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Einundzwanzigstes Wort - Die Wunden des Herzens

 

Das erste von zwei Kapiteln

 

 

»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen; Es ist den Gläubigen vorgeschrieben, das Gebet zur bestimmten Zeit zu verrichten.« (Sure 4, 103)

Eines Tages kam ein älterer Herr zu mir. Er war groß von Gestalt, bekleidete einen höheren Rang und sagte zu mir: »Das Gebet ist gut. Es aber Tag für Tag fünfmal zu verrichten, ist zu viel. Man kommt zu keinem Ende. Macht das nicht überdrüssig?«

Über diesem Wort war bereits geraume Zeit vergangen, da vernahm ich die Stimme meiner Seele (nefs). Ich vernahm, dass sie die gleichen Worte wiederholte. Bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass es der Teufel war, der ihr die gleiche Lektion ins Ohr ihrer Faulheit flüsterte. Damals verstand ich, dass der Herr damals dieses Wort gleichsam im Namen aller eigenwilligen Seelen (nufus-u emmare) ausgesprochen hatte. Es war ihm gleichsam in den Mund gelegt worden. Damals hatte ich zu mir selbst gesagt: »Auch ich habe solch eine eigenwillige Seele. Wer sich aber in seiner eigenen Gesinnung (nefs) nicht zu bessern vermag, vermag auch andere nicht in ihrer Gesinnung zu wandeln. Wenn dies aber so ist, so will ich bei meiner eigenen Seele anfangen.«

Ich sagte zu mir: »Oh meine Seele!... Da sitzt du nun in der Tinte, als habest du die Weisheit getrunken, liegst auf dem Bett deiner Faulheit und schläfst den Schlaf deiner Gottvergessenheit. So lass dir denn durch mich die folgenden fünf Ermahnungen entgegenhalten...

 

Erste Ermahnung: Oh meine arme Seele! Ist dein Leben etwa ewig? Hast du etwa einen festen Vertrag dafür, dass du noch bis nächstes Jahr, ja auch nur bis morgen am Leben bleiben wirst? Was deinen Überdruss bewirkt, ist dein Traum von einem ewigen Leben. In deinem Übermut verbummelst du dein Leben, als könntest du ewig in dieser Welt bleiben. Könntest du verstehen, wie kurz dein Leben ist, ja in Unfruchtbarkeit dahingeht, sicherlich brächte dich das dazu, von vierundzwanzig Stunden eine für das wahre Leben und die ewige Glückseligkeit zu opfern, um einen schönen, angenehmen und leichten Dienst zu verrichten, der dir Barmherzigkeit (rahmet) bringt. Du würdest deine Langeweile überwinden. Es könnte dich dazu veranlassen, dich allen Ernstes nach einem solchen Dienst zu sehnen, ihn als willkommen anzusehen und Geschmack an ihm zu finden.

 

Zweite Ermahnung: Oh meine Seele, die du dem Bauch dienst! Du isst Tag für Tag Brot, trinkst Wasser, atmest Luft ein. Macht das nicht überdrüssig? Sicherlich nicht; denn in dem ständig wiederkehrenden Bedürfnis danach bekommst du nicht Überdruss, sondern Appetit.

Wenn das aber so ist, dann kann auch das Gebet, das für die Freunde in deinem Hause, welche mein Körper ist, nämlich für mein Herz eine Labsal, für meinen Geist das Wasser des Lebens und für die Blumen des Herrn (=die feineren Sinnesorgane der Seele) gleich einer Liebkosung des Windes ist, der durch das Gebet angezogen, herbeigelockt wird, niemals zur Langeweile führen. In der Tat kann ein Herz, das von grenzenlosem Kummer und Schmerz heimgesucht und geplagt, zahllosen Genüssen verfallen und von unendlichen Hoffnungen umschmeichelt ist, nur dann mit der notwendigen Kraft und Ausdauer versorgt werden, wenn es in flehentlichem Gebet an die Pforte des Freigiebigen und Allbarmherzigen pocht, der da aller Dinge mächtig ist. Ja, in dieser vergänglichen Welt, durch die die Seele (ruh) so schnell hindurcheilt, Weh!-schreiend ob der Trennung von all den Dingen und Geschöpfen, mit denen sie doch in Beziehung steht, kann der Durst nur mit dem Wasser des Lebens aus dem Brunnen der Barmherzigkeit gestillt werden, wenn sich die Seele im Gebet dem Ewig-Angebeteten (Ma´bud-u Baki) und Immerdar-Geliebten (Mahbub-u Sermedi) zuwendet, der alle Dinge übertrifft. Ja, die bewusste meditative Wahrnehmung des Menschen (sirr-i insani) und die lichterfüllten Blumen des Herrn (latife-i Rabbaniye), die sich von Natur aus nach Ewigkeit sehnen und für die Ewigkeit erschaffen wurden, die ein Spiegel des Herrn von Ewigkeit zu Ewigkeit und so äußerst fein und empfindsam sind, bedürfen unter den kummervollen, zermürbenden, beklemmenden, vergänglichen, finsteren und bedrückenden Ereignissen dieses Lebens ganz besonders eines beständigen Atemholens und nur durch das Fenster des Gebetes vermögen sie eine solche Liebkosung zu empfangen.

 

Dritte Ermahnung: Oh meine ungeduldige Seele! Du denkst noch heute darüber nach, wie du dich in vergangenen Tagen darum bemüht hast, Gott zu dienen (ibadet), wie du dich angestrengt hast, dein Gebet zu verrichten, wie du dich wegen deines Unglücks geplagt hast und du machst dir darüber Sorgen. Desgleichen stellst du dir die Aufgabe künftigen Gottesdienstes (ibadet), die Verpflichtung zum Gebet und das Leiden an einem kommenden Unglück schon heute vor und zeigst dich ungeduldig. Aber ist das denn überhaupt sinnvoll?

In deiner Ungeduld gleichst du einem Kommandanten, der sich in seiner Verwirrung so verhält, dass er seine eigene Kampfkraft in der Mitte schwächt, indem er eine starke Streitmacht zum rechten Flügel befiehlt, obwohl der rechte Flügel der feindlichen Streitmacht bereits zum rechten Flügel der eigenen Streitmacht übergelaufen ist. Obwohl also nun der linke Flügel des Feindes von Soldaten entblößt ist, schickt er eine starke Streitmacht dorthin, wo doch gar jemand angelangt ist und befiehlt: »Feuer!« So sind seine eigenen Streitkräfte aus der Mitte ganz und gar abgezogen. Der Feind erfasst die Lage, greift in der Mitte an und stiftet dort heillose Verwirrung. Du gleichst ihm in der Tat. Denn die Anstrengungen der vergangenen Tage sind heute in Barmherzigkeit verwandelt worden. Schmerz ist vergangen; Freude ist geblieben. Plage hat mit (Gottes) Gnadengabe einen Bund geschlossen; Anstrengung verwandelte sich in Belohnung. Wenn das aber so ist, dann darfst du über all dem nicht Überdruss und Langeweile empfinden, vielmehr eine neue Begeisterung, eine wiedererwachte Freude in dir verspüren, die dich kräftig dazu anspornt, weiterzumachen. Was aber die künftigen Tage betrifft, so ruhen sie noch in der Zukunft Schoß. Schon heute darüber nachzudenken und dabei Langeweile und Überdruss zu empfinden ist die gleiche Torheit, wie schon heute über dem Gedanken an Hunger und Durst in Wehgeschrei und Tränen auszubrechen. In Anbetracht dieser Tatsache solltest du in dem Gedanken an Dienst und Anbetung nur beim Heute verweilen, wenn du verständig bist. Und sprich: »Ich opfere eine Stunde (des heutigen Tages) für einen willkommenen, schönen und erhabenen Dienst, der nur wenig Mühe kostet, aber reichen Lohn bringt.« Dann wird sich dir die Bitternis jeglichen Überdrusses in die Süßigkeit jeglicher Begeisterung verwandeln.

 

So sind denn dir, meine ungeduldige Seele, drei Arten von Geduld auferlegt.

Eine ist die Geduld gegenüber Gott (in Dienst und Anbetung).

Eine andere ist die Geduld im Aufruhr (der eigenen Natur gegenüber Gott).

Eine weitere schließlich ist die Geduld im Unglück.

Wenn du verständig bist, dann nimm dir die Wahrheit, die in dem Beispiel zu dieser dritten Ermahnung sichtbar wird, als Richtschur. Ermanne dich und rufe: »Ya Sabur!« (= Geduld, als einer der wundervollen Namen Allahs). Schultere diese drei Arten der Geduld. Die Kraft dieser Geduld, die Gott der Gerechte dir verliehen hat, wird dir, so du sie nicht auf einem falschen Weg verstreust, in jeglicher Mühsal und Plage hinreichend sein... und auf diese Kraft stütze dich...

 

Vierte Ermahnung: Oh meine verwirrte Seele! Ist denn Dienst und Anbetung eine Aufgabe, die zu keinem Ergebnis führt? Ist dir der Lohn dafür zu gering, sodass es dir nun leid wird? Denn wenn dir jemand etwas Geld gibt, oder du einfach dazu gezwungen bist, so arbeitest du für ihn bis zum Abend. Und du arbeitest, ohne dass es dir leid wird. Ja ist denn ein Gebet, das in dem Gasthaus dieser Welt Nahrung und Reichtum in der Not deines armen Herzens, Nahrung und Licht in dem Grab, das mit Sicherheit einmal deine Wohnstatt sein wird, Zeugnis und Freispruch auf dem Wiederversammlungsfeld, das in jedem Fall einmal dein Richtplatz sein wird, Licht und Reittier (buraq) auf der »Sirat« - Brücke, über die du einst gehen musst, ob du willst oder nicht, etwa wirkungslos und ohne Ergebnis? Oder ist es sein Lohn etwa zu wenig?

Gäbe dir jemand das Versprechen, dir ein großes Geldgeschenk zu machen, du würdest hundert Tage für ihn arbeiten. Es könnte sein, dass er sein Versprechen nicht einhält, du aber vertraust auf ihn und arbeitest für ihn, ohne zu murren. Wenn aber nun eine Persönlichkeit, für die es unmöglich ist, dass Sie Ihr Versprechen bräche, dir das Paradies zum Lohn und die ewige Glückseligkeit zum Geschenk versprechen wollte und dich dann für eine ganz kurze Zeit und für eine sehr schöne Aufgabe einstellte, und wenn du dann Ihr nicht dienen wolltest oder deinen Dienst nur widerwillig oder halbherzig verrichtetest oder nur deinem Herrn zu Spott oder Ärger, sodass du ihn beleidigst oder Sein Geschenk gering achtest, ja denkst du denn nicht, dass du eine schwere Strafe empfangen und furchtbare Qualen erleiden würdest? Wenn du in dieser Welt aus Angst vor dem Gefängnis ohne zu murren den schwersten Dienst verrichtest, spornt es dich denn dann nicht dazu an, aus Furcht vor der ewigen Gefängnisstrafe der Hölle einen leichten und angenehmen Dienst zu verrichten?

 

Fünfte Ermahnung: Oh du meine Seele, die du die Welt anbetest! Rührt deine Abneigung gegen den Gottesdienst (ibadet) und deine Nachlässigkeit im Gebet etwa von einem Übermaß an weltlichen Beschäftigungen? Oder ist es deshalb, weil du in deiner Sorge um das tägliche Brot so beschäftigt bist, dass du darüber hinaus keine Zeit mehr findest? Oder bist du etwa nur für das Diesseits erschaffen worden, sodass du all deine Zeit dafür aufwendest? Du weißt, dass du hinsichtlich deiner Fähigkeiten über allen Tieren stehst, doch in der Beschaffung aller lebensnotwendigen Dinge für dieses irdische Leben vermagst du weniger als ein Sperling. Warum aber ziehst du dann daraus nicht die Schlussfolgerung, dass es nicht deine ureigentliche Aufgabe ist, dich abzuplagen wie ein Tier, vielmehr dich wie ein wahrer Mensch um das wahre und ewige Leben zu bemühen.

Außerdem ist das, was du eine weltliche Tätigkeit nennst, zumeist etwas, das dich nichts angeht. Es sind leerlaufende Beschäftigungen, mit denen du dich überflüssiger Weise einmischst und nur alles durcheinander bringst. Du unterlässt das Notwendigste und vertreibst dir die Zeit mit nutzlosen Informationen, als hättest du ein Leben von Jahrtausenden vor dir. Du fragst zum Beispiel: »Woraus bestehen die Ringe des Saturn?« oder: »Wie viele Rassen von Hühnern gibt es in Amerika?« und vertreibst dir mit dergleichen wertlosen Dingen deine wertvolle Zeit. Als ob du durch Astronomie und Geographie, durch die Wissenschaft und Statistik zur Vollkommenheit (kemal) gelangen könntest!...

Sagtest du: »Was mich von Gebet und Gottesdienst (namaz ve ibadet) abhält und eine Art von Lustlosigkeit und Verdrossenheit in mir aufkommen lässt, sind nicht dergleichen überflüssigen Dinge, es sind vielmehr alle jene unabdingbaren Verrichtungen, die mit der Sorge um das tägliche Brot verbunden sind.« Wäre dies so, dann würde ich dir sagen: »Angenommen, du müsstest für hundert Kurush am Tag arbeiten. Dann käme jemand zu dir und sagte: Komm und schürfe hier für zehn Minuten, dann wirst du Smaragde und Diamanten im Werte von hundert Lira finden! würdest du ihm dann entgegnen: Nein, ich komme nicht. Es würde meinen Tagelohn von hundert Kurush schmälern, würde mir am Lebensunterhalt fehlen... dann weißt du, was für eine törichte Ausrede das wäre.« Denn genauso arbeitest auch du in diesem Weinberg für deinen Lebensunterhalt. Wenn du nämlich die vorgeschriebenen Gebete vernachlässigst, wird die ganze Frucht deiner Arbeit sich lediglich auf weltlichen, bedeutungslosen Lebensunterhalt beschränken und ohne Segen sein. Wenn du die Zeit für Ruhe und Erholung aber dazu verwendest, dem Atemholen deiner Seele (ruh) und der Ruhe deines Herzens zu dienen, wirst du dir zusätzlich zu einem segensreichen irdischen Lebensunterhalt auch noch einen himmlischen Lebensunterhalt verdienen, einen Vorrat für das jenseitige Leben ansammeln und einen wichtigen Brunnen entdecken, der aus zwei geistigen Quellen gespeist wird.

 

Erste Quelle: Von allem, was du in deinem Garten * pflanzt, seien es nun Obstbäume oder Blumen, von jeder Blume und von jedem Baum, der unablässig Gottes Lobpreis verkündet (tesbihat), wirst du in deiner guten Absicht (niyet) einen Anteil bekommen.

 

Zweite Quelle: Darüber hinaus gilt noch: Wer auch immer von dem Ertrag dieses Gartens isst, sei es ein Tier oder ein Mensch, eine Ziege oder eine Fliege, ein Käufer oder Dieb, es wird dir als Sadaqa (Spende) angerechnet werden, allerdings unter der Bedingung, dass du darüber im Namen des wahren Versorgers (Rezzak-i Hakiki) und innerhalb der erlaubten Grenzen verfügst und dich selbst dabei wie einen Verwalter betrachtest, der von den Gütern seines Herrn und Gottes Wohltaten an Seine Geschöpfe austeilt.

Schau also, welch großen Verlust der erleidet, der das Gebet vernachlässigt und welch bedeutenden Reichtum er dadurch verliert. Von diesen beiden Ergebnissen, aus denen ihm Freude erwächst und von den beiden Quellen, aus denen er eine große geistige Kraft für seine Arbeit erhält, bleibt er ausgeschlossen und geht zu Grunde. Ja im Alter verliert er sogar die Freude an seiner Arbeit im Garten, wird ihrer überdrüssig. »Was geht es mich an?«, sagt er... »Ich gehe ohnehin aus dieser Welt. Warum soll ich dann so viele Mühe darauf verwenden?« So verfällt er der Faulheit.

Doch der erste Mann sagt: »Ich werde mich in meinem Dienst für Gott noch mehr einsetzen und mich um die erlaubten Früchte der Arbeit bemühen, sodass ich noch mehr Licht in mein Grab senden werde. Ich werde für mein Leben im Jenseits einen noch größeren Vorrat anlegen.«

Zusammenfassung: Oh meine Seele! Wisse, dass der gestrige Tag deinen Händen entglitten ist. Was aber den morgigen betrifft, so hast du in deiner Hand keine Garantie dafür, dass er dir gehören wird. Wenn dies aber so ist, so wisse, dass dein wahres Leben in dem Tag zu finden ist, in dem du lebst. Darum verbringe auf jeden Fall wenigstens eine Stunde täglich in der Mosche oder auf deinem Gebetsteppich. Das wird für dich so sein, als habest du sie in eine Sparbüchse des Jenseits für deine wahre Zukunft gelegt. Und überdies wisse, dass jeder neue Tag ein Tor zu einer neuen Welt ist für dich und für jedermann. Wenn du das Gebet nicht verrichtest, wird deine Welt an jenem Tage in Finsternis und Verwirrung an dir vorbeigleiten. Dieser Tag wird in der Welt der Beispiele (alem-i misal) als ein Zeuge gegen dich auftreten. Denn ein jeder lebt täglich in einer eigenen Welt innerhalb dieser unserer Welt. Diese Welt gestaltet sich entsprechend dem Herzen und den Handlungen des Menschen. Denn ein königliches Schloss, das man in einem Spiegel betrachtet, nimmt die Farbe dieses Spiegels an. Ist dieser schwarz, sieht es auch schwarz aus. Ist er rot, sieht es auch rot aus. Außerdem ist das Aussehen des Schlosses auch noch von der Form des Spiegels abhängig. Ist das Spiegelglas eben, wird es das Schloss gut abbilden. Ist es uneben, wird das Spiegelbild verzerrt sein. So wie sich dir die feinsten Dinge vergröbert zeigen, so kannst du deine eigene kleine Welt mit dem Herzen, mit dem Verstand, mit deiner Seele, durch deine Handlungen verändern und gestalten. Sie wird dann für dich oder gegen dich Zeugnis ablegen. Wenn du betest und dein Antlitz im Gebet dem Baumeister dieser Welt in Seiner Majestät (Sani-i Dhu l-Djelal) zuwendest, wirst du diese deine kleine Welt plötzlich erleuchtet finden. Es ist, als sei das Gebet eine elektrische Lampe und deine Absicht (niyet) zu beten wie die Bedienung ihres Schalters, so dass die Dunkelheit dieser Welt weichen muss. So zeigt es sich, dass die so chaotischen und so verwirrenden Zustände in dieser Welt, all die Bewegungen und Veränderungen in diesem Tohuwabohu in Wirklichkeit Ausdruck weisheitsvoller Ordnung sind, ein Schriftzug der Macht voll tiefer Bedeutung. So fällt aus dem Licht der Ayah:

 

 

»Allah ist das Licht der Himmel und der Erden.« (Sure 24, 35)

ein Strahl in dein Herz. An jenem Tage wird deine kleine Welt von dem Reflex dieses Lichtes erhellt sein. In diesem Licht wird sie für dich Zeugnis ablegen.

Hüte dich also davor, jemals zu sagen: »Mein Gebet, was ist das schon?... und was ist dagegen ein wahrhaftiges Gebet?« Denn ein Dattelkern enthält wie ein Dattelbaum in sich selbst die Eigenschaften dieses Dattelbaumes. Der Unterschied besteht wie zwischen einer Kurzfassung und einer ausführlichen Darstellung lediglich darin, dass das Gebet gewöhnlicher Leute wie du und ich auch wenn wir es nicht spüren seinen Anteil am Licht eines großen Heiligen (veli) erhält, das Geheimnis seiner Wahrhaftigkeit empfängt - auch wenn du dir dessen nicht bewusst bist. Doch je nach der Entwicklungsstufe des Menschen entfaltet sich auch sein Gebet, unterscheiden sich die verschiedenen Gebete nach ihrer (Licht)aus-strahlung. So wie es vom Dattelkern bis zur ausgewachsenen Palme viele verschiedene Stufen gibt, so finden sich auch zwischen den unterschiedlichen Graden des Gebetes noch mehr verschiedene Stufen. Doch auf all diesen Stufen treffen wir die Wesensmerkmale dieser wahrhaftigen lichten Ausstrahlung...

 

 

»Oh Allah! Sende herab Deinen Frieden und gieße aus Deinen Segen auf den, der gesagt hat: »Das Gebet ist die Säule des Glaubens«, und über seine Familie und alle seine Gefährten.«

 

 

Zweites Kapitel des Einundzwanzigsten Wortes

 

(Enthält fünf Salben für fünf Wunden des Herzens)

 

 

»Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Oh Gott, ich nehme meine Zuflucht zu Dir vor den Einflüsterungen der Teufeln und ich fliehe zu Dir, oh mein Herr, dass sie sich mir nicht nähern.« (Sure 23, 97-98)

Oh du, der du von der Krankheit des Argwohns befallen bist! Weißt du, wem dein Argwohn gleicht? Er gleicht einem Übel. Beachtet man es, bläht es sich auf. Beachtet man es nicht, entweicht es. Betrachtet man es mit großen Augen, dann wächst es. Siehst du es als gering an, verringert es sich. Ängstigst du dich davor, wirst du krank. Wenn du dich nicht fürchtest, wird es leicht, verbirgt sich. Kennst du sein Wesen nicht, so besteht es weiter, setzt sich fest. Weißt du um sein Wesen, kennst du es, geht es. Weil dies aber so ist, will ich hier von den vielen Arten solch übler Einflüsterungen, wie sie am häufigsten vorkommen, insbesondere »Fünf Aspekte« erklären. Vielleicht kann es dir und mir zur Heilung dienen. Denn diese Einflüsterungen sind ein solches Ding, dass die Unwissenheit sie einlädt, Wissen aber sie vertreibt. Hast du dieses Wissen nicht, kommen sie, hast du es aber, dann gehen sie.

 

Erster Aspekt - erste Wunde: Der Teufel wirft zunächst einen Verdacht in das Herz. Wenn das Herz ihn nicht bestätigt, verwandelt sich der Verdacht in eine Beleidigung um. In der Phantasie stellen sich manche unsaubere Gedanken und schamlos unsittlich schmutzige Bilder, einer Beleidigung ähnlich, vor die Seele. Dies bringt das Herz dazu, »Oh weh!« zu rufen. Es stürzt in Verzweiflung. So kommen denn dem Menschen seine Zweifel und er argwöhnt, dass sich sein Herz vor seinem Herrn im Zustande der Lasterhaftigkeit befindet. Er empfindet eine schreckliche Aufregung, ja Panik... Um sich vor ihr zu retten, flieht er Gottes Gegenwart (huzur), möchte in Gottvergessenheit (gaflet) tauchen. Die Salbe für diese Wunde ist folgende:

Sieh einmal, du armer, von Zweifeln geplagter Mensch! Bleib ruhig! Denn was in deiner Vorstellung auftaucht, das ist gar keine Beleidigung, sondern reine Phantasie. So wie ein nur vorgestellter Unglaube kein Unglaube ist, so ist auch eine nur vorgestellte Beleidigung gar keine Beleidigung. Denn logischerweise ist eine bloße Vorstellung noch keine Verurteilung. Nur eine Beleidigung ist ein Urteil. Überdies aber sind diese Schimpfwörter nicht die Worte deines Herzens. Denn dein Herz ist über sie bekümmert, betrübt. Sie entstammen vielmehr jenem Teufelspunkt in der Nähe des Herzens. Der Schaden, den die Einflüsterung verursacht ist der Schaden der Phantasie, d.h. dadurch, dass man sich den Schaden in seiner Phantasie vorstellt, fügt man seinem Herzen einen Schaden zu. Denn man stellt sich eine Einbildung ohne Urteilskraft als eine Tatsache vor. Zudem macht man die Sache des Teufels zu seiner eigenen und schreibt sie seinem Herzen zu. Man meint, dass sein Wort von da käme. Man begreift den Schaden, verfällt dem Schaden. Das aber ist genau das, was der Teufel wollte.

 

Zweiter Aspekt ist folgender: Gedanken, wenn sie im Herzen aufsteigen, werden von der Phantasie bekleidet, weil sie bildlos und nackt sind. Es liegt in der Natur der Phantasie, dass sie stets unter irgendeinem Vorwand irgendwelche Bilder webt. Dinge aber, denen man irgendeine Bedeutung beimisst, ziehen als Bildgestalten ihres Wegs dahin. Der Gedanke, der vorüberzieht, wird je nach Art entweder von der Phantasie bekleidet, oder aber sie hängt ihm nach, oder sie besudelt ihn, oder sie verschleiert ihn. Wenn die Gedanken rein und heilig sind, die Phantasiegestalten aber schamlos und schmutzig sind, so werden sie nicht (von der Phantasie) bekleidet, sondern nur von ihr berührt. Ein skrupulöser Mensch aber verwechselt diese Berührung mit ihrer Gestaltung. »Oh weh!« sagt er. »Wie verdorben ist doch mein Herz! Diese elende, niedrige, gemeine Gesinnung meiner Seele jagt mich in die Flucht.« Der Teufel zieht aus dieser Empfindsamkeit einen sehr großen Nutzen. Die Salbe für diese Wunde ist folgende:

Höre einmal, du Ärmster! Wie die äußerliche Reinheit das Fahrzeug zur kultischen Gesittung für dein Gebet darstellt, so schadet das Unreine, welches sich im Inneren deiner Eingeweide befindet ihr nicht und zerstört sie nicht. Ebenso gilt: der Heiligkeit der Gedanken schadet die Nachbarschaft zu unreinen Bildern und Gestalten nicht. Zum Beispiel: du denkst über die göttlichen Verse (ayat-i Ilahiye) nach. Plötzlich wirst du in deinen Empfindungen heftig von einer Krankheit oder dem Wunsch, ein Bedürfnis zu befriedigen oder deine Notdurft zu verrichten geplagt. Sicherlich wirst du in deiner Phantasie nach einer Medizin Ausschau halten, den Ort zu deiner Erleichterung aufsuchen. Sie wird dir die entsprechenden niederen Bilder weben und die aufsteigenden Gedanken werden durch sie hindurchziehen. Sie werden bei ihrem Durchgang nicht beschädigt, nicht befleckt, nicht gefährdet, nicht gemindert. Eine Gefahr besteht nur darin, seinen Blick auf diese Dinge einzuengen, zu meinen, ein Schaden sei durch sie entstanden.

 

Dritter Aspekt ist wie folgt: Unter den Dingen finden sich manche verborgene Verbindungen (Assoziationen). Ja sogar unter denjenigen Dingen, mit denen dich keinerlei Erwartungen verbinden, finden sich solche Verbindungsfäden. Diese (Verbindungen) können entweder unmittelbar vorhanden sein, oder aber deine Phantasie spinnt diese Fäden je nach Art der Dinge, mit denen sie sich beschäftigt und verbindet sie so miteinander. Aus diesem Geheimnis gegenseitiger Verbundenheit erwächst es, dass manchmal der Anblick von etwas Reinem und Heiligem die Erinnerung an unreine Dinge hervorruft. So wird uns zum Beispiel in der Wortkunde erklärt, dass »Gegensätze, die äußerlich Ursache einer gegenseitigen Entfernung sind, in der Phantasie zur Ursache ihrer eigenen Nähe werden.« Das heißt: das Fahrzeug zur Vereinigung zweier entgegengesetzter Gestalten besteht in ihrer Assoziation durch die Phantasie. Die Erinnerung, welche eine solche Verbindung bewirkt, wird Gedankenverbindung genannt.

Zum Beispiel: Während du dich in deinem pflichtgemäßen oder freien Gebet (namaz, munadja´at) gegenüber der Kaaba, in der göttlichen Gegenwart (huzur-u Ilahi) befindest und gerade über die Ayat nachdenkst, nimmt dich diese Gedanken-Assoziation und führt dich in die entferntesten Niederungen der Geschwätzigkeit. Wenn dein Kopf von einer solchen Gedankenverbindung ergriffen wird, so gib Acht, dass du dich nicht beunruhigst! Rufe dich vielmehr sofort zur Besinnung und kehre um! Sage nicht: »Ach, welchen Fehler habe ich doch da begangen!« und beschäftige dich nicht weiter mit Nachforschungen, damit dieser dünne Faden nicht noch durch deine Aufmerksamkeit an Stärke gewinnt. Denn sobald du dich selbst bedauerst und diesen Dingen deine Aufmerksamkeit schenkst, wird sich dieses schwache Band deiner Erinnerung nur noch verfestigen. Es entsteht eine eingebildete Krankheit. Doch fürchte dich nicht! Es ist keine Krankheit des Herzens. Diese Art von Erinnerung entsteht gewöhnlich ungewollt und tritt besonders bei empfindsamen Personen recht häufig auf. Der Teufel produziert diese Art Stoff, aus dem solche Einflüsterungen bestehen, ziemlich reichlich. Die Salbe für diese Wunde ist folgende:

Gedankenverbindungen stellen sich meist ungewollt ein. Du bist nicht für sie verantwortlich. Überdies stellt sich bei einer Gedankenverbindung lediglich eine Nachbarschaft ein, eine Berührung oder Vermischung findet nicht statt. Deshalb springt kein Gedanke auf einen anderen über, greift ihn nicht an, kann ihm nicht schaden. So wie der Teufel und die Eingebung eines Engels in der Gegend des Herzens einander benachbart sind, und auch die Nähe der Frommen und der Sünder und ihre Wohnungen im selben Hause einander nicht schaden, so schaden auch schmutzige Vorstellungen, die ungewollt durch eine Gedankenverbindung entstehen und unter die reinen Gedanken treten, einander nicht, ausgenommen wenn es absichtlich geschieht, wenn du meinst, du hättest einen Schaden genommen und dich nun besonders mit ihnen beschäftigst. Außerdem wird das Herz manchmal müde*. Dann beginnen die Gedanken sich wahllos mit irgendwelchen Dingen zu beschäftigen, um sich zu amüsieren. Dann erblickt der Teufel eine Gelegenheit, verstreut um sich herum schmutzige Dinge und versucht, sie dir aufzuhängen.

 

Vierter Aspekt: Eine Einflüsterung (des Teufels), die dadurch entsteht, dass man sein Bemühen, das Beste zu geben, durch die Vorstellung der Rechtschaffenheit vertieft und so diesen Zustand noch steigert. Ja er kommt dabei schließlich dahin, dass er der Sünde (haram) verfällt, während dieser Mensch seine Handlungsweise immer noch zu verbessern trachtet. Gelegentlich führt ihn sein Bemühen um die Wahrung der Tradition (sunna) dazu, sogar dazu seine Pflichten (vadjib) zu versäumen. »Habe ich diese Handlung auch wirklich vorschriftsmäßig durchgeführt?« fragt er und wiederholt sie noch einmal. Das geht so weiter und steigert sich bis zur Hypochondrie. Der Teufel zieht aus diesem seinem Zustand seinen Nutzen und verwundet ihn so. Es gibt aber für diese Wunde zwei Heilmittel:

 

Erstes Heilmittel: Diese Art von Zweifel passt zu den Anhängern der I´tisal (eine Irrlehre). Denn sie sagen: »Die Handlungen und Dinge haben in ihrem Wesen in Anbetracht des Jenseits entweder Schönheit und Güte und wurden deshalb befohlen, oder aber sie sind hässlich und verwerflich und wurden deshalb schließlich verboten.

Das heißt also, dass die Schönheit oder Schändlichkeit der Dinge vom Standpunkt des Jenseits und der Wahrheit aus betrachtet deren Wesensmerkmal und von diesem die göttlichen Ge- und Verbote abhängig sind.« Entsprechend dieser Schule (mezheb) kommt einem Menschen bei jeder seiner Handlungen, die er ausführt, der folgende Zweifel: »Habe ich diese Handlung dem Wesen der Angelegenheit (nefs-ul emir) entsprechend schön ausgeführt?«

Die Leute der Schule der Tradition und Gemeinschaft (Ehl-i Sünnet ve Djema´at), welche die rechte Schule ist, sagen hingegen: »Gott der Gerechte befiehlt etwas und daraufhin wird es schön und gut. Er verbietet etwas und daraufhin wird es schlecht und schändlich. Das heißt: durch den Befehl wird die Schönheit, durch das Verbot seine Verwerflichkeit bestimmt. Schönheit oder Schändlichkeit entspricht der Einsicht dessen, der dafür verantwortlich ist und wird ihm gemäß entschieden. Diese Schönheit oder Schändlichkeit ist nicht das Gesicht, das auf das Äußerliche und die Welt blickt, sondern vielmehr das Gesicht, das nach dem Jenseits schaut.

Zum Beispiel: Du hast das Gebet (namaz) verrichtet, bzw. Abdest genommen (d.h. dich zuvor gewaschen - A.d.Ü.). Es gab da jedoch einen Grund, der Namaz und Abdest ungültig werden lässt, was das Wesen der Angelegenheit (nefsu l-emir) betrifft. Diesen (Grund) hast du jedoch überhaupt nicht bemerkt. So sind denn namaz und Abdest sowohl gültig (vor Gott), und du hast (deine Sache) auch schön und gut gemacht (d.h. ihre Legalität und Qualität wurden nicht berührt - A.d.Ü.).

Der Mu´tezile (Irrlehrer) sagt nun: »Es ist dies in Wirklichkeit unschön und verdorben. Jedoch wird es von dir angenommen. Denn du hast (deinen Fehler) nicht bemerkt, nicht erkannt und bist deshalb zu entschuldigen.«

Was jedoch die Leute der traditionellen Schule (Ehl-i Sünnet) betrifft, so sollst du, nachdem du deine Sache nach eigener Überzeugung vorschriftsmäßig (Scharia) getan hast, nicht mehr daran zweifeln, indem du sagst: »Habe ich es denn richtig gemacht?« vielmehr sagen: »Ist es (das Gebet von Gott) angenommen worden?« Sei nicht stolz darauf und bewundere dich nicht selbst!

 

Zweites Heilmittel:

 

 

»Es gibt keinen Zwang im Glauben.«

Es gibt nun einmal vier richtige Wege (mezheb) und es ist vorzuziehen, dass ein Mensch, der sich selbst im Zweifel ist, seine Fehlerhaftigkeit eingesteht, was ihn zur Vergebung führt, statt seine Handlung als schön und gut anzusehen, was zu seinem Stolz führt. Das heißt, es ist für einen Menschen besser, der sich selbst im Zweifel ist, seine Handlung als mangelhaft zu betrachten und um Vergebung zu bitten, statt seine Handlung als schön und gut zu betrachten und dem Stolz zu verfallen. Da dies also nun einmal so ist, wirf deinen Zweifel von dir. Sage zu dem Teufel: »Dieser Zustand ist geradezu zwanghaft. Es ist ja schwierig zu wissen, was in dieser Lage das Richtige ist. Das widerspricht jedoch der Ungezwungenheit im Glauben. Es ist unvereinbar mit dem Grundsatz:

 

 

»Der Glaube ist leicht (zu praktizieren).«

und

 

 

»Es gibt keinen Zwang im Glauben.«

So entspricht meine Handlung (mit dieser Einstellung) sicherlich irgendeinem (dieser vier) richtigen Wege (mezheb). Und das ist für mich ausreichend. Und (diese Einstellung) ist zugleich ein Fahrzeug hin zu einem Gebet (niyaz) der (tief innerlichen Erschütterung und) Zerknirschung um Vergebung meiner Fehler und um Annahme meiner fehlerhaften Handlung, da ich wenigstens meine Schwäche eingestehe, das Gebet (ibadet) so zu verrichten, wie es sich gebührt und also in Reue und flehendlichem Gebet meine Zuflucht zur göttlichen Barmherzigkeit (merhamet) nehme.«

 

Fünfter Aspekt: Dies ist eine Einflüsterung in Glaubensdingen, welche die Gestalt eines Zweifels annimmt. Der arme, von einer solchen Einflüsterung geplagte Mensch verwechselt zuweilen eine flüchtige Idee mit einer festen Überzeugung, d.h. er meint, der Zweifel, der seine Phantasie erregt hatte, habe von seinem Verstand Besitz ergriffen und er sei dadurch in seinem Glauben schwach geworden. Er meint also, diese Annahme, mit der er sich gelegentlich in seiner Phantasie beschäftigt, sei ein Zweifel, der an seinem Glauben nagt. Er meint, dass dieser Zweifel, den er sich in seinem Inneren ausgemalt hatte, ein Zweifel sei, der bereits in seinem Verstand eine Bestätigung gefunden habe. Er meint schließlich, ein zeitweiliges Nachdenken über den Unglauben sei bereits Unglaube (kufr), d.h. er meint, wenn er seine Gedanken in der Form kreisen lasse, dass er versuche, die Gründe des Irrglaubens zu erfassen, zu analysieren und sie unparteiisch zu beurteilen, so stünde dies im Widerspruch zu seinem Glauben. So erschrickt er über diese Mutmaßungen, welche ein Werk des Teufels und seine Einflüsterung sind und er ruft: »Oh weh! Mein Herz ist verdorben. Ich habe Schaden genommen an meinem Glauben.«

Da diese Zustände sich meistens ungewollt einstellen und durch einen willentlichen Entschluss nicht wieder zu beheben sind, verfällt er der Verzweiflung. Das Heilmittel für diese Wunde ist folgendes:

So wie die Idee des Unglaubens kein Unglaube ist, so ist auch ein lediglich vorgestellter Unglaube kein Unglaube. So wie ein Irrglaube, den man sich ausgemalt hat, kein Irrglaube ist, so ist auch das Nachdenken über den Irrglauben kein Irrglaube, denn Ideen, Vorstellungen, Bilder der Phantasie und Gedankengebilde sind das eine, die Bestätigung durch den Verstand und die Annahme des Herzens sind das andere, also voneinander verschieden. Sie agieren in gewissem Grade unabhängig. Sie hören nicht besonders auf den Entschluss und den Befehl des Willens. Man kann sie nur schlecht der religiösen Verantwortung unterziehen. Mit der Annahme und der Bestätigung ist das aber anders. Sie sind der Waage verpflichtet (d.h. sie haben ihr Maß - A.d.Ü.).

So wie Ideen, Vorstellungen, Bilder und Gedanken nicht deren Annahme und noch keine Bestätigung sind, so werden sie auch nicht unter die Ungewissheiten und Zweifel gerechnet. Wenn sie jedoch durch beständige und immerwährende nutzlose Wiederholung zum Dauerzustand werden, so kann aus ihnen durchaus eine Art tatsächlicher Zweifel entstehen. Wer hingegen behauptet, er wolle ja nur unparteiisch urteilen, er denke nur, was recht und billig ist, und so immer wieder die Gegenseite unterstützt, der gleitet schließlich in jenen Zustand, wo er unfreiwillig die Gegenseite unterstützt. Er zerbricht die Verteidigung der Wahrheit, zu der er verpflichtet gewesen wäre. Somit gerät er zugleich auch in Gefahr. Wer sich zum selbsternannten Verteidiger der Gegenseite oder zum advocatus diaboli macht, in dessen Denkweise verfestigt sich dieser Zustand am Ende gar. Das Entscheidende bei dieser Art von Einflüsterung ist dieses: Der von einer solchen Einflüsterung geplagte Mensch verwechselt eine Möglichkeit, die an und für sich besteht (imkan-i dhati) mit einer Möglichkeit als gedankliche Vorstellung, d.h. er stellt sich das, was er an und für sich für möglich ansieht, auch in Gedanken als möglich vor (d.h. er stellt sich das, was theoretisch möglich wäre, auch als praktisch möglich vor - A.d.Ü.) und sein Verstand gerät darüber in Zweifel (ob es nicht vielleicht tatsächlich so wäre - A.d.Ü.). Als ein Grundsatz der Theologie gilt jedoch:

»Eine Möglichkeit an sich widerspricht nicht einer wissenschaftlichen Tatsache und steht nicht im Widerspruch zu einer gedanklichen Konsequenz.« Zum Beispiel ist es an und für sich möglich, dass das Schwarze Meer in diesem Augenblick von der Erde verschluckt wird und als eine solche Möglichkeit an und für sich vorstellbar ist. Doch ist mit Sicherheit unser Urteil darüber, dass das Meer noch an seiner Stelle ist. Dies wissen wir ohne einen Zweifel und diese Möglichkeit an sich weckt nicht etwa einen Verdacht, lässt keinen Zweifel offen, vermag unsere Sicherheit nicht zu erschüttern. Oder ein anderes Beispiel: Es wäre an und für sich möglich, dass die Sonne heute nicht unterginge oder morgen nicht wieder aufginge. Diese Möglichkeit kann unserer Gewissheit jedoch keinen Schaden zufügen, vermag sie nicht in Zweifel zu ziehen. So kann denn dementsprechend z.B. der Untergang unseres irdischen Lebens und der Aufgang des Lebens im Jenseits, den Glaubenswahrheiten entsprechend, durch die Zweifel, die aus einer bloßen Möglichkeit (imkan-i dhati) erwachsen unserer Glaubensgewissheit keinen Schaden zufügen. Desgleichen gilt:

 

 

»Eine Möglichkeit, die nicht bewiesener und begründetermaßen erwächst, ist ohne Bedeutung.«

Dieser berühmte Grundsatz ist die unverrückbare Basis sowohl der Theologie (usulu-d´din) als auch der Rechtslehre (usulu-l´fiqh).

Wenn du also sagst: »Was ist der Sinn dessen, dass wir dermaßen durch solche Einflüsterungen, die doch für die Gläubigen so quälend und peinigend sind, geplagt werden?« so lautet die Antwort darauf: Die Einflüsterungen (des Bösen) sind im Grunde genommen, vorausgesetzt, dass sie nicht überhand nehmen, nicht den Sieg davontragen, ein Anlass zur Wachsamkeit, ein Ansporn zum Studium und ein Fahrzeug zur Ernsthaftigkeit. Sie vertreiben die Gleichgültigkeit und beseitigen den Müßiggang. Darum hat der Allweise in Seiner Vollkommenheit, um uns anzuspornen dem Teufel die Einflüsterungen als Peitsche an diesem Ort der Prüfung, dieser Wettkampfarena, in die Hand gegeben. Er schlägt damit dem Menschen auf den Kopf. Wenn er jedoch allzu lästig und beschwerlich wird, muss man es dem Allweisen Erbarmer klagen und

 

 

»Ich nehme meine Zuflucht zu Gott vor dem verfluchten Satan!«

sagen.

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