herrn in der Überfülle Seines Erbarmens und machen dabei auch alle Seine Schönen Namen zu unseren Fürsprechern: »Gewähre uns allen, dass wir das Ziel der vollkommenen Wahrhaftigkeit erlangen mögen... Amen.«

 

 

»Oh Allah, bei Deiner Wahrheit und um der Sure der Wahrhaftigkeit willen, reihe uns ein unter diejenigen, welche als Deine wahrhaftigen Diener nach der Wahrhaftigkeit streben. Amen. Amen. Amen...« »Gepriesen seist Du! Wir haben kein Wissen, außer dem, das Du uns gelehrt hast. Denn Du bist der Allwissende, der Allweise!« (Sure 2, 32)

 

 

Ein persönlicher Brief * an einige Brüder

 

Für diejenigen unter meinen Brüdern, welche des Schreibens überdrüssig geworden, während der drei dem Gebet geweihten Monate der Niederschrift der Risale-i Nur, die aus fünferlei Gesichtspunkten zu den Gebeten gezählt wird, anderen Gebeten den Vorzug geben, möchte ich den Geist einer Ehrwürdigen Überlieferung erläutern.

 

Erstens:

 

Das heißt, »Bei der Wiederversammlung wird die Tinte, welche die Gelehrten für die Wahrheit verwandt haben, dem Blut der Märtyrer gleichgeachtet, erhält deren Wert.«

 

Zweitens:

 

Das heißt: »Wer in einer Flut der Ketzerei, inmitten eines Stroms von Irrlehren an den Edlen Sitten und der Wahrheit des Qur’an festhält und ihr dient, wird den Lohn von hundert Märtyrern gewinnen.«

Oh ihr Brüder, die ihr in eurem Hang zur Faulheit des Schreibens überdrüssig geworden seid und der Mystik zuneigt! Diese beiden Überlieferungen (vom Gottesgesandten Mohammed. – Friede und Segen sei mit ihm) zeigen: Wenn ihr in einer solchen Zeit der Wahrheit des Glaubens, dem Geist des Gesetzes und den Edlen Sitten einen Dienst erweist, so wird euch für das schwarze Licht, das euren segensreichen, reinen Stiften entströmt, oder ein Dirhem Tinte, das dem Wasser des Lebens gleicht, am Tage der Wiederversammlung Lohn, gleich hundert Dirhem Blut der Märtyrer, gegeben werden. So sollt ihr euch dementsprechend um diesen Gewinn bemühen.

 

Wenn ihr sagt: In dieser Überlieferung wird der Ausdruck »Gelehrter« verwendet. Viele von uns sind aber nur Schreiber.

 

Antwort: Wer ein Jahr diese Abhandlungen und Lektionen liest und dabei versteht und sie annimmt, der wird ein bedeutender, wahrhaftiger Gelehrter unserer Zeit werden. Auch wenn er sie nicht versteht, so ist dennoch in Anbetracht dessen, dass die Schüler der Risale-i Nur eine geistige Körperschaft bilden, ohne Zweifel diese geistige Körperschaft einem Gelehrten unserer Zeit gleich. Was aber eure Schreibstifte betrifft, so sind sie die Finger dieser geistigen Verkörperung. Und obwohl ich es meiner Ansicht nach gar nicht wert bin, wohlan denn, so sei es, dass ihr in meiner Nachfolge mich aufgrund eurer guten Meinung über mich in meiner Armseligkeit als einen Lehrer betrachtet, mir die Stellung eines Gelehrten zuerkennt und so mit mir verbunden seid. Da ich nun ungebildet und ohne Schreibzeug bin, mögen eure Stifte als mein Schreibstift angesehen werden. So werdet ihr den in der Überlieferung aufgezeigten Lohn erhalten.

 

Said Nursi

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