Webmaster Posted March 13, 2023 Share Posted March 13, 2023 Scharia vs. Grundgesetz? Ein Lebensweg und kein Grundgesetz In eher polemischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass für Muslime die Scharia über dem Grundgesetz stehen würde. Die Muslime würden sich daher nicht an das Grundgesetz halten, sondern an die Scharia und an den Koran. Was in Diskussionen auf diesem Niveau nicht behandelt, ja nicht einmal hinterfragt wird, sind Fragen, was überhaupt die Scharia ist, was sie genau bedeutet, was es heißt, sie mit dem Grundgesetz zu vergleichen. Dabei ist die Scharia, nicht wie immer wieder angenommen wird, ein Regelwerk oder ein Grundgesetz, sondern es ist eine Lebensweise der Muslime. Wortwörtlich übersetzt heißt Scharia „der Weg zur Tränke“, sinngemäß heißt es „der gerade Weg“. Es ist also ein “Weg“, eine Lebensweise, eine Lebensphilosophie. Ein Weg, der zur Weisheit und Reife führen soll. Die (Rechts)Quellen der Scharia sind der Koran (Offenbarung Gottes), die Sunna (Taten und Aussprüche des Propheten), Idschma (Konsens der islamischen Rechtgelehrten) und Qiyas (Analogieschluss). Die Scharia ist daher ein System, das aus diesen Quellen geschöpft wird. An Hand dieser Quellen sehen wir aber, dass 99% der Scharia aus Moral und Ethik besteht. Der Islamgelehrte Said Nursi hierzu: „Scharia besteht zu 99% aus Ethik, Gebet, Jenseits und Tugendhaftigkeit. Nur 1% ist Rechtsordnung, und damit sollten sich die Regierenden befassen“ (Nursi, 2001, S. 59). An anderer Stelle heißt es: „Wir haben den Sinn und das Ziel der Scharia nicht begriffen […]. Scharia, welche zu neunundneunzig Teilen von hundert Teilen dich angeht. Ein Teil betrifft und obliegt den Regierenden“ (vgl. Nursi, 1978, S. 23). Daher ist die Scharia keine bloße Rechtsordnung oder ein Gesetzbuch, sondern eine Lebensweise. So ist die Scharia auch nicht verschriftlicht oder kodifiziert. Wer nach einem “Sharia-Gesetzbuch“ sucht, sucht also vergebens. Ohnehin war die Scharia oder der Koran noch nie in den muslimischen Gemeinschaften das Grundgesetz. Noch nie hat der Koran das Grundgesetz ersetzt. Jedes Land, in dem überwiegend Muslime lebten, hatte selbstverständlich ein Grundgesetz. So z.B. als der Prophet Muhammed in Medina “regierte“. Hier wurde nicht die Scharia als Gesetzbuch genommen, sondern eine Verfassung, die alle Religion und Kulturen mitberücksichtigte. Auch heute haben Länder mit überwiegend Muslimen Grundgesetze und es wird selbstverständlich nicht darüber diskutiert, diese mit einem “Scharia-Gesetzbuch“ zu ersetzen, weil Muslime diese beiden nicht vergleichen oder gleichsetzen. Die Diskussion “Scharia oder Grundgesetz?“ ist daher keine innermuslimische Diskussion, sondern eine europäische Diskussion. Naturgemäß ist es so, dass die Grundgesetze vom Koran inspiriert waren und sind. So wie auch gegenwärtig viele Grundgesetze in Europa und der Welt von der Bibel, oder das Grundgesetz in Israel von der Thora inspiriert sind. Nursi schrieb hierzu: „Die Gerechtigkeit und Ordnung der Staaten und Gesellschaften sind durch die Erweckungen und Belehrungen der Gläubigen entstanden. Und die Grundlagen dieser Gerechtigkeit und Tugend sind durch die Gesetze der Propheten errichtet worden. Das heißt, die Propheten haben die Grundlagen und das Wesentliche festgelegt. Die nachkommenden Gesellschaften haben diese Grundlagen und Tugenden befolgt und sie in ihren Handlungen umgesetzt. Andere Systeme von Ordnung und Glückseligkeit, die nicht aus den religiösen Quellen stammen, sind hingegen vorübergehend. In einer Hinsicht mögen sie bestehen und aufrechtzuerhalten sein, aber in vielen anderen Hinsichten sind sie geneigt und krumm. Das heißt: So sehr sie äußerlich, materiell, sprachlich und in ihren Taten geordnet sein mögen, innerlich, geistig und im Sinne ihrer Bedeutung sind sie durcheinander“ (Nursi, 1991, S. 141). Grundlegende Werte, wie Demokratie, Meinungsfreiheit oder Menschenrechte sind aus den Offenbarungen inspiriert. So haben auch muslimische Gemeinschaften ihre Inspiration aus dem Koran geschöpft. Dabei waren die Grundsätze „Jeder ist frei in seiner eigenen Religion“ und „Jeder ist frei in der Religionsauslebung“ nicht nur bloße Theorien, sondern gelebte Praxis. Dies sehen wir auch beim Propheten Muhammed, der in Medina als Oberhaupt der Bevölkerung, die Christen und Juden ihre Religion ausüben lies. Die Rechte der Christen und Juden zur Religionsausübung waren in der o.g. Verfassung fest verankert. Auch gab es in der Geschichte nie ein Land, eine Nation oder eine Gemeinschaft, dass sich “Islamisches Land“ oder ähnlich bezeichnete. Als der Prophet Muhammed nach Yathrib kam, wurde der Name in Medina umgeändert, was einfach nur “Stadt“ bedeutet. Auch das Osmanische Reich, welches 623 Jahre herrschte, nannte sich in all diesen Jahrhunderten nicht “Islamischer Staat“. Daher kann sich keine Gemeinde, Nation oder Land heute das Recht nehmen, sich so zu bezeichnen. Nicht Länder, sondern Personen können muslimisch sein. Daher sind Diskussionen, ob die Scharia mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sinnlos und zeigen nur eine große Unkenntnis gegenüber dem Islam. Sie dienen häufig nur als Polemik oder sollen öfters eine gewisse Islamophobie verschleiern. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2017 https://www.islamische-zeitung.de/ein-lebensweg-und-kein-grundgesetz/ Literatur: · Nursi S.: Divan-i Harb-i Örfi. Sözler: Istanbul, 1978 · Nursi S.: Muhakemat. Sözler: Istanbul, 1991 · Nursi S.: Tarihçe-i Hayat. Yeni Asya: Istanbul, 2001 Quote Link to comment Share on other sites More sharing options...
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