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Wikileaks-Coup zeigt die Ohnmacht der Isaf-Truppen

 

Die veröffentlichten Dokumente über den Afghanistan-Krieg bringen Gewissheit: Die Isaf-Truppen sind dauerhaft in der Defensive.

 

Wie lange kämpfen sie noch? US-Soldaten beim Gefecht in Afghanistan

 

von Ansgar Graw

 

Der enge Mitarbeiter eines ranghohen Außenpolitikers im US-Senat flachst die spektakuläre Enthüllung in die Sphäre der Belanglosigkeiten: „Willkommen in der Demokratie“, sagt er mit dem Unterton des Gelangweilten zur Veröffentlichung von etwa 75.000 zum großen Teil der Geheimhaltung unterliegenden Dokumenten aus dem Afghanistan-Krieg durch die Enthüllungs-Plattform Wikileaks. Die darin behandelten Fakten seien allesamt bekannt und zeichneten kein neues Gesamtbild der Lage, sagt der Washington-Insider.

 

Robert Gibbs, der Sprecher von Präsident Barack Obama, reagierte jedoch gänzlich anders. Die Veröffentlichung des Materials stelle einen „Verstoß gegen Bundesgesetze“ dar, sagte Gibbs am Tag der Enthüllung vor der Hauptstadtpresse und warnte vor den Folgen. Die Veröffentlichung von „Namen, Operationen und Programmen hat das Potenzial, den Soldaten und denen, die mit ihnen zusammenarbeiten, schweren Schaden zuzufügen“, warnte die Stimme des Weißen Hauses.

 

http://www.welt.de/multimedia/archive/01164/wikileaks_DW_Polit_1164158z.jpg

 

Gegensätzlicher könnten die Aussagen kaum sein zu der Groß-Enthüllung, die generalstabsmäßig vorbereitet wurde durch die Einbindung der „New York Times“, des „Guardian“ in London und des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Dabei haben der Kongressmitarbeiter, der auf Anonymität besteht, und der Präsidentensprecher gleichermaßen Recht. Grundlegend neue Fakten über die Situation am Hindukusch gibt es in dem bislang nur in Teilen ausgewerteten Wust an Detailinformationen offensichtlich nicht.

 

Seit geraumer Zeit zeichnet sich ab, dass die internationalen Isaf-Truppen und die Kabuler Regierung Rückschläge hinnehmen müssen und der Einfluss der radikalislamischen Taliban neun Jahre nach der US-Invasion wieder wächst. Doch die schiere Quantität übereinstimmender Lagebeurteilungen, nach denen sich die Situation in dem von den Dokumenten erfassten Zeitraum 2004 bis Ende 2009 verdüstert hat, schafft gleichwohl eine neue Qualität. Die verbreitete Einschätzung, es laufe schlecht, gerinnt durch diese Informationen zur Erkenntnis, dass es schlecht steht. Einen „Indizienbeweis“ nennt man so etwas in der Juristensprache. In den von Wikileaks publizierten Quellen fehlt nämlich jeder Silberstreifen am Horizont, jenes „aber andererseits“, das Politiker und führende Militärs nach dem Eingeständnis existierender Probleme gern anführen.

 

Natürlich ist es möglich, mit echten Dokumenten ein falsches Bild zu vermitteln, indem man nur Nachrichten auswählt, die ein negatives Bild zeichnen. Sollte dies bei der Wikileaks-Aktion der Fall gewesen sein, wäre das Pentagon gefordert, umgehend das Gesamtbild abzurunden und „die andere Seite“ darzustellen. Wie man genehme Informationen an Medien durchsticht, weiß man im Verteidigungsministerium.

 

Doch zunächst spricht mehr dafür, dass die vermeintlichen Silberstreifen wenig Strahlkraft haben. Dass der pakistanische Geheimdienst die Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer unter der Hand stabilisiert, wird seit geraumer Zeit gemutmaßt, und auch die Motive dafür sind bekannt: Mitunter handelt es sich um eigenmächtige Aktionen von Islamisten unter den Agenten, denen die Anwesenheit der US-geführten Truppen in der Region ein Ärgernis ist. In anderen Fällen steckt politisches Kalkül der Führung in Islamabad dahinter.

 

Solange die Taliban einen Machtfaktor darstellen, ist gewährleistet, dass, erstens, der Erzrivale Indien seinen Einfluss in Afghanistan nicht ausbauen kann und dass, zweitens, jenes US-Engagement, das auch als Schutz gegen indischen Druck auf Pakistan angesehen wird, nicht nachlässt. Die üble Rolle, die Hamid Gul, der Ex-Chef des pakistanischen Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI) und persönliche Freund von Osama bin Laden dabei spielt, ist ebenfalls seit geraumer Zeit aktenkundig. Doch der von den Wikileaks-Dokumenten unterstellte Umfang pakistanischer Hilfe ist alarmierend.

 

Ähnliches gilt für konkrete Hinweise darauf, dass die Taliban offenkundig über mobile, infrarotgelenkte Bodenluftraketen, mutmaßlich vom Typ Stinger, verfügen und damit mindestens einen US-Hubschrauber vom Typ Chinook abgeschossen haben. Dabei starben im Mai 2007 sieben Menschen in der Provinz Helmand. In Nato-Kreisen wird versichert, dies sei „nicht neu“. Aber nach dem damaligen Vorfall dementierte das US-Militär, dass die Taliban über derart gefährliche Waffen, offenkundig eine Hinterlassenschaft amerikanischer Liebesgaben an die Mudschaheddin in den 80er-Jahren für den Kampf gegen die sowjetischen Besatzer, verfügen. Nun darf von Militärs in einem Krieg nicht die gleiche Transparenz erwartet werden wie vom Schatzmeister eines Taubenzüchtervereins im Kassenbericht. Hier aber ging es um ein Detail, das bereits im Isaf-Intranet zu lesen war. Solche unnötigen Versuche, Offenkundiges zu verbergen, erschüttern das Vertrauen in alle künftigen Verlautbarungen des Militärs.

 

Wenn es schon militärisch nicht laufe, seien aber doch die Fortschritte im karitativen Bereich und beim Wiederaufbau des Landes ermutigend, wird oft argumentiert. Doch die jetzt veröffentlichten Dokumente belegen auch gegenteilige Erfahrungen. Im November 2006 etwa berichtete danach eine amerikanische Zivilangestellte euphorisch über die Eröffnung eines Waisenhauses in der Provinz Paktia, finanziert vom US-Militär. Bei einem erneuten Besuch der Einrichtung einen Monat später trafen die Amerikaner aber nur wenige Kinder und kaum Betreuer, für deren Anstellung sie doch Geld gezahlt hatten – und bei einer erneuten Überprüfung im Oktober 2007 fanden sie keine einzige Waise. Die Spenden waren offenkundig nicht bei jenen angekommen, denen sie helfen sollten.

 

Zwar mag sich die Lage in Afghanistan schrittweise verbessern durch die Truppenverstärkung, die Präsident Obama Ende 2009 anordnete. Doch die bisherigen Nachrichten des Jahres 2010, das mutmaßlich den bislang größten Blutzoll und die meisten Opfer von den Isaf-Kräften fordern wird, spiegeln davon wenig wider. Die Großoffensive gegen die Taliban in Helmand im Süden des Landes, die im Februar anlief, ist nach Eingeständnissen der Militärs weniger erfolgreich verlaufen als erhofft. Im Norden, wo die Bundeswehr die militärische Verantwortung trägt, nimmt die Gewalt der Aufständischen ebenfalls zu.

 

Washington sah sich veranlasst, den Oberkommandierenden General Stanley A. McChrystal nach despektierlichen Bemerkungen über mangelhafte politische Unterstützung abzusetzen. Zwischen dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und seinen westlichen Verbündeten, Obama allen voran, ist die einstige Nähe Misstrauen gewichen. Und schließlich reihen sich die Nachrichten vom Wochenende über zwei von den Taliban entführte US-Soldaten, von denen einer am Sonntag tot aufgefunden wurde, in diese Bilanz der Rückschläge ein.

 

Die Enthüllungen bedrohen Obamas politische Pläne. Im Kongress gibt es insbesondere in seiner eigenen Partei ohnehin Widerstand gegen die weitere Finanzierung des Krieges in Afghanistan. Führende Demokraten wollten das entsprechend Gesetz gestern am liebsten sofort durchwinken lassen, bevor die neue Debatte die Unruhe verstärkt. Im Senat steht am Donnerstag eine Anhörung zur Ernennung von General James N. Mattis als Oberkommandierenden des Central Commands an. Der Nachfolger von Petraeus, der wiederum McChrystal in Afghanistan ersetzt hat, wird auch für diesen Kriegsschauplatz zuständig sein. Die veröffentlichten Dokumente dürften darum auch im Senat zur Sprache kommen.

 

Washington und wichtige Truppensteller wie insbesondere Großbritannien und Deutschland müssen sich in dieser Situation entscheiden: Sie können die Dinge weiter laufen lassen und damit einem militärischen und politischen Scheitern entgegensteuern. Sie können aber auch die Veröffentlichung der Dokumente weniger als Bedrohung ihrer Strategie denn als Weckruf zu ihrer Überprüfung begreifen. Die Truppen, vor allem aber die Finanzmittel müssten deutlich erhöht werden, um aus der Defensive in die Offensive zu kommen.

 

Um nachrangige Taliban-Gefolgsleute zu gewinnen und Opiumbauern ihre Ernte abzukaufen und dann zu vernichten. Um örtliche Machthaber, oft als „Warlords“ bezeichnet, zu stabilisieren. Das alles ist nicht sehr appetitlich, aber verglichen mit einer Kapitulation vor den gewaltbereiten Missionaren eines islamistischen Terrornetzwerks die bessere Alternative. Vielleicht darf man Wikileaks am Ende für eine notwendige Indiskretion sogar dankbar sein.

 

 

 

WELT ONLINE, 27.07.2010

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