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„Frankreich altert, Deutschland vergreist“

Von Michaela Wiegel, Paris (FAZ)

 

08. Februar 2010 Die demographische Entwicklung in Deutschland und in Frankreich verläuft gegensätzlich. Während die deutsche Bevölkerung seit 2003 schrumpft, wächst Frankreich aufgrund seines Geburtenüberschusses kontinuierlich. Früher als erwartet, vermutlich schon zur Mitte des Jahrhunderts, dürfte Frankreich mehr Einwohner als Deutschland zählen.

 

„Bei ähnlichen Produktivitätssteigerungen diesseits und jenseits der Grenze könnte Frankreich Mitte des Jahrhunderts nicht nur demographisch, sondern auch wirtschaftlich vor Deutschland stehen.“ Das sieht eine vom französischen Forschungsinstitut Ifri im Januar veröffentlichte Studie voraus, die den Titel „Le décrochage démographique“ (deutscher Titel: Ungleiche Nachbarn) trägt.

 

 

Fertilitätsrate sogar gestiegen

 

Die Autoren Stephan Sievert und Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung sind mit ihrem Ländervergleich in Frankreich auf großes Interesse gestoßen. Muss Frankreich der deutsche Bevölkerungsschwund beunruhigen? Ist das schrumpfende Deutschland zu einer langsamen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Agonie verurteilt, wie es der Essayist Yves-Marie Laulan in seinem provokativen Buch: „Deutschland: Chronik eines angekündigten Todes“ prophezeite?

 

Französische Frauen bekommen knapp 50 Prozent mehr Kinder als ihre Nachbarinnen auf der anderen Seite des Rheins. In den vergangenen Jahren haben die Französinnen den Vorsprung zu den deutschen Frauen sogar noch vergrößert. Zwischen 1997 und 2008 ist die Fertilitätsrate in Frankreich von 1,73 auf 2,0 gestiegen (die Überseegebiete mitgerechnet sogar auf 2,02).

 

Deutschland weist 2008 eine Fertilitätsrate von 1,38 aus. Der Trend, Geburten zunächst aufzuschieben, ist dabei auch in Frankreich erkennbar. Aber Französinnen holen die Geburten anders als die Deutschen in späteren Jahren nach.

 

Gesellschaftliche Wertschätzung von Kindern

 

Die unterschiedliche Entwicklung führen Sievert und Klingholz darauf zurück, dass Familienpolitik in Paris schon viel früher auf der politischen Agenda stand als in Berlin. Aus Sorge, vom dynamischen deutschen Bevölkerungswachstum Ende des 19. Jahrhunderts „überrollt“ zu werden, wurde die Familienplanung frühzeitig zum Teil der Staatsräson.

 

Als Geburtsstunde umfassender staatlicher Maßnahmen nennen die Autoren den 1939 verabschiedeten „Code de la famille“. Die Geburtenförderung wurde kontinuierlich den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepasst.

 

Auch jetzt sei Frankreich Deutschland einen Schritt voraus, indem es flexible Beschäftigungsmodelle sowie längere Elternzeiten fördere. Die Familienpolitik ist einer der Gründe, warum Frankreich nie sehr niedrige Fertilitätsraten erlebte. Mindestens genauso wichtig sei aber auch die gesellschaftliche Wertschätzung von Kindern, die in Frankreich ungebrochen fortbestehe.

 

Finanzielle Anreize sind nicht die Lösung

 

Der Bundesrepublik attestieren Sievert und Klingholz, in einer „Fertilitätsfalle“ zu stecken. Für deutsche Frauen und Männer sei es zur sozialen Norm geworden, wenige oder gar keine Kinder zu haben. „Für die Familienpolitik bedeutet der niedrige Kinderwunsch einen begrenzten Handlungsspielraum“, schreiben die Autoren. Sie bezweifeln, dass Elterngeld und andere finanzielle Anreize die demographische Abwärtsspirale beenden können.

 

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Laulan, der nicht glaubt, dass mit Kindergärten, Krippen oder Ganztagsschulen die drohende „demographische Katastrophe“ abgewendet werden kann. Für Laulan wirft der demographische Niedergang vielmehr die Frage auf, warum der Kinderwunsch gerade bei gut ausgebildeten jungen Deutschen abgenommen habe. Wenn ein hoher Anteil von jungen Akademikerinnen auf Kinder verzichte, dann liege es nicht daran, dass sie sich diese im materiellen Sinne nicht leisten können.

 

„Niemand wird sich Kinder wünschen, wenn er nicht, wenn auch nur unbewusst, an die Zukunft glaubt, wenn er sich nicht danach sehnt, dass seine Nation und sein Vaterland über seine eigene Existenz hinaus fortbestehen“, schreibt Laulan. „Ist es Deutschland nach dem Krieg vielleicht zu gut gelungen, die Idee einer Nation abzutöten?“, fragt der Essayist.

 

 

Jedes dritte geborene Kind in Deutschland hat Migrationshintergrund

 

Die Autoren Sievert und Klingholz korrigieren die weitverbreitete Vorstellung, dass Frankreichs Bevölkerungswachstum vor allem auf Zuwanderung zurückzuführen ist. Frankreich weist auch nach dem Ende des Babybooms in den siebziger Jahren kontinuierlich einen Geburtenüberschuss auf.

 

Deutschland hingegen verzeichnet seit 1972 durchgehend mehr Sterbefälle als Geburten. Demographisches Wachstum beruhte in Deutschland über Jahrzehnte auf Zuwanderung. In Frankreich ist es genau umgekehrt: Vier Fünftel des Zuwachses sind dem Geburtenüberschuss zu verdanken. „Das ist für ein westeuropäisches Land äußerst ungewöhnlich“, schreiben die Autoren.

 

Aufgrund der schnellen Einbürgerungsverfahren liegen zuverlässige Statistiken über den Anteil von Müttern mit Migrationshintergrund in Frankreich nicht vor. Für Deutschland sind die Zahlen indessen bekannt. Jedes dritte Kind, das in Deutschland geboren wird, hat einen Migrationshintergrund. Das liegt an der höheren Fertilität dieser Bevölkerungsgruppe und an ihrer Altersstruktur. Unter Migranten sind anteilsmäßig deutlich mehr Frauen im gebärfähigen Alter als unter Deutschstämmigen.

 

Alterungsprozess trifft beide Länder

 

Frankreich wird durch seine Wachstumsdynamik allerdings nicht von der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft verschont. Der Alterungsprozess vollzieht sich nur langsamer als im kinderarmen Deutschland. Sievert und Klingholz haben für die parallele Entwicklung die griffige Formulierung „Frankreich altert, Deutschland vergreist“ gefunden.

 

Frankreich muss sich allerdings nicht darauf vorbereiten, Deutschland in der Rolle des bevölkerungsreichsten Staates in der EU abzulösen. Stimmen die Prognosen, dann gewinnt Großbritannien bis zum Jahr 2050 den Status des bevölkerungsreichsten Landes in der EU. Nur die Türkei, für deren EU-Mitgliedschaft Großbritannien eintritt, könnte dem Land den Rang streitig machen.

 

http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6B3E60C4EA807F/Doc~E062B3C8934614D6A95D0E332DAA6688B~ATpl~Ecommon~SMed.html#DD5ACC1164A3458AA8CFB6C29342385A

 

Text: F.A.Z.

Bildmaterial: F.A.Z., picture-alliance / dpa/dpaweb, picture-alliance/ ZB

 

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