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Ist eine Reformation im Islam nötig?

 

 

 

1.0 Einführung

 

Im abendländischen Diskurs werden Stimmen laut, die eine Reformation oder Aufklärung des Islams fordern. So kommen nun auch aus den muslimischen Reihen Ansichten, die einen „neuen“ Islam anstreben und verlangen. Zu der letzteren Kategorie können wir auch den so genannten „Gemäßigten Islam“, den „Euro-Islam“ von Bassam Tibi (1992) oder den „Aufgeklärten Islam“ nennen.

 

Ich werde nun im Folgenden aufzeigen, dass der Reformations-Diskurs christlich geprägt ist und zumindest in diesem Umfang nicht dem Islam übertragbar ist. Hierzu müssen wir zunächst einen historischen Exkurs machen. Wir werden aber die Geschichte im Kontext der Wissenschaft betrachten, da diese als Argument der „Islam-Reformer“ gilt. Zudem steht nicht das Christentum als Religion, sondern die Kirche als Institution des Christentums im Zentrum unserer Überlegungen.

 

 

2.0 Historischer Exkurs

 

Es ist eine wohlbekannte Sache, dass die Kirche Jahrhunderte lang -obwohl es klar zum Gegensatz der christlichen Lehre stand- gegen die Wissenschaft war. Sie, die Wissenschaft, galt als Konkurrenz zur Kirche. So wurde das christliche Volk von den Machtbesitzern in der Kirche unter Druck gehalten und zunehmend von der Wissenschaft abgegrenzt. Das Erforschen der Natur galt als „teuflisch“ und die, die es praktizierten, wurden verfolgt. Die Kirche unterdrückte das eigene Volk und übte Macht aus. Die Menschen waren auf die Kirche angewiesen, da sie für sich in Anspruch nahm, die Menschen begnadigen zu können (Beichtstuhl, Ablassbriefe usw.) und „Plätze im Himmel“ verkaufen zu können. So wehrte sich Luther gegen diese Unterdrückung und schrieb seine 95 Thesen. Er forderte eine Reformation der Kirche. Im Juni 1518 wurde ein Prozess gegen Martin Luther eröffnet. Fast drei Jahre lang wurde der Prozess geführt. In dieser Zeit wuchs die Anhängerzahl Luthers stetig. 1521 übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche. Das Volk fand nun Zugang zum Text und stellte Unterschiede zwischen der Kirche und der Bibel fest. Es kam zu blutigen Schlachten zwischen dem Volk. Als Ergebnis entstand ein neuer Weg des Christentums: die lutherische Kirche.

 

200 Jahre später erleben wir eine größere Revolution in der christlichen Welt: Die französische Revolution. Die Republikaner zwangen die römisch-katholische Kirche zu maßgeblichen Veränderungen. Die Macht der Kirche wurde nach einer langen psychischen Unterdrückung vom Volk beendet.

 

Diese Revolution veränderte Europa von Grund aus. Die Wege für die Wissenschaft wurden eröffnet. Makellos ist in der Tat der Aufstieg der Technologie, das ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr zu stoppen ist und gegen Ende des 20. Jahrhunderts rapide anstieg. Die Wissenschaft entwickelte sich neben der Kirche zu einem wichtigen zentralen Anhaltspunkt für die Gestaltung des Alltags.

 

 

3.0 Muslimische Sicht

 

Aus diesem Blickwinkel her scheint es, als sei die Religion Schuld am Zurückbleiben der europäischen Gesellschaften gewesen. Religion hätte die Wissenschaft daran gehindert, sich zu entwickeln. Dies ist einer der Argumente muslimischer Autoren, die eine Reform im Islam verlangen. Sie sehen darin eine Lösung für die „unterentwickelten und wissenschaftlich zurückgebliebenen“ muslimischen Länder.

 

Die Logik dieser Autoren lautet folgendermaßen: Die Protestanten trennten sich von den „strengen“ Katholiken. Die Länder, die protestantisch sind, sind heute hochentwickelte Länder, während katholische Länder weniger entwickelt sind. Somit sollte der Islam auch eine Protestantisierung durchmachen. Daraus sollte ein calvinistischer Islam, oder vielmehr ein europäischer Islam entstehen. Hier wird ein schwerwiegender Fehler begannen. Diesen Fehler möchte ich im nächsten Kapitel näher untersuchen.

 

 

4.0 Unterschiede Islam und Kirche

 

Der Fehler ist, dass das christliche Muster mit all ihren Unterschieden dem Islam übertragen wird. Warum diese Übertragung wenig Sinn macht, werde ich nun an Hand einiger Faktoren, die bei der Kirche zur Reform führten, erklären. Meine zentrale These lautet, dass diese Faktoren nicht im Islam existieren und dass deshalb eine Reformation im Islam nicht möglich ist.

 

 

[h=1]4.1 Wissenschaft[/h]

Während die Kirche sich gegen die Wissenschaft stellte und das Erforschen der Natur unterbat, sehen wir in der islamischen Geschichte genau das Gegenteil. Das Erforschen der Welt und alles in ihr werden als Pflicht eines jeden Muslims gesehen. Jeder Muslim ist verpflichtet, nach Wissen zu streben. Somit kann nicht behauptet werden, dass die Religion die Wissenschaft aufhalten würde. Auch im Christentum ist dies nicht der Fall. Vielmehr war es die Kirche als Institution, die die Wissenschaft verteufelte. In den Lehren Jesu ist dies nicht wiederzufinden.

 

 

4.2 Institutionen mit Macht

 

Die Kirche war nicht nur eine religiöse und soziale, sondern auch eine „ökonomische, wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Institution; ja sogar ein „Kaiserreich“ (Duran, 1997, S.62). Im Mittelalter waren 30% der Landfläche in Frankreich im Besitz der Kirche. Die Klöster waren im Besitz von zehntausenden Schaafsherden und Sklaven. Durch die Beichte und den Verkauf von „Grundstücken im Paradies“ schafften sich die Kirchen einen großen Reichtum an (Fersadoglu, 2006a).

 

Im Islam sind die Moscheen keine Institutionen. Somit gibt es auch kein Machtapparat, das vorschreibt, wer begnadigt wird oder wer in den Himmel kommt. Die Beichte fällt völlig weg. Jeder Mensch steht somit als Individuum vor seinem Schöpfer und beichtet nur Ihm. Man ist damit nicht mehr abhängig, wie damals von der Kirche.

 

 

4.3 Bevorzugung der Reichen

 

Ein Hauptgrund für den Aufstand gegen die Kirche war es, dass die Kirche die Reichen bevorzugte, ja selbst zu den Reihen zählte. Vor Luther konnten es sich nur die Reichen leisten, „begnadigt zu werden und in den Himmel zu kommen“. Arme Menschen konnten sich weder den Frieden auf Erden noch im Jenseits leisten. So gab es ständig Aufstände und Kriege zwischen den verschiedenen Schichten. Die katholischen Länder und die Länder der Reformation bekriegten sich ständig.

 

Von ein oder zwei Ereignissen abgesehen hat es aber im Islam kaum jemals einen innerislamischen Religionskrieg gegeben. Denn im Islam wird weder der Reihe noch der Arme bevorzugt. „Durch die Verpflichtung zum Zekat und das Verbot von Zins und Wucher hat der Islam die Oberschicht nicht zu Diktatoren der einfachen Leute werden lassen“ (Nursi, 2001, S. 422). Der Wohlhabende ist verpflichtet, einen Teil seines Vermögens an die Armen abzugeben. Der Arme wiederum hat das Recht, diese Abgabe einzuverlangen. Somit kann hier nicht die Rede von einer Religion der Reichen sein.

 

 

4.4 Rationalität des Individuums

 

Gleichzeitig verlangte die Kirche vor der Reformation vom Volk, nicht „nachzudenken“. Die Kirche dachte für das Volk. Die „Kirche“ war sozusagen unfehlbar. Forscher, Wissenschaftler, „Denker“ und Gruppen, deren Meinungen im Gegensatz zur Kirche standen, wurden aus der Kirche verbannt und vom sozialen Leben ausgeschlossen. Ihre Rechte wurden aberkannt. Viele Menschen wurden aufgehängt.

 

Im Koran wird jedoch ständig an die Rationalität der Menschen appelliert. Aussagen wie „Haben sie denn keinen Verstand“ (Der Koran, 2:44), „Warum achtet ihr nicht darauf?“ (Der Koran, 4:82), „Warum denken sie nicht nach?“ (Der Koran, 6:50) findet man überall im Koran. Auch wenn die Anzahl nicht unbedingt etwas aussagt, ist es bemerkenswert, das ganze 832mal das Wort „Wissen“ und 854mal das Wort „Erziehung“ (vgl. Sahinöz, 2008, S.120) im Koran vorkommen. Kritisches Denken steht also im Mittelpunkt des Alltags eines Muslims. Einfache „Akzeptanz“ von Ideen werden vom Islam nicht anerkannt. Der Islam lehnt den Verstand also nicht ab, bringt seine Wissenschaftler nicht zum Schweigen und fordert von ihnen keine blinde Nachahmung.

 

 

4.5 Staat – Diener oder Machthaber?

 

Die Kirche machte -ganz im Paradox zum Propheten Jesus- das Volk zum „Diener“. Das einfache Volk hatte zu gehorchen, während die Geistlichen die Herrscher mit Stolz und Prackt waren. So zogen z.B. die Geistlichen Gewänder an, mit denen man strikt gerade stand und sich nicht beugen konnte, weil dies als Anzeichen der Schwäche galt. Sie wollten damit nicht wie das „normale“ Volk aussehen.

 

Im Islam gelten aber die Prinzipien „Der Herrscher eines Volkes ist der Diener eines Volkes“ (Deylemi, o.A. S.324; Acluni, 1313, I, S.463; Magribi, o.A. S.450) und „Der beste unter den Menschen ist der, der ihnen am hilfreichsten ist“ (Acluni, 1313, II, S.393). So werden die Herrscher oder Regierungen eines Landes nicht zu Personen, die Dienst erwarten, sondern die Dienst anbieten.

 

 

4.6 Vertreter Gottes auf Erden

 

Ein weiterer Unterschied ist, dass es im Islam keinen Vertreter Gottes gibt. Die Menschen als ganzes sind die Vertreter Gottes auf Erden. Auf der anderen Seite sehen wir, dass Priester, Pfarrer oder sogar Präsidenten als „Auserwählte Gottes“ oder die Vertreter Gottes auftraten. Auch dieser Faktor ist dem Islam fremd.

 

 

4.7 Glauben und Alltag

 

Robinson (1987, S.265) schreibt, dass sich der Islam „mehr mit der Frage, wie sich die Menschen verhalten, als mit dem, was sie glauben“ befasst. Im Islam ist der Blick auf die Handlungen gerichtet (Mihciyazgan, 1994, S.38). Was nun das Christentum betrifft: Der wohl wichtigste Unterschied ist, dass das Christentum auf dem Glauben alleine beruht. Das heißt, Jesus brachte keine Handlungsmuster für den Alltag. Der Glaube alleine bindet das Individuum an das Christentum. Es gibt keine bestimmten Verhaltensmuster für Alltagssituationen. Said Nursi hierzu: „In der Religion Jesu wurden nur die Fundamente des Glaubens von Jesus, mit dem der Friede sei, übernommen. Die meisten Grundsätze des sozialen Lebens und die Ausführungsbestimmungen zum Gesetz wurden von seinen Jüngern und Aposteln und den Kirchenvätern geformt. Der größte Teil wurde aus den vorausgegangenen Heiligen Schriften (Taurat, Sebur) entnommen. Da Jesus, mit dem Friede sei, kein weltlicher Herrscher und kein Sultan war und auch nicht die Quelle eines allgemeinen Gesellschaftsrechts, wurden die Fundamente seines Glaubens mit Gewändern allgemeiner Gesetze und des bürgerlichen Rechts von außen umkleidet, wodurch sie verschiedene Formen annahmen und nun als das Gesetz Christi bezeichnet werden. Ändert man diese Form und wechselt man die Kleider, so bleibt doch das Fundament des Glaubens Jesu, mit dem der Friede sei, weiter erhalten. Und so verleugnet (wer sich zu ihm bekennt) Jesu, mit dem der Friede sei, nicht und widerspricht ihm auch nicht“ (Nursi, 2001, S.421). Im Islam jedoch reicht der Glaube alleine nicht aus. Der Glaube muss auch im Alltag umgesetzt werden. Erst durch den Alltag wird der Muslim zum Muslim. Es gibt klare Muster, was Familie, Wirtschaft, Nachbarschaft, Handel, Staat usw. betrifft. Ohne diese ist ein Islam nicht vorstellbar.

 

So kann es also ohne Probleme zu einer Reformation des Christentums kommen. Der Christ müsste nichts aufgeben. Eine Reformation im Islam hieße aber, Veränderungen im Alltag und dies würde die Religion von Grund aus ändern. Grundlegende Merkmale des Islams, wie z.B. das Schweinefleisch- und Alkoholverbot, das Tragen eines Kopftuches, müssten verändert oder komplett abgeschafft werden. Es müssen natürlich nicht gleich diese radikalen Veränderungen sein. Jedoch jede kleinste Veränderung würde dem Koran widersprechen und die Existenz des Islams im Alltag gefährden. Der Muslim müsste also im Gegensatz zum Christen sein muslimisches Leben aufgeben. Sein einziger Bezug zum Islam wäre nur noch sein Glaube.

 

 

5.0 Schlussfolgerung

 

Jahrhunderte dauernden Kriege und Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft und zwischen Rationalität, Philosophie und Kirche führten zur Renaissance und Reformation. Anstelle des „jenseitigen Lebens“ rückte das „diesseitige und materielle Leben“ an die erste Stelle. So entstanden neue Richtungen und viele Länder und Völker wandten sich von der katholischen Kirche ab (Fersadoglu, 2006b).

 

Wir haben aber in diesem kurzen Text gesehen, dass die Voraussetzungen und Faktoren, die eine Religion reformieren, im Islam nicht vorherrschen. Gewiss gibt es „Erneuerungen“ (Djadidismus) im Islam, die durch den folgenden Hadith des Propheten Muhammed legitimiert werden: „Zu Beginn eines jeden Jahrhunderts wird Gott jemand in dieser Gesellschaft berufen, der die Religion aktualisiert und wiederbeleben wird“ (Ebu Davud, 1981, Melahim: 31). Doch diese „Erneuerungen“ sind keine Reformen, sondern zeitgemäße Auslegungen des Korans, die den Kern des Islams nicht einen Zentimeter verrücken. Die Stimmen um einen „Neuen Islam“ sind daher vielmehr politisch zu interpretieren. Aus Seiten der Politik wird eine neue „Richtung“ des Islam verlangt, namentlich „Euro Islam“.

 

Was der Islam braucht, ist also keine Reform. Diyanet, der religiöse Arm des türkischen Staates, verkündete in einer Pressemitteilung am 28.02.2008, dass eine Reform im Islam nicht möglich ist. Der Islamgelehrte Said Nursi schließt ebenfalls eine Reformation oder Aufklärung des Islams aus legitimen Gründen völlig aus (Nursi, 2001, S.420-424). Nur etwas Deformiertes braucht Reformen und dies trifft auf den Islam nicht zu. Vielmehr sollte es Bestrebungen geben, den Islam richtig auszulegen. Anders ausgedrückt: Nicht der Islam, sondern die Muslime brauchen eine Reform.

 

 

Cemil Şahinöz

 

 

 

6.0 Literatur

 

 

  • Acluni Ismail Ibnu M.: Kesfu´l-Hafa Ve Müzilü´l-Ilbas Amma Istehere Mine´l-Ehadisi a la Elsineti´n-Nas. Band I und II. Beirut: 1351
  • Der Koran. Übersetzung von: Khoury Adel Theodor. Unter Mitwirkung von Abdullah Muhammed Salim. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh, 1987

 

  • Deylemi Ebu M.: Müsned. Band 2. o.A.
  • Duran B.: Sekülerlesme Krizi ve bir cikisyolu arayisi. Timas: Istanbul, 1997
  • Ebu D.: Sünen. Cagri Verlag: Istanbul, 1981
  • Fersadoglu A.: Kilise Imparatorlugu. In: Yeni Asya Zeitung. 28.03.2006 (a)
  • Fersadoglu A.: Laiklik ve Sekülarizmin Dogusu. In: Yeni Asya Zeitung. 29.03.2006 (b)
  • Magribi: Camiu´s-Seml. Band 1. o.A.
  • Mihciyazgan U.: Identitätsbildung zwischen Selbst- und Fremdreferenz. Überlegungen zur Beschreibung der Identität muslimischer Migranten. In: Schreiber P. (Hrsg.): Identitätsbildung in multikultureller Gesellschaft. Münster, 1994, s.31-48
  • Nursi S.: Mektubat. Yeni Asya: Istanbul, 2001
  • Robinson F.: Säkularisierung im Islam. In: Schluchter W. (Hrsg.): Max Webers Sicht des Islam. Frankfurt, 1987, s.256-271
  • Sahinöz C.: Wer bist du? Die Reise des Menschen. 4. Auflage. Nesil: Istanbul, 2008
  • Tibi B.: Euro-Islam und Ghetto-Islam. In: FAZ, 07.12.1992

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