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Liebe ohne Reue


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Liebe ohne Reue

 

- Dr. Alphonse Williams -

 

 

Als ihn (Abraham) nun die Nacht überschattete, da erblickte er einen Stern. Er sagte: "Das ist mein Herr." Doch da er unterging, sagte er: "Ich liebe nicht die Untergehenden." (6:76)

 

Zu lieben und geliebt zu werden, gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die Liebe ist uns angeboren. Doch obwohl wir wahrscheinlich aus keiner Quelle so viel Freude beziehen wie aus der Liebe, kann sie uns auch schwerstes Leid zufügen. Wer über die Liebe nachdenkt, wird sich früher oder später die Frage stellen: "Können wir Menschen überhaupt lieben, ohne gleichzeitig Schmerz und Leid zu erfahren?" In diesem Artikel wird es darum gehen, eine Antwort auf diese so wichtige Frage zu finden.

 

Da uns die Liebe ein Grundbedürfnis ist, ist die Liste der Dinge und Menschen, die wir lieben, lang: Wir lieben unsere Eltern, unseren Ehepartner, unsere Kinder, Freunde und Gefährten; wir lieben die frommen Menschen, die Heiligen und die Propheten; wir lieben gutes Essen und leckere Früchte; und wir lieben den Frühling, die schönen Dinge und diese Welt. Wenn wir jedoch für kurze Zeit oder auch für länger keinen Zugang zu diesen Menschen bzw. Dingen haben, wenn wir leiden, weil sie uns fehlen oder weil es ihnen schlecht geht (z.B. weil sie krank, tot oder alt sind), kommen wir automatisch ins Grübeln: "Ich kann zwar nicht aufhören, diese Dinge oder Menschen zu lieben; kann ich sie aber nicht wenigstens so lieben, dass mir meine Liebe nicht wehtut? Gibt es vielleicht ein Rezept für die Liebe ohne Reue?"

 

Gesteuert von unserem Willen wendet sich das Antlitz unserer Liebe von einem geliebten Objekt ab und einem anderen zu. Wenn sich beispielsweise ein geliebter Mensch als unserer Liebe nicht würdig erweist oder wenn uns klar wird, dass er nur ein Spiegel ist, in dem sich unsere Liebe zu einem anderen Menschen verfängt, wechselt unsere Liebe zwangsläufig die Richtung.

 

Ein Rezept für Liebe ohne Reue

Wenn wir von dem Menschen, den wir lieben, getrennt sind, wenn wir mit anschauen müssen, wie er langsam stirbt, oder wenn er unsere Liebe nicht erwidert, leiden wir unter heftigen Schmerzen. Bei einer Liebe ohne Reue darf es deshalb keine Trennung geben. Sie darf keinem Niedergang unterworfen sein und muss unsere Liebe auch erwidern. Einzig und allein Gott, der ewig, unveränderlich und permanent ist und der unsere Liebe zu Ihm stets beantwortet, wird diesem Anforderungsprofil gerecht.

 

Das Rezept für eine Liebe ohne Reue könnte also darin bestehen, dass wir unsere wahre Liebe Gott widmen und alles andere um Seinetwillen lieben. Aber ist das überhaupt realistisch? Ist es nicht völlig abwegig, von jemandem zu verlangen, seinen Geliebten bzw. seine Geliebte einfach weniger zu lieben? Inwieweit ist es wohl möglich, die geliebten Menschen und Dinge um Gottes, des Allmächtigen, willen und im Namen Seiner Liebe zu lieben? Um nur einige Beispiele zu nennen:

 

Die Elternliebe

Wenn wir unsere Eltern, denen wir aus dem Mitgefühl, der Weisheit und der Gnade Gottes heraus anvertraut wurden, lieben und respektieren, dann lieben und respektieren wir damit gleichzeitig den Allmächtigen. Dass wir unsere Liebe zu ihnen und unseren Respekt vor ihnen um Gottes willen empfinden, können wir dadurch beweisen, dass wir unsere Eltern, wenn sie alt, nutzlos und lästig geworden sind, noch mehr lieben und ehren als zuvor. Folgender Koranvers bringt diese Haltung auf den Punkt:

 

Und dein Herr hat befohlen: "Verehrt keinen außer Ihm, und (erweist) den Eltern Güte. Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann nicht ‚Pfui!' zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise!" (17:23)

 

Auch andere Koranverse empfehlen uns, gut mit unseren Eltern umzugehen (2:83, 2:215, 4:36, 6:151, 17:23-24, 19:14, 19:32, 29:8, 31:14, 46:15 und 71:28).

 

Die wichtigsten Botschaften des Koran sind die Einmaligkeit und Einzigartigkeit Gottes (Tawhid) und die Anweisung, Ihm keine Partner zur Seite zu stellen. Die Aufforderung, die Eltern gütig zu behandeln, folgt jedoch direkt nach diesen Prinzipien. Dies zeigt, wie wichtig die Rechte unserer Eltern sind und wie schändlich es wäre, uns ihnen gegenüber undankbar zu erweisen.

 

Eltern verdienen die stärkste Liebe und das tiefste Mitgefühl ihrer Kinder. Da ein Vater seine Kinder normalerweise mehr liebt als sich selbst und sich normalerweise mehr als alles andere in der Welt wünscht, dass es seine Kinder einmal besser haben als er, dürfen die Kinder ihm gegenüber keine Rechte einfordern. Es kann also gar keinen gerechtfertigten Grund für einen Streit zwischen Eltern und Kindern geben, denn Streitigkeiten haben nur zwei Gründe: Missgunst und die Verletzung von Rechten. Väter hegen ihren Kindern gegenüber aber niemals Missgunst, und Kinder haben keine Ansprüche gegen ihre Väter. Selbst wenn ein Kind glaubt, sein Vater würde es ungerecht behandeln, darf es nicht gegen ihn rebellieren. Wenn ein Vater seinen Pflichten nicht nachkommt und seine Kinder in irgendeiner Weise missbraucht, mag es nicht vernünftig erscheinen, seinem Verhalten Respekt entgegenzubringen. Doch auch unter diesen Umständen sind die Kinder dazu aufgerufen, ihm in einer Art und Weise, die Gott billigt, zu gehorchen und für ihn zu beten.

 

Was jedoch noch wichtiger ist: Unsere Mütter verdienen unsere innigste Liebe und unseren größten Respekt. In einem Hadith heißt es: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter. (Nasa'i) In einem anderen Hadith wird berichtet, dass ein Mann zum Propheten kam und ihn fragte: "O Prophet, wer von den Menschen verdient meine Zuneigung und meine gute Gesellschaft am meisten?" Der Propheten antwortete ihm: Deine Mutter. Daraufhin fragte der Mann: "Und danach?" Der Prophet erwiderte: Dann deine Mutter. Der Mann aber fragte weiter: "Und nach ihr?" Der Prophet sagte: Dann deine Mutter. Der Mann insistierte: "Und dann?" Dann dein Vater. (Bukhari, Muslim)

 

Die Liebe zu den Kindern

Auch die Liebe zu unseren Kindern und die Sorge um sie sind auf Gott ausgerichtet, sofern wir sie als Geschenke des Mitfühlenden und Freigebigen Einen betrachten. Dies stellen wir damit unter Beweis, dass wir es mit Geduld und Dankbarkeit ertragen, wenn sie sterben, und nicht verzweifelt wehklagen und uns gegen das Schicksal auflehnen. In diesem Fall sollten wir uns in Erinnerung rufen: "Er/sie war ein liebenswertes Geschöpf, das mein Schöpfer erschaffen hat und das Ihm gehörte. Er hatte es in meine Obhut gegeben. Jetzt, wo Seine Weisheit es so will, hat Er es von mir genommen und an einen besseren Ort gebracht. Wenn ich jemals auch nur einen einzigen Anteil an diesem Geschöpf besessen habe, dann gehörten seinem Schöpfer tausend." Indem wir bekräftigen: "Alle Autorität liegt bei Gott!", unterwerfen wir uns Ihm.

 

Die Liebe zu Freunden

Auch die Liebe zu Freunden und Bekannten ist Gott zuzuordnen und wird Seinetwillen empfunden, solange diese Freunde und Bekannten ihrem Glauben und ihren Taten entsprechend ‚Freunde' Gottes sind.

 

Die Liebe zum Ehepartner

Die Liebe zwischen den Ehepartnern ist dann als Liebe um Gottes willen zu bezeichnen, wenn sie nicht auf vergänglichen Attributen beruht. Der Ehemann sollte seine Frau als Geschenk der Gnade Gottes lieben und verehren. Er darf seine Liebe nicht an ihre physische Schönheit knüpfen, die ja bekanntlich rasch verfliegt. Die attraktivste und liebenswerteste Schönheit der Frau liegt in ihrem faszinierenden Charakter, der eng mit ihrer einzigartigen Feinfühligkeit und ihrer Empfindsamkeit verbunden ist.

 

Ihre wertvollste und anmutigste Schönheit gründet auf ihrem ernsthaften, aufrichtigen, erhabenen und strahlenden Mitgefühl, das mit dem Alter sogar noch zunimmt. Das Recht dieses liebenswerten und feinfühligen Geschöpfs auf Respekt wird durch die Liebe zu ihm noch gestärkt. Ohne diese Liebe würde die Ehefrau ihre Rechte verlieren, sobald sie ihre äußere Schönheit eingebüßt hat - zu einer Zeit, in der sie sie am dringendsten benötigt.

 

Auch die Ehefrau sollte ihren Mann nicht für sein Aussehen, seine Stärke oder seinen Reichtum lieben; denn diese Dinge sind vergänglich. Stattdessen sollte sie ihn als ihren ewigen Gefährten im Garten des Paradieses und als ihren gefühlvollen Partner in dieser Welt lieben, der seine Zeit, seine Energie und seinen Reichtum in den Dienst seiner Familie stellt.

Die Liebe zu frommen Menschen

Unsere Liebe zu den von Gott am meisten geschätzten Menschen, zu den Propheten und den besonders Rechtschaffenen, gilt in Wirklichkeit Gott, und nicht ihnen selbst. Empfinden wir diese Form der Liebe jedoch nicht um Seinetwillen, kann sie uns schnell dazu verleiten, diese Objekte unserer Liebe zu Götzen zu machen.

 

Die Liebe zum Leben und zur Jugend

Unsere Liebe zum Leben ist dann auf Gott ausgerichtet, wenn wir das Leben auf Erden als ein äußerst wertvolles Kapital schätzen, das uns ein glückliches ewiges Leben einbringen kann und das wir deshalb erhalten müssen. Wir sollten das Leben wie einen Schatz behandeln, der uns von Gott anvertraut wurde und ewige Vollkommenheit für uns bereithält. Wenn wir unser Leben in Seinen Dienst stellen, verleihen wir damit unserer Liebe zu dem einzig Wahren Objekt unserer Anbetung Ausdruck. Auch unsere Liebe zur Jugend zieht weder Schmerz noch Leid nach sich, wenn wir unsere Jugend als feinen, lieblichen und schönen Gunstbeweis des Allmächtigen Gottes betrachten und den Weisungen Gottes gemäß angemessen von ihr Gebrauch machen.

 

Die Liebe zu gutem Essen

Indem wir realisieren, dass gutes Essen und leckere Früchte Gunstbeweise Gottes, des Allmächtigen, des Gnädigen und Mitleidvollen, darstellen, transformieren wir die Liebe zu ihnen in eine Liebe um Gottes willen und in eine Liebe zu Seinen Namen ‚der Gnädige' und ‚der Gewährer von Gunstbeweisen'. Darüber hinaus nimmt eine solchermaßen empfundene Liebe die Form eines Dankes an. Wenn auch sie nach dem eigenen Vorteil strebt, dann nur voller Zufriedenheit in der Sphäre des Rechtmäßigen. Damit zeigt sie, dass sie sowohl um unserer instinktiven Seele willen als auch im Namen des Gnädigen Einen empfunden wird. Dieser Liebe wird dadurch Ausdruck verliehen, dass man gedankenvoll und dankbar genießt.

 

Die Liebe zum Frühling und zu dieser Welt

Unsere Liebe zum Frühling verwandelt sich, wenn wir ihn innig als eine Seite der erhabensten und schönsten Inschriften der strahlendsten Namen Gottes, des Allmächtigen, lieben, in eine Liebe zu Gottes Namen. Von dieser Perspektive aus werden wir entdecken, dass der Frühling die am prächtigsten gestaltete und glänzendste Ausstellung der überwältigenden Kunst des Weisen Schöpfers ist. Auch unsere Liebe zu dieser Welt können wir, in ähnlicher Weise, um Gottes willen empfinden; dann nämlich wenn wir diese Welt dafür lieben, dass sie das Ackerland für das Jenseits ist, dass sie die Namen Gottes widerspiegelt und dass sie ein Sendschreiben des Allmächtigen darstellt. Wir sollten die Welt als ein vergängliches Gasthaus betrachten, in dem wir unsere Seele schulen, damit sie im Kampf gegen die Befehle unseres bösen fleischlichen Selbst neue spirituelle Höhen erklimmt.

 

Um Gottes willen zu lieben, erfordert also, dass wir diese Welt und ihre Bewohner nicht um ihrer selbst willen lieben, sondern weil sie ‚Zeichen' sind; weil sie Worten ähneln, die Bedeutungen transportieren. Wenn wir einen besonders schönen Angehörigen der Schöpfung sehen, sollten wir uns also sagen: "Wie schön er doch erschaffen wurde!", anstatt: "Wie schön er doch ist!"

 

Eine wahre Liebe um Gottes willen lässt keiner anderen Liebe die Chance, die tiefsten Täler des Herzens zu erobern, denn diese sind nichts anderes als Spiegel Gottes, des ewig Angeflehten Einen, und gehören niemand anderem als Ihm. Eine solche Liebe nimmt in dem folgenden Gebet Gestalt an: "O Gott, gewähre uns Liebe zu Dir und Liebe zu dem, was uns Dir näher bringt!"

 

Jede der hier genannten unterschiedlichen Arten von Liebe, die diese Form annimmt, wird uns Glück ohne Reue spenden und uns zu einer ewigen Vereinigung führen. Jede einzelne von ihnen intensiviert unsere Liebe zu Gott. Auf Grund ihrer Verbindung zu dem Ewigen Einen repräsentieren diese Arten von Liebe Gefühle der Dankbarkeit und Quellen reiner Freude und reinen Vergnügens.

Das Gleichnis des Apfels

Um noch besser zu verdeutlichen, was es heißt, etwas um seines Gebers willen, und nicht um seiner selbst willen zu lieben, hier ein aufschlussreiches Gleichnis:

 

Wenn uns ein mächtiger König einen Apfel schenkt, können wir zwei Arten von Freude verspüren und zwei Arten von Liebe empfinden: Wir können den Apfel vor allem deshalb lieben, weil er schön und lecker ist. Die Freude, die mit dieser Liebe verknüpft ist, bezieht und konzentriert sich einzig und allein auf die Existenz dieses Apfels. Sie wird nicht für den König empfunden. Diejenigen, die diese Art von Liebe fühlen und den Apfel in der Gegenwart des Königs essen, lieben den Apfel und ihre eigene Seele, nicht jedoch den König. Der König wird angesichts einer solchen Liebe, die lediglich die Triebseele füttert, enttäuscht sein. Er wird sie sogar verabscheuen. Außerdem ist die Freude, die der Apfel spendet, in diesem Fall beschränkt und verblüht sehr schnell. Nachdem wir den Apfel verspeist haben, bleibt uns nur noch die Reue darüber, dass wir ihn bereits verspeist haben.

 

Die zweite Art von Liebe erkennt die Gunst des Königs an. Wer den Apfel als etwas Wertvolles betrachtet, als eine Verkörperung einer königlichen Geste, zeigt, dass er den König liebt. In diesem Fall ist die Freude, die in der Frucht liegt (welche quasi ein Behältnis für die Gunst darstellt), tausendmal größer als die Freude, die wir verspüren, wenn wir den Apfel gedankenlos essen. Diese Freude ist die Essenz der Dankbarkeit, und diese Liebe ist eine respektvolle Liebe zu dem König.

 

Fazit

Wenn wir alle Gunstbeweise und Früchte um ihrer selbst und um der von ihnen gespendeten Freude willen lieben, lieben wir sie lediglich um unseres Selbst willen. Diese Art von Liebe ist vergänglich und schmerzvoll. Wenn wir sie jedoch deshalb lieben, weil sie Gunstbeweise der Gnade und Früchte der Großzügigkeit und des Wohlwollens Gottes sind, werden sie uns immerzu an ihre Quelle erinnern.

 

Wenn wir die Freude, die sie uns schenken, mit gutem Appetit genießen und die Güte, die in diesem großzügigen Geschenk Gottes liegt, zu schätzen wissen, dann spricht aus dieser Anerkennung Dankbarkeit. Eine solche Art von Freude ist eine Freude ohne Reue. Der Geschmack der Frucht mag verblassen, aber der Wohltäter, der sie uns geschenkt hat, ist ewig. Die Menschen, die wir lieben, mögen sterben, aber der Schöpfer und Erhalter aller Menschen ist unsterblich. Äußere Schönheit mag vergehen, aber die Quelle wahrer Schönheit ist keinem Verfall unterworfen.

 

Das Rezept für eine Liebe ohne Reue lautet also: Wenden wir unsere Liebe ab von den vergänglichen Dingen hin zu dem Ewigen Einen, und lieben wir alles andere um Seinetwillen. Der türkische Mystiker und Dichter des 13. Jahrhunderts bringt diese Haltung in einem einzigen Satz auf den Punkt:

 

"Wir lieben das Erschaffene um des Schöpfers willen!"

 

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