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25.09.2009 Mohammad Nazir, von der UK Halal Corporation, will einen europaweiten Halal-Standard

 

Zwischen Industrie und Muslimen

 

Das Thema des Halal-Marktes ist im wahrsten Sinne „in aller Munde“. Seit Jahren wird beinahe ein regelrechter Hype um die sagenhaften Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten der Branche betrieben. Dabei sind nicht nur bei uns in Deutschland viele Fragen offen. Nutzen die neuen Standards den Muslimen oder der Industrie? Muss alles und jedes mit einem Halal-Siegel versehen werden? Und was tun, wenn die Nahrung zwar formal „halal“ ist, aber berechtigte Zweifel hinsichtlich ihrer Eigenschaft des ­ „tajjib“ bestehen?

 

Um diese und andere Fragen ging es in unserem Gespräch mit Mohammad Nazir, dem Direktor der UK Halal Corporation, einem Zusammenschluss unterschiedlicher britischer Institutionen und Interessengruppen zur Schaffung eines auch international haltbaren Halal-Standards. Die Körperschaft kündigte jüngst die Gründung einer europäischen Einrichtung an, die europaweit einen Halal-Standard anbieten will. Dessen Launch soll die internationale Halal-Konferenz im niederländischen Den Haag im November sein.

 

Islamische Zeitung: Die von ihnen mit ins Leben gerufene Europäische Agentur für Halal-Zertifizierung klingt nach einem ziemlich ambitionierten Projekt. Wer steckt dahinter und was sind die wichtigsten Aufgaben dieser Einrichtung?

 

Mohammad Nazir: Wir, die UK Halal Cooperation, betrieben in den letzten Jahren einen Halal-Standard in Großbritannien. Vor sieben Jahren beschlossen ich, als deren Direktor, sowie führende Geschäftsleute und Repräsentanten aus der muslimischen Community in Großbritannien ihre Gründung. Dies gelang in Zusammenarbeit mit Regierungseinrichtungen, Unternehmen der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, Bauernverbänden sowie Industrie- und Handelskammern.

 

Angesichts existierender Lücken und Mängel in den damals bestehenden Halal-Regelwerken sahen wir die Notwendigkeit, dass diese verbessert werden müssten. Standards wie der malaysische JAKIM, sowie die von Brunei, den USA, aus dem Nahen Osten, Australien oder Neuseeland waren dabei eine Basis, auf der wir aufbauen wollten.

 

Generell hatten wir uns bereits damals mit vielen Menschen über die Möglichkeit zur Einrichtung und Weiterentwicklung eines verbindlichen europäischen Standards beraten. Dieser könnte dann dazu benutzt werden, um Produkte, die auf eine Halal-Art erzeugt wurden, zu zertifizieren. Unser jetziger Standard beruht auch auf dem britischen „UK Retail Consortium“-Standard. Dieser Standard ist weltweit anerkannt, da er von international renommierten Prüf­organisationen untersucht wurde.

 

Islamische Zeitung: Was zeichnet den von ihnen begründeten britischen Standard aus?

 

Mohammad Nazir: Unser Standard ist sehr umfassend. Vor seiner Festlegung haben wir eine Mängeluntersuchung der bereits bestehenden vorgenommen. Dabei hat sich ergeben, dass teilweise große Lücken in diesen zu finden waren.

 

Unsere Bestimmungen sind insofern überlegen, als dass sie ein weit um­fassenderes Gebiet abdecken. Sie betreffen die Lebensmittelerzeugung, die ­Hygiene der Nahrungsmittel, die Vorgänge bei der Produktion und das Problem der möglichen Verunreinigung durch unerlaubte Substanzen. In diesem Sinne ist der unsere ein gut entwickelter Standard.

 

Die europäische Perspektive kam bei uns zu Stande (auch wenn wir wissen, dass es in einigen europäischen Ländern bereits bestehende Regelwerke gibt), nachdem wir daran arbeiteten, einen Standard zu schaffen, der mit dem malaysischen JAKIM, aber auch mit dem in den USA oder in Australien kompatibel ist. Wir wollten eine Schnittstelle schaffen, die es allen in Europa, die es wollen, in Zukunft erlaubt, mit uns zusammenzuarbeiten.

 

Dabei handelt es sich nicht um etwas, das exklusiv uns gehört, sondern der gesamten muslimischen Gemeinschaft. Jeder, der in Europa auf Grundlage dieser Regeln mit uns kooperieren möchte, ist mehr als willkommen. Zu diesem Zweck arbeiten wir augenblicklich einerseits mit verschiedenen internationalen Parametern und andererseits befinden wir uns im Gespräch mit Vertretern aus unterschiedlichen europäischen Ländern, um alle Interessierten auf eine gemeinsame Plattform zu vereinigen.

 

Wir zielen auf das internationale Halal-Meeting im niederländischen Den Haag im November ab, um dort unsere Gespräche fortzusetzen. Dort möchten wir als europäische Agentur eine weltweite Absichtserklärung in Sachen Halal-Standard unterzeichnen, an der auch Malaysia und die USA teilnehmen sollen. Dies führt, inscha Allah, zur Schaffung eines einheitlichen internationalen Standards.

 

Islamische Zeitung: Gab es bisher Hindernisse bei der Schaffung eines europaweiten Regelwerks?

 

Mohammad Nazir: Bisher gab es kaum große Hindernisse bei diesem Projekt. Denn der Standard spricht für sich. Normalerweise werden diese Regeln genutzt, um Inspektionen durchzuführen. Der Nachteil anderer Standards war bisher, dass viele davon von Leuten entwickelt wurden, die nicht aus der Lebensmittelindustrie kommen und daher nicht immer mit den dortigen Prozessen vertraut sind. Unser Standard verbindet auf gelungene Art und Weise die Anforderungen von Erzeugern wie von muslimischen Verbrauchern.

 

Bisher sind wir noch nicht förmlich an die Öffentlichkeit getreten. Im Augenblick gibt es keine Hindernisse, sodass einer öffentlichen Vorstellung im November in Den Haag nichts im Wege steht. Bis wir das nicht getan haben werden, können wir auch nicht endgültig sagen, ob es in Zukunft nicht doch noch zu Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem europäischen Halal-Standard kommen wird. Was wir bisher vorweisen können, ist eine Reihe von anerkannten Unternehmen, die sich an uns gewandt haben, um eine Akkreditierung bei der Europäischen Halal-Zertifizierungsagentur zu erhalten.

 

Islamische Zeitung: Welche Dienstleistungen bieten sie an?

 

Mohammad Nazir: Einen kompletten Zertifizierungsprozess von der Landwirtschaft bis auf den Teller des Verbrauchers und von allem, was dazwischen mit Lebensmitteln geschieht. Darüber hinaus bieten wir auch die Ausbildung von Kontrolleuren und Inspektoren an. Bereits jetzt haben sich schon internationale Fragesteller an uns gewandt, die an diesem Ausbildungsprogramm Interesse haben. So haben wir jetzt schon Inspektoren aus dem Nahen Osten, aus Indien und anderen Orten trainiert. Wir bieten außerdem islamische Kurse und Seminare zur Frage der Halal-Ernährung für den öffentlichen und den privaten Sektor an, damit diese verstehen können, was „Halal“ bedeutet und was dessen Bedingungen sind.

 

Islamische Zeitung: In Deutschland gibt es, beispielsweise bei der Frage des Schlachtens, keinen Konsens unter den Muslimen. Wie sieht die Lage in Großbritannien aus?

 

Mohammad Nazir: Im Moment gibt es keinen Konsens. Wir folgen den Regeln, auf die sich die muslimischen Gelehrten geeinigt haben. Zur Zeit gibt es zwei „Lager“. Internationale Konferenzen in Malaysia und in Saudi-Arabien mit bekannten ‘Ulama waren sich darüber einig, dass unter den gegebenen Umständen Schlachten mit Betäubung annehmbar sei. Andere Gelehrte sind der Ansicht, dass dies unannehmbar sei.

 

In unseren eigenen Regeln haben wir festgelegt, dass das Tier zum Zeitpunkt der Schlachtung am Leben sein muss. Dies ist absolut entscheidend. Wir beraten uns augenblicklich mit dem Europäischen Fatwa-Rat über diese Frage, um festzustellen, ob wir hier weitere Hinweise bekommen können. Wir möchten diesen Konflikt nicht in unsere Agentur hineintragen.

 

Es gibt Märkte, auf denen die Leute die Schlachtung mit Betäubung anerkennen, und solche, auf denen dies nicht möglich ist. Daher können wir als Europäische Halal-Zertifizierungsagentur nicht gleichzeitig beiden Denkschulen gerecht werden. Wir können auf jeden Fall garantieren, dass die Standards bei nicht-betäubtem Fleisch eingehalten werden. Bei Betäubungen können wir zumindest garantieren, dass diese nicht eingesetzt wurden, um Tiere zu töten, sondern dass diese bei der Schlachtung noch am Leben waren.

 

In Großbritannien ist eine Apparatur zur Überwachung der Betäubung entwickelt worden, die kontrollieren kann, ob das Tier nach der Betäubung am Leben ist oder nicht. Wir konnten gemeinsam mit dem Bauernverband in Frankreich anhand eines Videos nachweisen, dass Schafe 40 Sekunden nach der Betäubung wieder herumlaufen konnten, ohne bleibenden Schaden davon getragen zu haben. Wir möchten uns nicht zur Partei in dieser Debatte zwischen den beiden „Lagern“ in der Frage der Betäubung machen, da für uns die Position der Gelehrten dabei sehr klar ist.

 

Islamische Zeitung: Lieber Mohammad Nazir, in den letzten zwei Jahren ist es zu einem regelrechten „Hype“ um die Halal-Industrie beziehungsweise um die angeschlossenen Märkte gekommen. Glauben sie, dass dieser wirklich ist oder handelt es sich dabei um Wunschdenken?

 

Mohammad Nazir: Letzteres würde ich bezweifeln. Wenn wir bedenken, dass es nach Angaben Dritter mindestens 1,2 bis 1,8 Milliarden Muslime weltweit gibt, dann sind die für den Halal-Markt angegebenen Zahlen nicht so weltfremd. Und wenn wir nicht nur Fleisch und andere Lebensmittel betrachten, sondern auch Kosmetika und Medikamente mit einbeziehen, dann passen die oft angegebenen Summen und Wachstumsraten durchaus.

 

Islamische Zeitung: Ist dieser Run auf die Halal-Industrie nicht auch ein Hinweis auf die Bedeutung der Lebensmittel verarbeitenden Industrie?

 

Mohammad Nazir: Das stimmt. Betrachten wir insbesondere die Standards von Brunei, Malaysia und Australien, dann drehen diese sich alle um die Schlachtung und eher weniger um die Verarbeitung. Wir waren sehr überrascht bei unserer Mängelprüfung, dass einige dieser Regelwerke so gut wie gar nicht die Verarbeitung der Lebensmittel mit einschließen.

 

Der industrielle Prozess ist bei den Standards absolut entscheidend. Sobald die Rohware in die gewünschte Form gebracht werden soll, ist es wichtig zu wissen, wer die beteiligten Personen sind, welche Maschinen eingesetzt werden, wie es um die Hygiene bestellt ist und ob es Fragen der unerwünschten Kontamination gibt. Hier ergeben sich die entscheidenden Fragen. Nehmen wir nur das wichtige Beispiel der von der Lebensmittelindustrie eingesetzten Fette und Öle.

 

Unser Standard ist deshalb vorrangiger, weil er alle diese Aspekte mit abdeckt. Das Prinzip „Vom Bauernhof auf den Teller“ schließt alle möglichen Vorgänge mit ein. Wir würden nicht sagen, dass wir den Markt für die Halal-Standards leiten, sondern vielmehr, dass wir eine Halal-Lösung auf internationaler Ebene anbieten können. Es ist an den Leuten auf dem Halal-Markt, sich für den Standard zu entscheiden, der ihnen am besten liegt.

 

Islamische Zeitung: Lieber Herr Nazir, lassen sie uns diese Frage umformulieren; eine Ernährung, die vor allem auf naturbelassener Nahrung beruht, braucht nur wenig verarbeitete beziehungsweise raffinierte Lebensmittel. Ist dieser Trend zu Halal-Siegeln und zur Halal-Industrie - bedenken wir hier die Vokabel „Industrie“ - nicht auch ein Hinweis darauf, wie einflussreich hier die indus­triellen Erzeuger sind?

 

Mohammad Nazir: Sie haben teilweise Recht. Mir hat eine Filmfirma, die ein Video über die Halal-Produktion von Lebensmitteln drehen wollte, eine Email geschickt, in der erwähnt wurde, dass jemand Tee zertifiziert hatte. Vertreter von wichtigen Firmen haben manchmal missverstanden, um was es sich dabei handelt. Sie glauben, um eimal beim Beispiel zu bleiben, dass das Halal-Siegel auf dem Tee die Verkäufe unter Muslimen fördern wird. Nichtmuslimische Industrievertreter fragten mich gerade, ob sie die Zwiebeln in ihrem Produkt zertifizieren müssten.

 

Es gibt Grenzen. Wenn Allah Dinge erschaffen hat, die ihrem Wesen nach erlaubt sind und wenn diese Dinge von unreinen Substanzen ferngehalten werden, dann bleiben sie halal. Viele Zertizierungs- und Prüfeinrichtungen nutzen die Halal-Siegel, um Einkünfte zu erzielen, indem sie Dinge überprüfen, die eigentlich gar nicht zertifiziert werden müssten.

 

Darüber hinaus braucht es bei allen Beteiligten auch einen Prozess des Verstehens, wonach wir nicht nur Nahrung brauchen, die „halal“ (erlaubt) ist, sondern die auch „taijib“ (gut) beziehungsweise vollwertig ist. Industriell bearbeitete Bestandteile sollte natürlich so weit wie möglich weggelassen werden.

 

Islamische Zeitung: Sie haben sich auf den relevanten qur’anischen Vers bezogen, in welchem Allah davon spricht, dass die Nahrung „erlaubt“ und „gut“ sein muss. Würden sie angesichts dessen das Fleisch einer Kuh zertifizieren, die in der Nähe eines Kernkraftwerkes aufgezogen wurde?

 

Mohammad Nazir: Nein, das würden wir nicht tun. Denn ein solches Atomkraftwerk würde das Land und das Grünfutter kontaminieren. Daher ist das Tier, auch wenn es als gesund erscheinen mag, verunreinigt und man wird bei einer Untersuchung Spuren dieses Atomkraftwerkes finden.

 

In unseren Standards findet sich deutlich in den Regeln bezüglich Landwirtschaft und Viehzucht, dass sich das Land und das Gras in einem nicht-verunreinigten Gebiet befinden muss. Die verwandten Dünger und Futtermittel müssen aus natürlichen Quellen stammen usw. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass wir darauf bestehen, dass die Tiere angemessen und auf gesunde Art und Weise aufgezogen werden müssen. Natürlich muss das Futter rein und sauber sein und darf nicht aus tierischen Nebenprodukten bestehen beziehungsweise diese enthalten.

 

Islamische Zeitung: Lieber Mohammad Nazir, es drängt sich der Verdacht auf, dass der Trend der letzten Jahre auf dem Halal-Markt vor allem auf die großen Lebensmittelkonzerne wie Nestlé, McDonalds und andere ausgerichtet ist, die im Wesentlichen Profite im Auge haben. Könnte eine Entwicklung europäischer Halal-Standards und Prozeduren nicht auch eine muslimische Ökonomie in Europa bereichern und fördern?

 

Mohammad Nazir: Es bestehen große Möglichkeiten, wenn muslimische Geschäftsleute anfingen, sich an Schlachthöfen und in der Fleischverarbeitung zu engagieren. Damit könnten sie entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung der muslimischen Gemeinschaften in Europa beitragen.

 

Es gibt zwei Aspekte, die wir in dieser Hinsicht betrachten müssen. Zum einen besteht der erkennbare Wille, größere Anstrengungen auf diesem Gebiet zu leisten. Allerdings fehlte es bisher vor allem an den dafür notwendigen Investitionen, damit Unternehmer derart große Projekte umsetzen konnten. Zweitens, soweit es die Europäische Halal-Zertifizierungsagentur betrifft, sind wir natürlich sehr daran interessiert, mit muslimischen Geschäftsleuten auf dem Gebiet der Halal-Nahrung zu kooperieren. Wir sind nicht nur an den „Großen“ orientiert, sondern kümmern uns gezielt um muslimische Firmen.

 

Wir sind in der glücklichen Lage, mit Entwicklungsagenturen zu kooperieren, die von der Regierung gefördert werden. Dies erlaubt uns den Zugriff auf Fördermittel, die dabei mithelfen können, muslimische Unternehmen zu erweitern und breiter aufzustellen. Wir können das in Großbritannien leisten, sind aber nicht sicher, wie die Förderregeln in anderen Ländern beziehungsweise auf EU-Ebene aussehen. Wir sind nicht nur eine Einrichtung für Zertifizierung, sondern die UK Halal Cooperation kümmert sich auch, soweit es ihr möglich ist, um die Entwicklung des muslimischen Halal-Sektors.

 

Islamische Zeitung: Lieber Moham­mad Nazir, wir danken ihnen für dieses Interview.

 

 

IZ, 25.09.2009

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