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Araber in Aufruhr. Doch ihre Wut ist auch eine auf sich selbst. Die Klügeren wissen das.

 

Die Scharfmacher wittern wieder ihre Chance. Dass die Wutausbrüche in der arabisch-islamischen Welt kaum spontan sind, lässt sich am hohen Organisationsgrad ablesen – etwa im Sudan, wo Busse die Demonstranten von der deutschen zur britischen und dann zur amerikanischen Botschaft transportiert haben. Die wenigsten aufgebrachten Muslime werden den Mohammed-Schmähfilm-Trailer, den der von saudischen Geldern finanzierte ägyptische Sender "al-Naas" (Das Volk) erstmalig in arabischer Übersetzung gesendet hatte, mit eigenen Augen gesehen haben. Ebenso wenig werden sie davon gehört haben, dass in Deutschland rechtsradikale Demonstranten mit Mohammed-Karikaturen durch die Straßen gezogen sind. Trotzdem haben sie die deutsche Botschaft in Khartoum gestürmt. Warum? Weil politische Scharfmacher und einige radikale Imame es ihnen in ihren Freitagspredigten als vermeintlich religiöse Pflicht auferlegt haben.

 

 

Diese sogenannten Geistlichen benutzen ihr zumeist uninformiertes und deshalb leicht zu steuerndes Klientel, um sich zu erhöhen, sich selbst zur Stimme einer vermeintlichen schweigenden Mehrheit zu machen. Doch alle zornigen Demonstranten vor den ausländischen Vertretungen zwischen Marokko und Malaysia zusammen machen weniger als ein Prozent der islamischen Weltbevölkerung aus. Wenige nehmen also für sich in Anspruch, für viele zu denken und zu sprechen. In gewisser Weise kidnappen sie eine Weltreligion mit 1,6 Milliarden Gläubigen.

Der Ägypter Abu Islam gehört zu den Kidnappern. Er ist ein Salafistenprediger mit einem eigenen christenfeindlichen Fernsehsender, der den irreführenden Namen "Maria TV" trägt, weil der Prophet Mohammed unter seinen Frauen auch eine Christin namens Maria hatte. "Das Christentum ist eine Religion voller Irrtümer", sagt Abu Islam dort und zerreißt eine Bibel, deren Seiten seine Claqueure dann entzünden dürfen. Vollverschleierte Moderatorinnen mit Sehschlitz ergänzen das Programm und verlesen Halbwahrheiten aus dem unerklärten Kampf der Kulturen. Ausgewogenheit kann man diesem Sender, der seine Existenz dem mutigen Protest überwiegend junger Ägypter gegen Diktator Husni Mubarak verdankt, wirklich nicht unterstellen.

Auch der iranische Ayatollah Ahmad Chatami stachelt im staatlichen Fernsehen offen zum Hass auf: "Diese Welle heiliger Wut muss zu einem Hurrikan, zu einem Tsunami gegen die USA werden." Ein libyscher Imam bittet unmittelbar nach dem Mord an US-Botschafter Chris Stevens in Bengasi um göttlichen Beistand, um die "korrupten Juden" und die "bösartigen Christen" vernichten zu können. Er ruft seine Gemeinde auf, den "Feinden in ihre Hauptschlagader zu stechen": Die Hasspredigt wird im "Freiheitsfernsehen" übertragen. Im jemenitischen Staatsfernsehen laufen regelmäßig anti-israelische und anti-amerikanische Cartoons äußerst simplen und volksverhetzenden Inhalts.

Doch es gibt auch mahnende Stimmen, die für Rationalität werben und zur Zurückhaltung aufrufen. Scheich Yussuf al-Qaradawi, sonst kein Kind von Traurigkeit, gehört zu den rhetorischen "Feuerlöschern". Der einflussreiche Fernsehprediger aus Katar macht sein Millionen-Auditorium darauf aufmerksam, dass nur eine kleine Gruppe von US-Bürgern für den Schmähfilm verantwortlich zeichnet, beileibe nicht das amerikanische Volk oder gar seine Regierung. "Ein böser Extremist mit schlechter Reputation" (der radikale US-Prediger Terry Jones, d. Red.) habe sich gemein gemacht mit einigen Christen, von denen man traurigerweise sagen müsse, dass sie ägyptische Kopten sind.

Das ist immerhin eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Fakten, wie sie auch in arabischen Qualitätsmedien wie den Zeitungen "al-Schark al-Aussat", "al-Hayat" oder im Satellitensender "al-Dschasira" zu finden ist. Insbesondere der panarabische Sender aus Katar kann es sich mit seinem hohen Anspruch kaum leisten, tendenziös zu berichten. In einer live übertragenen Talkrunde platzte dem algerischen Schriftsteller Anwar Malek schon vor Ausbruch des "arabischen Frühlings" verbal der Kragen. In einer zehnminütigen Schimpftirade zog er eine bittere Bilanz der zeitgenössischen arabisch-islamischen Wirklichkeit: "Wir Araber haben alles verloren: Unsere Werte, unsere Kultur, unsere Menschlichkeit. Und dennoch glauben wir fest daran, zum Mond fliegen zu können. Fakt aber ist, dass die meisten Araber sich nur wenige 100 Kilometer von ihrer Türschwelle entfernen." Die Wahrheit sei, dass "wir Araber rückwärtsgewandt und nicht reif für die Zivilisation sind". Die Realität der heutigen arabischen Welt sei eine der Niederlagen: "Wir wurden politisch, militärisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und psychologisch besiegt", schleuderte der Autor dem fassungslosen Moderator entgegen und räumte auch gleich mit einer weiteren Lebenslüge auf: "Hinter allem vermuten wir eine Verschwörung, wir machen immer andere für unsere Misere verantwortlich."

Raghida Dergham schreibt in al-Hayat, ein neuer Tyrann bedrohe die Errungenschaften des "arabischen Frühlings": Der unbändige Mob, der sich einer Agenda des Hasses und der Ressentiments im Namen extremistischer Kräfte unterwerfe. "Die arabischen Revolutionen, die die ganze Welt als qualitativen Wandel in der arabischen Geschichte gepriesen hat, fallen zurück in eine Höhle der Primitivität." Und das alles habe ein Film hervorgerufen, der exakt zu diesem Zweck produziert worden sei: Um die Araber als hasserfüllten Mob zu porträtieren.

"Wie weit ist es gekommen mit einer Glaubensgemeinschaft, in deren Koran es heißt: "Niemand trägt die Schuld an den Taten anderer?" fragt der palästinensische Medienwissenschaftler und Cambridge-Dozent Khaled Hroub. Weit schlimmer und erschreckender als der Film seien die Reaktionen auf ihn in arabischen und muslimischen Städten, und wie der Extremismus dort jeden Anstand und jedes zivilisierte Verhalten zerstöre. "Wir erleben eine Kultur des religiösen Fanatismus, der sich über ein halbes Jahrhundert lang in die Köpfe der Menschen gefressen hat", resümiert Hroub. Wenn Millionen nur wegen einer dummen Beleidigung die Fassung verlören, dann beweise das nur, dass sie nicht einmal jene Werte "selbstbewusst vertreten können, die zu verteidigen sie vorgeben".

"Wir haben jeden Maßstab verloren", schreibt Hroub. "Wie sonst kann es sein, dass der niederträchtige Regisseur eines schlechten Films Zehntausende Demonstranten auf die Straße zieht, während nicht einmal Hunderte für ihre Brüder in Syrien demonstrieren, die täglich zu Hunderten getötet werden? Masseninstinkt und Herdentrieb schalten den Verstand aus", schließt Hroub und spricht von einem "Weltkrieg der Instinkte". Es obläge den Klügeren unter den Meinungsführern, den religiösen Extremismus als Feind zu betrachten, der viel gefährlicher sei als alle Feinde im Ausland.

Gebt Khaled Hroub und Anwar Malek einen Fernsehsender!

 

 

http://www.welt.de/print/wams/politik/article109407732/Tage-des-Zorns-und-der-bitteren-Wahrheit.html

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