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Die Glaubensfrage spaltet die Deutschen

 

 

Gott oder gar nicht: Viele Deutsche können mit Religion nichts mehr anfangen. Die anderen wollen Kirche – aber eine, an der sie sich beteiligen können. Gemeinden, die das beherzigen, haben Erfolg.*Von*Matthias Kamann

 

Wenn die Kirche brummt, wird es schwer für Solisten. Wenn Dutzende Kinder rumoren wie in diesem Taufgottesdienst, dann ist eine einzelne Bratsche oder Flöte kaum zu hören. Schade um die engagierte Bratschistin, den Könner an der Flöte. Aber für Christen ist es eine gute Nachricht: In der Berliner Sophienkirche, wo an diesem Samstag gleich vier Kinder getauft werden, ist so viel los, dass ein ganzes Orchester nötig wäre, um gegen den Trubel anzukommen.

 

In anderen Gotteshäusern kann deutlich leiser musiziert werden: Es ist kaum jemand da. Jahr für Jahr treten aus beiden Kirchen insgesamt rund 250.000 Menschen aus. Schon mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist konfessionslos. Von "religionsloser Zeit" spricht im Taufgottesdienst denn auch die Pfarrerin Christina-Maria Bammel.

 

Aber gleich darauf muss sie in ihrer Sophienkirche das Kreuz mit großer Geste schlagen, damit auch alle Familien es sehen können. Während die Pfarrerin die Kinder tauft, muss sie die vielen Eltern, Verwandten und Geschwister regelrecht choreografieren, damit im Altarraum kein Chaos entsteht, sondern am Ende ein anrührendes Bild. Vier große Kerzen leuchten auf dem Taufstein.

 

"Kinder wachsen über ihre Eltern hinaus", sagt die Pfarrerin, und das Wort "wachsen" hat hier durchaus einen Nebensinn. Die evangelische Kirchengemeinde Am Weinberg in Berlin-Mitte, zu der die Sophienkirche gehört, wächst seit Jahren. Die Gemeinde verzeichnet sehr gut besuchte Gottesdienste und großes ehrenamtliches Engagement. Ein Erfolgsmodell – und damit die eine Seite einer religiösen Spaltung.

 

Wie an einem Grabenbruch nämlich reißt die deutsche Glaubenslandschaft entzwei. Immer größer wird der Abstand zwischen den Uninteressierten, denen*Religion*völlig egal ist, und jenen Christen, die sich wie in dieser Gemeinde mit zunehmender Intensität auf das kirchliche Leben einlassen. Diese Spreizung hat kürzlich eine Studie der*Evangelischen Kirche in Deutschland*(EKD) auch in deren eigener Mitgliedschaft offenbart.

 

Religiosität ist zur Aktivität geworden

 

Immer mehr Protestanten fühlen sich ihrer Kirche*"kaum" oder "überhaupt nicht verbunden". Auf 32 Prozent ist ihr Anteil bei den Evangelischen gestiegen. Man zahlt zwar noch Kirchensteuer, erwartet aber ansonsten gar nichts mehr. Gleichzeitig sind mittlerweile 43 Prozent der Kirche "sehr" oder "ziemlich verbunden". Was jedoch sinkt, ist die Zahl derer, die "etwas" dazugehören, die Glauben an sich okay finden, aber nicht in die Gottesdienste gehen, eine kirchliche Trauerfeier bei der eigenen Beerdigung jedoch wünschen.

 

Die meisten aber gehen in die eine oder die andere Richtung: Entweder ganz oder gar nicht. Entweder mitmachen oder weggehen. Das zwingt die Kirchen zum Umdenken. Sie müssen lernen, dass da draußen nicht mehr ein Riesenpotenzial von Halbchristen der kirchlichen Versorgung harrt. Schon wird, zumal in der evangelischen Kirche, heftig diskutiert, was daraus für die Missionierung folgt.

 

Hat die überhaupt noch Sinn? Und wenn Glauben mit einem starken inneren Antrieb verbunden ist – hilft es dann noch, den Motivierten möglichst viele fertige Angebot vorzusetzen? Das macht etwa eine andere Berliner Kirchengemeinde: Am Donnerstag Diavortrag über eine Reise zur Amalfiküste. Für Ostermontag "hat sich Conny etwas Besonderes ausgedacht: Familiengottesdienst mit anschließendem Ostereiersuchen". Und vor den Sommerferien feiern wir unser traditionelles Gemeindefest.

 

Es geht zumindest auch anders. Wer durch die deutsche Gemeindelandschaft fährt, stellt fest, dass eines vielerorts verstanden wird: Religiosität ist eine Aktivität geworden. Wie in der Sophienkirche. Wo Solisten eher fehl am Platze sind.

 

"Kirchliche Tendenz zu infantilisieren"

 

Denn der Boom dort hat auch damit zu tun, dass es kein pastorales Solo gibt. Weil viele Leute vieles selbst machen, ist die Pfarrerin nicht die Alleinunterhalterin, die alle Gemeindekreise organisiert, das Personal und die Finanzen managt und überall mit Hand anlegt. "Die Menschen in der Gemeinde brauchen mich nicht fürs Stühleschleppen", sagt Christina-Maria Bammel. "Die Organisation gemeindlichen Lebens kriegen sie sehr gut hin, in ihrem autonomen Engagement je nach Interesse, Fähigkeit und Zeitbudget. Da muss ich mich nicht dauernd einmischen."

 

Eigenverantwortlich organisiert werden Konzerte und Kindergruppen, Theater und Besuchsdienste, temporäre Ausstellungen und Diskussionen. "Die Bindung an die Gemeinde und damit die Kirche und den Glauben entsteht bei den Menschen von selbst, aus einer Aufgabe, die sie selbst für wichtig und sinnvoll erachten." Das produziere Verbindlichkeit.

 

Und die Pfarrerin? "Von mir erwarten sie Verbindlichkeit im theologischen Sinn, als Stärkung und Zuspruch in dem, was sie in ihrem Leben zu bewältigen haben." Sie sei, sagt Bammel, den Leuten "gute Gottesdienste schuldig, überzeugende Formen und anspruchsvolle Predigten". Um die "Tiefe des Lebens" müsse es da gehen, um "die Möglichkeit der Verwandlung durch Gottvertrauen".

 

Es gibt aber immer noch Pfarrer, die mit selbst verfassten Gedichten und onkelhafter Heiterkeit den Eindruck erwecken, man dürfe ihre Schäfchen nicht ganz für voll nehmen. Eine "kirchliche Tendenz, die Menschen zu infantilisieren", konstatiert der Hildesheimer Superintendent Helmut Aßmann. Zu finden sei diese Tendenz überall dort, wo man die Leute zu Konsumenten fertiger Angebote macht.

 

Gospelgottedienste am Sonntagabend

 

Allerdings sagt Aßmann es, um sofort auf ein Gegenbeispiel zu verweisen: die kleine Markusgemeinde am Hildesheimer Stadtrand. Die Kirche ist nur ein schlichter 50er-Jahre-Bau, hier zieht es keine jungen Akademikerfamilien hin – trotzdem ist zwischen ältlichen Bungalows und betagten Mehrfamilienhäusern ein staunenswertes Gemeindeleben entstanden. Jedes zehnte der 1300 Gemeindeglieder hatte sich zu Weihnachten ein Geschenk für besonderes Engagement verdient.

 

"Urevangelisch" nennt es Aßmann, wie hier "die Leute als Könner angesprochen werden". Aßmann sieht in der Markusgemeinde eine Glaubensgemeinschaft, die sich orientiere "an den Bedürfnissen der Menschen und an den Kompetenzen, die vorhanden sind". Die Küche liefert den Beweis. In kirchlichen Kreisen gibt es eine goldene Regel: Langeweile herrscht in all jenen Gemeinden, in deren Gemeindehaus-Hängeschränken es nur Kuchengäbelchen und Löffelchen gibt, nur Kaffeetassen und Untertellerchen. Doch in der Küche der Markus-Gemeinde stapeln sich auch richtige Essteller, gibt es ordentliche Messer und Gabeln, genügend Wein- und Sektgläser. Hier wird gekocht. Und gegessen.

 

Etwa rund um die allmonatlichen Gospelgottesdienste am Sonntagabend. Chöre aus der ganzen Region empfinden es als Ehre, in der vollen Markuskirche aufzutreten. "Als ihr eigenes Projekt" sähen die Beteiligten die Gottesdienste, sagt Rudolf Hertle, der die Reihe ehrenamtlich organisiert. "Das haben wir selbst gemacht!", sei das Motto, und in dem drücke sich indirekt aus, "dass Pfarrer so etwas gar nicht könnten". Gebraucht werde ein Pfarrer allerdings schon, um Impulse zu geben, das Konzept zu entwickeln und die Leute zu motivieren. Die aber müssten dann "an der langen Leine laufen".

 

Einen großen Aktivierungsschub bekam die Kirche, als die Markusgemeinde sich von einer der größten Fehlentwicklungen in der deutschen Kirchengeschichte seit 1945 abkoppelte: der Abschaffung der Gemeindeschwestern. Diese Krankenschwestern waren einst in fast jeder Kirchengemeinde angestellt und kümmerten sich um Kranke, um Alte, Kinderreiche, Mühselige und Beladene.

 

Das verband die Religion mit sozialer Praxis und sorgte dafür, dass Pfarrer und Kirchenvorstand wussten, wo wen am Ort der Schuh drückte. Aber seit die unternehmerische Diakonie entstanden ist, analog bei den Katholiken die Caritas, zentralisiert und finanziert aus öffentlichen Sozialkassen wie jeder andere Wohlfahrtsverband – seitdem sind viele Gemeinden isoliert und müssen darauf hoffen, dass hin und wieder ein bisschen Realität in die Kirchenbänke und Gemeindehäuser schwappt.

 

"Ich brauche keine Religion fürs Leben"

 

In Hildesheim jedoch gibt es seit fünf Jahren die "Markusschwester" Ursel Scholz. Anfangs, sagt sie "fand ich den Begriff 'Markusschwester' schwierig, weil ich keine Krankenschwester, sondern Diakonin bin. Mittlerweile geht es mir gut mit dem Wort, weil es eine besondere Verbundenheit und Nähe ausdrückt." Sie berät die Bürger bei Angehörigenpflege und Kinderbetreuung, füllt Anträge aus, hält Kontakte zu Ärzten, zu Krankenhäusern – und bringt Leute zusammen.

 

Scholz hat eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut, bei der sich jüngere Senioren um ältere kümmern und Rentner die Kleinkinder anderer Leute von der Kita abholen. Nicht in Selbstaufopferung, sondern in nachbarschaftlicher Sympathie. Und zwar ohne, so Scholz, "dass ich das noch organisieren müsste". Es gebe jetzt "Vertrauensnetzwerke", die von selbst funktionierten. Dabei machen auch viele mit, die zuvor mit der Kirche nichts zu tun hatten.

 

Ist also das die neue Mission? Ermunterung zur sozialen Eigeninitiative? Jedenfalls scheint dies mehr zu bewirken als das bisherige Missionierungsprogramm der Kirchen. Denn das wird von der wachsenden Gruppe der Religionsverweigerer beharrlich ignoriert. Diese Leute sind nicht jene "Suchenden", als die sie Bischöfe gern sehen und die man dann mit politischen Appellen oder evangelikalen Gitarrengottesdiensten erreichen könnte.

 

Vielmehr ist jenen Nichtgläubigen, das zeigt die neue EKD-Studie ebenfalls sehr genau, die Kirche schlicht und einfach gleichgültig. "Ich brauche keine Religion fürs Leben", ist dort eine der am stärksten bejahten Aussagen von Konfessionslosen. Sie wollen weder fromm noch innovativ angesprochen werden. Sie wollen gar nicht angesprochen werden.

 

Verschiedene Frömmigkeitsstile als Bereicherung

 

"Wir müssen zugeben, dass die traditionellen missionarischen Initiativen kaum in den immer größer werdenden Kreis der Konfessions- und Religionslosen hineinwirken", sagt der Greifswalder Theologieprofessor Michael Herbst, der sich seit Jahren mit den Gründen für das Schrumpfen oder Wachsen von Gemeinden beschäftigt.

 

Zwar ließen sich etliche distanzierte Kirchenmitglieder ansprechen, also jene Halbchristen, die es noch gibt, genauso wie jene, die zweimal im Jahr in die Kirche gehen und für den Adventsbasar der Kita basteln. Aber ansonsten sieht Herbst kaum einen Missionierungseffekt: "All das, was da in den letzten 30 Jahren entwickelt wurde – Glaubenskurse oder neue Gottesdienstformen, Pilgern für Männer oder einzelne Events –, ist zwar innovativ und sinnvoll, hat aber nicht die Wirkung, die man sich erhofft hatte."

 

Für "sinnvoller" hält Herbst, was in Gemeinden wie der in Hildesheim gemacht wird, nämlich "den Blick nach außen zu richten und in den Nahbereichen der Stadtteile oder Dörfer zu schauen, was es da an realen Bedürfnissen und Aktivitäten gibt". Man müsse nicht fragen, "Wie überleben wir als Gemeinde?", sondern: "Welche Bedeutung kann die Gemeinde für diesen Ort haben?" Das bedeute auch, dass sich die Gemeinden auf vorhandene Initiativen anderer einlassen müssten.

 

Tatsächlich ließe sich auch fragen: Wieso muss in Dörfern, deren Sportvereine mit freundlicher Nachwuchsarbeit Kinder und Jugendliche in Schwung bringen, die Kirchengemeinde eine konkurrierende Jugendarbeit machen? Wer braucht einen kirchlichen Besuchsdienst, wenn die städtische Sozialarbeiterin so etwas längst aufgebaut hat?

 

Nach Kooperationsmöglichkeiten mit zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Initiativen müssten die Gemeinden nach Meinung von Herbst suchen – um dann zu überlegen, wie "wir dort zugleich über unseren Glauben reden und zum Glauben rufen". Weil aber jeder Ort anders ist, folgt für Herbst aus der Ausrichtung am jeweils Gegebenen, dass "Gemeinden in Stil, Ausdrucksform und Struktur wesentlich vielfältiger sein werden als bisher". Die Unterschiedlichkeit der Frömmigkeitsstile müsse als Reichtum begriffen werden.

 

"Niederdrückende Lehren" lieber vermeiden

 

Das aber bringt sofort das nächste traditionelle Konzept ins Wanken: dass es Wachstum nur bei einer bestimmten Frömmigkeit gebe, bei der eindeutigen – der evangelikalen unter Protestanten, der romtreuen unter Katholiken. Jahrzehntelang haben diese Gruppen die "Mainstream"-Christen der etablierten Landeskirchen und Bistümer vorwurfsvoll auf deren leere Kirchen hingewiesen und ihnen einzureden versucht, dass nur glühend Überzeugte überleben könnten.

 

Doch Kirchen kriegt man auch anders voll. Das beweist Hans Mörtter, der in der Kölner Südstadt 1998 bei seinem ersten Gottesdienst in der Lutherkirche nur 23 Besucher vorfand, heute aber bis zu 300 anlockt. Mörtter hat entrümpelt. Orgel, Uraltchoräle und Liturgie mit Sitz-steh-sitz-Regeln und Wechselgesängen wurden weitgehend ausgemustert. Ebenso das Glaubensbekenntnis mit Jungfrauengeburt und Himmelfahrt. In seinen Predigten meidet Mörtter "alte niederdrückende Lehren wie die vom stellvertretenden Sühnetod oder vom Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt". Aber was bleibt dann?

 

Das pralle Leben, meint der Sohn eines rheinischen Metzgers und einer frommen Schwäbin. Erst die Entrümpelung schaffe ja Raum für eine "menschennahe Spiritualität". Unter diesem Motto setzt er nicht nur auf betont eingängige Musik: Gospel,*Pop, Taizé-Gesänge.

 

Ganz neue Gottesdienstformate entstehen

 

Mörtter lässt in seiner Kirche auch viel und gern Menschen aufmarschieren, damit sie die Besucher zu Gottvertrauen ermutigen oder für die Nöte ihrer Nächsten sensibilisieren. Gatte und Sohn einer jüngst Verstorbenen erzählen, wie die Hoffnung auf ein Wiedersehen bei Gott sie durchs Leid trage. Eine alleinerziehende*Hartz-IV-Bezieherin schildert der Gemeinde unter Tränen die Sorgen und Demütigungen ihres Alltags.

 

Mörtter hat aber auch komplette Gottesdienstformate erfunden – die der Gemeinde bei Konservativen den Ruf einer kirchlichen "Hafenstraße" eintrugen. Etwa den Karnevalsgottesdienst, bei dem Kostümierte mit karnevalesken Gesängen ihren Schöpfer preisen. Anschließend: Fete rund um den Altar. Dort wurden auch schon WM-Spiele der deutschen Fußballmannschaft mit Bier und schwarz-rot-goldenen Fahnen gefeiert.

 

Oder der Talk-Gottesdienst: Hier beleuchten Prominente die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer oder das Leid der Palästinenser. In Salbungsgottesdiensten wird Menschen die Hand aufgelegt, während man für sie betet. Schließlich die Tango-Gottesdienste: Hier tanzen Profis, aber auch die Gläubigen mehr oder weniger elegant durch die leer geräumte Kirche, um sich ein Thema in der Bewegung zu erschließen. Zuletzt ging es um Vertrauen. Erst verließen sich die Frauen beim Tango auf die Führung des Mannes, dann ließen die Männer sich von ihren Frauen führen, und gemeinsam versuchten sie zu spüren, wie sich das anfühlt. Kirche als Trainingslager für Gottvertrauen. Wenn das halbwegs funktioniere, meint Mörtter, dann habe Kirche wohl nicht alles falsch gemacht.

 

Lässiger Gottesdienst im Kino

 

Man muss das nicht mögen. Es gehört aber genauso zur Vielfalt der Erfolge wie das, was frommen Freikirchlern in Berlin gelingt. Dort lässt die junge Gemeinde "Berlin Projekt" allwöchentlich 400 Leute zu Gottesdiensten an einen hippen Ort strömen, ins Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte. Dieser große Zulauf wird von krisengeplagten Vertretern der etablierten EKD-Kirchen neidisch beäugt. Denn es sind meist jüngere Menschen aus den Szene-Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Wedding, die da in den lässig gefeierten Gottesdienst kommen.

 

Ihr Gesang ist genauso schwach wie der einer traditionellen Gemeinde. Nur dass im Kino Babylon nicht "O Haupt voll Blut und Wunden" gemurmelt wird, sondern "Deine Liebe trägt mich, festigt und erhebt mich". Zu einer Band-Begleitung, deren gefühliger Allerweltspop an die künstlerische Vielfalt der angeblich konventionellen Gottesdienste – von der Gregorianik über Bach bis Jazz – in keiner Weise heranreicht. Eigenartig unergreifend auch das Abendmahl: In den vier Ecken des Kinosaals stehen Helfer mit jeweils zwei Tabletts. Auf dem einen Cracker, auf dem anderen Wein in Plastikbecherchen. Man geht hin, nimmt sich was, geht weiter und putzt das Stückchen und Schlückchen irgendwie weg.

 

Diese Formlosigkeit im Kinosaal entspricht offenbar einem tiefen Bedürfnis der versammelten Berliner Jung-Innovativen. Von Kindesbeinen an daran gewöhnt, ständig über sich und ihre Gefühle nachzudenken, sehen sie sich nun in ihren Kreativberufen und großstädtischen Szenen mit horrenden Selbstdarstellungs- und Inszenierungszwängen konfrontiert. Davon, so verheißen diese Gottesdienste, entlastet eine unverkrampfte Authentizität. Man soll ganz bei sich sein. Die Predigten handeln vom unmittelbaren Aufgehobensein bei Gott im Chaos des Lebens.

 

Dagegen fordert ein paar Kilometer weiter in einer formbewussten Kulturkirche, Sankt Matthäus neben der Neuen Nationalgalerie, die Berliner Pfarrerin Bettina Schwietering-Evers zum Aushalten innerer Spannungen auf. Schnell redend, sich und die Zuhörer fordernd, verweigert sie sich einfachen Auflösungen: Martin Luther habe gefunden, "dass Gott und Mensch, Himmel und Erde sich ganz wunderbar ergänzen", in den zwei Seiten unserer Person, im Gerechtfertigten und im Sünder. "Sie haben zusammen ein spannendes Leben geführt. Leicht war es nicht, aber sie konnten nicht voneinander lassen."

 

Die "Hinterhofkirchen" der Christen

 

All das ist Zielgruppenspezifik, in Sankt Matthäus für Anspruchsvolle, im Kino Babylon für Jungkreative, in der Kölner Lutherkirche für Herzensalternative. Was natürlich bedeutet, dass es nicht das eine große Ereignis gibt, das die Massen in den Glauben treibt und umfassende Gemeinschaft herstellt. Sogar Katholikentage und Evangelische Kirchentage sind nur Cluster von lauter Spezifika. Großereignisse haben auch keine längerfristige Bindungswirkung.

 

Das veranschaulicht der Hamburger Jesuit Martin Löwenstein mit einer Anekdote. Als er noch in Göttingen war, so Löwenstein, sei dort von den Katholiken jahrelang der Saint Patrick's Day mit Parade und großem Fest begangen worden. "Da sagte mir eine Frau: ,Wenn es so etwas jeden Sonntag gäbe, dann würde ich immer kommen.' – 'Nein, das würden Sie nicht tun', meinte ich. Darauf die Frau: 'Da haben Sie recht.'"

 

Löwenstein, Pfarrer an Sankt Ansgar, dem katholischen "Kleinen Michel" in Hamburg, hält die Suche nach dem umfassenden Gemeinschaftsereignis schon deshalb für aussichtslos, "weil gerade in Großstädten immer mehr Katholiken Migranten sind, die ihre eigenen muttersprachlichen Kreise und Gottesdienste haben". Das Christentum in Deutschland internationalisiert sich. Man kann nicht darauf hoffen, alle unter einen Hut zu kriegen.

 

Ganz nüchtern spricht Löwenstein von "christlichen Hinterhofkirchen", in denen sich Migranten zu meist freikirchlichen Gottesdiensten nach Art ihrer Herkunftsregionen versammeln. Wer deren Selbstabschottung und Ausgrenzung überwinden will – und das müssen Christen –, habe "die Gemeinde nicht als homogene Gruppe zu sehen, in der alle zu einer Kultur gehören und etwa denselben Musikstil mögen", sagt Löwenstein. Nötig sei ein Netzwerk unterschiedlicher Formen und Gruppen.

 

Innerhalb dieser Gruppen aber, ob sie nun durch die gemeinsame Herkunft oder durch gemeinsame Interessen zusammengehalten werden, herrscht etwas, das von den Großkirchen lange für unbedeutend gehalten wurde: Nähe. Wie ein harter Einspruch ist der Befund der EKD-Untersuchung in die kirchlichen Strukturdebatten über Fusionen in beiden Konfessionen eingeschlagen, dass Religiosität an kleine Strukturen gebunden ist, an lokale Beziehungen und persönliche Bekanntschaften. Dass die überwölbenden Institutionen dagegen unwichtig sind.

 

Dogma kirchlicher Reformen erschüttert

 

Welche prominenten Protestanten sie so kennen, wollte man bei der Umfrage von den evangelischen Kirchenmitgliedern wissen.Martin Luther, antworteten viele. Okay, Prüfung bestanden, aber Luther ist tot.Margot Käßmann*wurde genannt. Die jedoch steht seit ihrem Rücktritt nicht mehr für die Institution. Einigen fiel*Joachim Gauck*ein. Der ist allerdings Bundespräsident. Aber der aktuelle EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider? Gar die Bischöfe der Landeskirchen? Keine Kenntnis, kein Interesse.

 

"Unsere Vision von Kirche ist nicht weit weg, sondern fängt vor Ort im Stadtteil an", sagt Magdalene Martensen, die Vorsitzende des Kirchenvorstands in der Hildesheimer Markusgemeinde. Für ihre Pastorin Anke Garhammer-Paul gehört es "zu den großen Stärken dieser Gemeinde, dass sie eher klein ist, weil das Nähe ermöglicht". Vieles ergebe sich, "wenn ich mit dem Fahrrad durch das Gemeindegebiet fahre und mich die Leute ansprechen".

 

Dies erschüttert ein ehernes Dogma kirchlicher Reformprozesse in den letzten Jahren. Nämlich das Dogma, dass die Aktivitäten gebündelt und in Großgemeinden sowie in zentralen Musik- oder Jugendkirchen so perfektioniert werden müssten, dass die bisher nicht bewegten Halbchristen endlich mitmachen. Angezweifelt wird dies schon seit Jahren von der Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle, die sich nun bestätigt sieht.

 

"Wir müssen das Faktum der Säkularisierung ernst nehmen und uns von der Illusion verabschieden, dass eigentlich doch alle Menschen religiös sind und nur auf bessere kirchliche Angebote warten", sagt Karle. Jene Illusion habe die evangelische Kirche unter einen letztlich fruchtlosen Reformstress gesetzt. Denn es sei die Meinung entstanden, "dass die bestehenden kirchlichen Strukturen, also die Ortsgemeinden, mit ihren angeblich falschen Angeboten Schuld seien an der verbreiteten Religionslosigkeit und daher letztlich überwunden werden müssten, weil sie Modernisierungshemmnisse sind".

 

Erst jetzt, so Karle, werde den Kirchen klar, "dass erstens die tatsächlich religiösen Menschen stark an den Ortsgemeinden hängen und dass zweitens diese Ortsgemeinden sehr wohl modernitätskompatibel sind". Nämlich dann, da beruft sich Karle auf Erfahrungen aus wachsenden Gemeinden, wenn die sich als Plattformen eines vielfältigen Engagements verstehen, "bei dem die Menschen nicht gleich vereinnahmt werden".

 

Ein "doppelter Paradigmenwechsel" zeigt sich

 

Dass sich Glaube vor allem im Nahbereich vollzieht, konstatiert auch ein katholischer Gemeindeexperte, Bernd Galluschke, Propst in Duderstadt im ländlichen Eichsfeld. Galluschke sieht jetzt eine kirchliche Protestbewegung der letzten Jahre ins Recht gesetzt. Diese Bewegung richtet sich dagegen, dass die beiden Kirchen in immer neuen Fusionswellen die einzelnen Ortsgemeinden zu immer größeren Einheiten verschmelzen. Dagegen wehren sich viele Gemeindeglieder und verlangen, dass die jeweilige Ortsgemeinde erkennbar und die Kirche im Dorf bleiben soll. "Das", sagt Galluschke, "müssen die Institutionen jetzt endlich akzeptieren."

 

Ähnlich wie Karle wendet sich Galluschke zugleich gegen Vereinnahmungsstrategien bei Engagierten. Man dürfe die Leute nicht mit Glaubenssätzen traktieren. Vielmehr entwickele sich christliches Denken "quasivon allein, wenn wir die Menschen in ihrem Engagement würdigen". Als Beispiel führt Galluschke eine Erzieherin in einem kirchlichen Kindergarten an. Wenn diese Frau religiös distanziert sei, sich aber liebevoll um die Kinder kümmere, dann müsse man diesen Einsatz loben und unterstützen, "statt die Frau missionieren zu wollen". Dem Christentum werde sie sich schon von selbst öffnen, wenn sie spüre, dass Christen sie schätzen.

 

Im Grunde besinnen sich hier Praktiker und Gemeindeexperten auf zwei alte Stärken des Christentum. Darauf, dass die Kirche persönlichen Umgang und die Erfahrung von Nähe ermöglicht, im Gebäude am Ort, in den persönlich ansprechbaren Pfarrerinnen und Pfarrern, in kleinteiligen Aktivitäten. Zudem wird Christen jetzt wieder klar, dass sie doch nette Leute sind: Die meisten sind freundlich, können ihre Aggressionen zügeln und deshalb wohlwollend ganz normale Leute anerkennen, wenn die etwas Gutes machen.

 

Von einem "doppelten Paradigmenwechsel" spricht denn auch einer der besten Kenner evangelischer Gemeindeentwicklung, Hans-Hermann Pompe, der in Dortmund das "EKD-Zentrum Mission in der Region" leitet. Zum einen setze sich "die Erkenntnis durch, dass die Ortsgemeinden weiterhin das beste Pferd im Stall sind". Der Blick auf die Ortsgemeinden, genauer auf die lokalen kirchlichen Strukturen, sei "sehr viel freundlicher als noch vor zehn Jahren".

 

Zum anderen, so Pompe, werde wieder deutlich, dass es dem Christentum gut gehe, wenn Christen freundlich seien, zugewandt. Wenn sie also "Neugier entwickeln für die realen, aktuellen Bedürfnisse der Menschen in der Nähe, wenn sie ihnen die Möglichkeit geben, das für sie Wichtige in großer Eigenverantwortung zu entdecken und in ihr Leben zu integrieren".

 

Kirche ist mehr als Religionsdienstleister

 

Pompe hat aber auch eine Mahnung auf Lager. Wenn sich Gemeinden auf die realen Bedürfnisse und Interessen im Hier und Jetzt einließen, könne Kirche nicht mehr nur als Religionsdienstleister für besondere Anlässe auftreten. Das war auch so ein Glaubenssatz in den Reformdiskussionen der letzten Jahre: Weil man dachte, da draußen harrten aufgeschlossene Passive, die hin und wieder spirituell versorgt werden wollten, stürzten sich beide Konfessionen auf die Gottesdienste an den Lebenswendepunkten.

 

Auf die Taufen, die Feiern der Erstkommunion, die Konfirmationen, die Trauungen und Beerdigungen. Doch auch wenn diese natürlich gut gemacht werden müssen: Wenn sich jetzt zeigt, dass viele Leute das zwar gern mitnehmen, sich aber dadurch in ihren Aktivitätsbedürfnissen nicht gefordert fühlen, sondern sich anschließend wieder zurückziehen – dann müssen Gemeinden mehr machen als Grundversorgung. "Die Leute wollen im Alltag angesprochen werden", sagt Pompe, "sie fragen nach der Relevanz des Glaubens. Bei der Beerdigung ist es zu spät."

 

An der EKD-Spitze beginnt man sich auf die Diskussion einzulassen. Jedenfalls gilt das für Thies Gundlach, theologischer Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes in Hannover. In Relativierung mancher bisheriger Reformkonzepte sagt Gundlach, müsse man "feststellen, wie wichtig die lokalen Kirchenstrukturen für viele evangelische Christen sind".

 

Doch wehrt er sich gegen das Verlangen, "dass man zurückmüsse zur alten Ortsgemeinde mit einem Pfarrer, dem Presbyterium und ein paar wöchentlichen Kreisen". Vielmehr hätten sich ja "viele derzeit wachsende Gemeinden von jenen traditionellen Formen verabschiedet und viele neue Gelegenheiten geschaffen für projektbezogenes Engagement mit sehr unterschiedlichen Profilen". Aber eben lokal, gibt Gundlach zu: "Nur wenn man die je konkrete Situation ernst nimmt für die unterschiedlichen Profilbildungen, kann kirchliches Leben gestärkt werden."

 

Neue Konflikte entstehen ebenfalls

 

Klingt gut, ist aber nicht so leicht, wie Gundlach selbst zugibt: Die Ausrichtung an realen Bedürfnissen führe "oft zu Konflikten zwischen 'neuen' Ehrenamtlichen und dem alten Kernmilieu der traditionellen Gemeinden". Wer sich seit Jahrzehnten in den Kirchenvorstand wählen lässt und in permanenter Arbeitsüberlastung alles im Griff zu behalten versucht, der sieht es gar nicht gern, wenn plötzlich bei Einzelprojekten irgendwelche neuen Helfer auftauchen.

 

Schon wieder sei ein Leuchter verstellt worden, wurde neulich in einem Berliner Gemeindekirchenrat gemeckert. Dem Kernmilieu passte es nicht, dass die bislang verrammelte Kirche wochentags geöffnet und von neuen Ehrenamtlichen bewacht wurde. Von Ehrenamtlichen, die sich erdreistet hatten, dort nicht stundenlang still in der Bank zu sitzen. Gundlach beeindruckt das nicht: "Diese Konflikte muss man aushalten."

 

Das gelingt natürlich nur, wenn die alten Getreuen spüren, dass "ihre" Kirche von der Öffnung profitiert. Spüren lässt sich das, wenn die Gottesdienste voller werden. Deshalb wäre es nicht genug, wenn sich Igor Zeller nur als Kirchenmusiker verstehen würde. Gewiss, das ist Zeller, ein bedeutender, der an der evangelischen Christianskirche in Hamburg-Ottensen ein spektakuläres Kulturprogramm aufgezogen hat.

 

Mit anspruchsvollen Chören vom Vorschul- bis zum Seniorenalter, mit Konzerten von Gregorianik über Bach und Neue Musik bis hin zu Udo Jürgens. Damit hat Zeller dazu beigetragen, dass diese Gemeinde, um die es noch vor 25 Jahren schlecht bestellt war, eines der wichtigsten musikalischen und künstlerischen Zentren Altonas geworden ist. Aber Zeller sieht sich auch als Kantor. Das heißt: Er gestaltet die Gottesdienste, gibt ihnen ein plausible Form und hilft der Gemeinde bei der Verbesserung des Gesangs. Das hat Konsequenzen: Jeden Sonntag kommen 150 bis 200 Leute in die Christianskirche.

 

"Ein sehr starkes Zentrum" habe die Gemeinde mit diesen Gottesdiensten, sagt die Pastorin Katharina Fenner, die deutlich macht, dass sakrales Formbewusstsein nicht der rot-grünen Grundhaltung in Ottensen widerspricht. "Von den Gottesdiensten haben wir, so fortschrittlich und liberal unsere Gemeinde ist, ein sehr konservatives Verständnis: klar festgelegte Form, genaue musikalische Gestaltung." Als Pastorin empfinde sie das als entlastend. "Die Qualität unserer Gottesdienste hängt nicht so sehr von meiner persönlichen Performance ab."

 

So könne sie sich auf die Predigten konzentrieren, auf "Denkanstöße für eine kritische Selbstreflexion in der Auseinandersetzung mit Gott und der Bibel". Die Theologieprofessorin Isolde Karle hat den Wunsch nach solchen Predigten vielerorts beobachtet. Es gebe ein "Bedürfnis nach Ernsthaftigkeit", nach gut gefeierten Gottesdiensten mit lebendiger Kirchenmusik und anspruchsvollen Predigten, die "mehr verkünden als Goodwill und seelische Wellness".

 

"Ich kenne die meisten ja kaum"

 

Solche Wellness könne er in der Großstadt den Leuten auch gar nicht bieten, sagt der Hamburger Jesuit Martin Löwenstein. "Ich kann denen nichts über ihr Leben erzählen oder ihnen gar Lebenshilfe geben, ich kenne die meisten ja kaum." Was er aber könne und was sie offenbar schätzen, sei, "dass wir geistliche Impulse geben, in den Predigten die Heilige Schrift auslegen und einen sakralen Raum und die Liturgie pflegen".

 

Kirche für Erwachsene. Eigenverantwortliche Ehrenamtlichkeit, anspruchsvolle Predigten, Sinn für Formen. Das wirft ein neues Licht auch auf Kinder und Jugendliche. Die Zukunft, in gewisser Weise.

 

Bisher werden sie mit eigenartiger Ehrfurcht betrachtet. Oh, neue Mitglieder! Wenn Jugendgottesdienste gut laufen, wird die ganze Gemeinde mit Pop-Dilettanten behelligt. Zu bemitleiden sind aber auch die Konfirmanden, die im Gottesdienst als junges Leben vorgeführt und bei Lesungen eingesetzt werden. Mühsam haspeln sie sich durch Paulus-Texte, deren Vortrag selbst Theologen Vorbereitung abverlangt. Kirchliche Jugendarbeit braucht skeptische Gelassenheit.

 

Zwar sind Kitas, Konfirmandenfreizeiten und Religionsunterricht unabdingbare Voraussetzungen christlicher Grundaufmerksamkeit. Aber niemand weiß, ob in Hamburg-Ottensen und Berlin-Mitte, wo die Gemeinden derzeit vom Zuzug junger Familien profitieren, nicht in zehn Jahren die ganze Herrlichkeit vorbei ist. Wenn die Herangewachsenen mit der Konfirmation ihren religiösen Ausstand geben und die Eltern die "christlichen Werte" nicht mehr als Erziehungsratgeber benötigen – werden dann jene Gemeinden gedeihen? Wohl nur, wenn sie erwachsenes Leben pflegen. Und von den Kindern nicht zu viel erwarten.

 

Junge Leute "in der Gegenwart wichtig"

 

Das gelingt Baptisten. In dieser evangelischen Freikirche werden Erwachsene getauft, und obwohl das nicht die einzige Form des Gemeindeeintritts ist, steht fest, "dass man Baptist nicht aus Versehen wird, sondern durch eine bewusste Entscheidung", wie Anja Neu-Illg sagt, Pastorin der Baptistengemeinde in Hamburg-Eimsbüttel. Die Gemeinde könne entspannt umgehen mit Kindern und Jugendlichen.

 

Weil die kein "Mitgliedernachschub" seien, müssten Baptisten bei ihnen nicht "Nachwuchs missionieren", sondern könnten ihnen einfach anbieten, mit dem Glauben gute Erfahrungen zu machen. Was sie dann als Erwachsene damit machten, werde sich zeigen. Kinder und Jugendliche seien "nicht die Zukunft der Gemeinde, sondern in der Gegenwart wichtig".

 

Dass es einer erwachsenen Entscheidung bedarf, um mitzumachen, dürfte der Grund dafür sein, dass die Aktivitätsquote hoch ist. Die Eimsbütteler Baptistengemeinde hat rund 120 Mitglieder, 80 sind engagiert, davon 40 sehr intensiv. Anja Neu-Illg, eine nachdenkliche Frau, die in kein Freikirchen-Klischee passt, spricht nicht von "Gemeindearbeit", sondern von "Gemeindeleben". Nicht alles hänge an ihr, die Gruppen träfen ihre Entscheidungen weitgehend selbst. Sie mag in den Gottesdiensten den "vollen Gesang", der ein Zeichen dafür sei, dass sich die Leute nicht etwas vorsetzen ließen, sondern "den Gottesdienst mit mir zusammen gestalten".

 

Streberhaftes Zeugnis-Ablegen ist passé

 

Dies betrifft auch das Beten. Das, erzählt Neu-Illg, "geschieht von den Sitzplätzen aus, oft laut und vernehmlich für alle anderen. Wenn es gelingt, dann unterstützt und inspiriert es das Gebet der anderen. Manche lernen vielleicht in unseren Gottesdiensten überhaupt erst beten." Heikle Vorstellung: Man sitzt zusammen mit vielen anderen im Gottesdienst und betet allein für alle hörbar auf eigene Faust.

 

Erträglich wird diese Vorstellung nur, wenn man gar nicht erst denkt an streberhaftes Zeugnis-Ablegen, sondern sich vortastet zur Idee, Vorbehalte und Nichtglauben auszusprechen. Ob das geht? Wenn überhaupt, wohl nur zwischen tatsächlich Erwachsenen in vertrauter Nähe. Aber dort hat Religiosität heutzutage ohnehin ihren Ort.

 

Im*Internet*jedenfalls, auch das zeigt die EKD-Studie, findet sie nicht statt. Natürlich mailen Christen. Aber Glaubens-Chats oder Christenforen sind eine statistisch kaum messbare Minderheitenveranstaltung. Das eigene Credo postet fast niemand. Wenn sich Christen etwas herunterladen, was für sie Glaubensrelevanz hat, dann ist es die PDF-Version des Gemeindebriefs.

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