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Die Debatte um die Extreme

 

Internet, Gelehrte, Meinungen - das islamische Rechtsdenken ist noch immer in einer Krise. Von Khalil Breuer, Berlin

(iz). Wenn es um echte Positionen des Islam gegenüber Terrorismus und Selbstmordattentaten geht, finden sich nach wie vor viele Presseerklärungen, aber relativ wenig substanzielle Äußerungen und Texte von glaubwürdigen islamischen Gelehrten. Eine Ausnahme ist hier das Marokkanische Ministerium für Auqaf und islamische Angelegenheiten. Das Ministerium bemüht sich, nach leidvollen Erfahrungen mit dem Terrorismus im eigenen Land, auf seinen Internetseiten und durch Konferenzen um die Verbreitung einer klaren Position. Im Kern stellt diese Position grundsätzlich fest, dass „das Töten von Unschuldigen keinerlei Grundlage in der Schari’a“ habe. Begründungen für andere Interpretationen finden demnach keine Grundlage in der Religion des Islam.

 

Die Rechtsregeln und Denkregeln des Islam zu verstehen, war vor geraumer Zeit noch Ergebnis jahrelangen Studiums. Durch den Einsatz neuer Medien haben sich heute auf dem Markt der Meinungen auch radikale Gruppen mit Schnellkursen positioniert. Auch ein Zeitungsartikel kann komplexe Argumentationsketten nur andeuten, aber doch feststellen und darauf hinweisen, dass es nach wie vor an einer umfassenden Debatte unter Muslimen fehlt. Die Islamische Zeitung hat in dutzenden Artikeln wiederholt verschiedene Positionen reflektiert, die eine inhaltliche Abgrenzung zum Terrorismus erlauben, aber gleichzeitig auf einer Lehre mit islamischer Grundlage basieren. Vielen jungen Muslimen fällt es angesichts der Bilder lokaler Kriege und weltweiten Elends heute immer schwerer, zwischen Meinungen, Politik und Recht zu trennen. In der muslimischen Welt hat sich auch deswegen eine Krise des islamischen Rechtsdenkens rasend schnell verbreitet. Es ist wichtig, dass möglichst viele Muslime das komplizierte Verhältnis des Islam zur Moderne gemeinsam bedenken und die rechtlichen und philosophischen Einblicke miteinander teilen.

 

Die Redaktion der Islamischen Zeitung hat beispielsweise unlängst mit einer Delegation marokkanischer Gelehrter ihre hörbaren Positionen näher nachvollzogen. Der Islam und damit auch dessen Lehre hat im Maghreb eine Jahrhunderte alte Tradition. Hierbei ist die Antwort auf den Terrorismus nicht isoliert zu betrachten, sondern eingebettet in ein komplexes Lehrsystem. Wer eine Position zum Terrorismus verbreitet, muss beispielsweise auch sagen können, wie er es mit der Zakat hält. Letztlich sieht Marokko in der auf die Praxis von Medina zurückgehenden malikitischen Rechtsschule, der asch’aritischen ‘Aqida und dem Tasawwuf die geistigen Wurzeln der marokkanischen Gesellschaft. Diese Bestandteile - über Jahrhunderte Konsens zwischen Muslimen - haben Marokko in der Geschichte eine innere Stabilität und eine Einheit gegeben, wie Hakim El Ghissassi vom Auqaf-Ministerium bereits vor einem Jahr in einem Interview mit der Islamischen Zeitung klar gestellt hat. In der Rückbesinnung auf klassische Lehrinhalte sieht Marokko ein Gegengewicht gegen die wachsende Radikalisierung vieler Jugendlicher im Lande durch ausländische Prediger oder Internetforen. Die Polarisierung der Gesellschaft wurde in den letzten Jahrzehnten auch dadurch verstärkt, dass eine gestiegene Zahl von Muslimen nicht mehr praktiziert oder sich sogar esoterischen Sekten zugewandt hat.

 

 

http://www.islamische-zeitung.de/?id=667

Die Begegnung und das Lernen mit Gelehrten wird heute nicht nur in Marokko oft durch das Internet ersetzt. Zum Thema passt zum Beispiel eine Debatte auf Islamonline, die nachhaltig schockiert. Eine Muslimin aus Palästina frägt dort bei Schaikh Qaradawi virtuell an, ob auf dem Weg zum Selbstmordattentat und zum so genannten Märtyrertum ein Kopftuch zu tragen sei oder ob man es aus taktischen Gründen auch weglassen könne. Zynischerweise behandelt Schaikh Qaradawi diese abgründige Frage tatsächlich per virtuellem Rechtsgutachten. Über diese Art öffentlicher Gelehrsamkeit, verbreitet im Internet und nicht selten auf politischen Emotionen basierend, schütteln viele Muslime zu Recht den Kopf. Das von Qaradawi vertretene „Ausnahmerecht“ im Falle Palästinas - statt der grundsätzlichen Ablehnung jeden Selbstmordes - ist mittlerweile zur Grundlage der Debatte in tausenden Internetforen in aller Welt geworden. Die weitere Erosion des Rechts ist dabei absehbar. Da der Konflikt im Nahen Osten, angesichts Elends und Zerstörung, große Empörung in der islamischen Welt hervorruft, wird es schwerer, die komplexen Rechtsregeln, über die der Islam ja verfügt, zu vermitteln. Der so genannte islamische Modernismus, der Politik über das Recht stellt und leicht zu einer Ideologie mutiert, wird von vielen Gelehrten heute gerade nicht mehr als eine Art Weiterentwicklung der Tradition begriffen. Authentische Lehre und authentische Lehrer schützen zuverlässig vor Radikalisierung.

 

http://www.islamische-zeitung.de/?id=6369

Wenn man keine Gelegenheit hat, mit - beispielsweise - marokkanischen Gelehrten persönlich zu sprechen, kann man auch für eine erste Orientierung im Internet die Ergebnisse einer Tagung des Obersten Rats der islamischen Rechtsgelehrten nachlesen, die im Mai in Casablanca stattgefunden hat. Die Tagung stellt islamisch-rechtliche Normen einigen gängigen Thesen aus dem Lager des Terrorismus und Extremismus gegenüber. Die Sitzung war von König Muhammad VI. organisiert worden. Zweck dieses Symposiums war es, eine Analyse der ideologischen Fundamente der Terroristen und Extremisten anzufertigen und eine Zusammenfassung der Folgen dieser gefährlichen geistigen Bewegung vorzunehmen. Nach Ansicht vieler marokanischer ‘Ulama reichen die typischen sozio-ökonomischen Probleme des Landes nicht als Erklärungsansätze für die Entstehung des terroristischen Phänomens aus. Die terroristische Bewegung nährt sich vielmehr aus grundsätzlich falschen Lehrinhalten. Sie bedienen sich dabei aus modernen ideologischen Überzeugungen und islamischen Quellen gleichermaßen. Während die Obskuranten (Terroristen) versuchen, eine religiöse Legitimation für ihre Taten zu finden, nehmen sie die Ideologie der so genannten Takfiristen an. Die Takfiristen lehnen jegliche neue Fatwa im Islam mit der Begründung ab, dass die Umma zu viele neue Regeln in den Islam übernommen habe und bezeichnen diese Neuerungen sodann als „Bid’a“. Indem sie Takfir praktizieren, also andere Muslime zu „Ungläubigen“ erklären, neigen diese Muslime nicht nur zur Negierung anderer Muslime, sondern einige von ihnen auch zu kriminellen Taten, die aber purer Terrorismus und kein Dschihad sind. Sie vergessen, dass es im Islam den Amir Al-Muminun braucht, der überhaupt in der Lage ist, einen Dschihad verbindlich zu erklären. Wenn er dies tut, dann nur, um die Umma gegen Fitna zu beschützen. Die Teilnehmer des Symposiums in Casablanca sind zu dem Ergebnis gekommen, dass jeder Aufruf zur Gewalt, um eine terroristische Vision - die dem Islam fremd ist - umzusetzen, zu bekämpfen und zu verurteilen sei. Die Anwesenden betonten damit, dass der Islam nicht als Vorwand genommen werden dürfe, diese barbarischen Taten gegen Unschuldige zu legitimieren. Einer der wichtigen Unterschiede zwischen dem Denken der Tradition und dem Denken der Moderne ist dabei, dass die Entscheidungsfindung in der Tradition eine gemeinschaftliche Aktion ist; in der Moderne hingegen steht das Individuum und seine individuelle Überzeugung im Mittelpunkt. Terroristen sind heute „Einzelgänger“, die in den muslimischen Gemeinschaften gerade keine Heimat haben.

 

Nach Ansicht des sehr angesehen Gelehrten Schaikh Dr. Mustapha Benhamza versuchen die Terroristen, eine religiöse Legitimation ihres Projekts zu finden. Im Mittelpunkt ihrer Überzeugung steht die Verachtung gegenüber dem vermeintlichen Fehlgehen der muslimischen Massen. Die Legitimationsversuche basieren daher auf drei Säulen und gehen praktisch immer mit der Macht der „Exkommunikation“, dem Takfir, von Muslimen einher. Dieser Takfir werde vorgenommen, da eines der Elemente des Islam - Glauben, Sprechen, Handeln - negiert worden sei, auf der Grundlage der Annahme schwerwiegender falscher Taten (Kaba’ir) oder auf der Grundlage, dass man im Machtgebiet eines Landes lebt, welches keine islamischen Gesetze hat. Dies entspricht den Ansichten der kharidschitischen Sekte, die zu Beginn der islamischen Geschichte erschien. Sie weigerte sich, an den Grundlagen festzuhalten, wie sie von den Ahl As-Sunna wa’l-Dschama’a (Nachfolger der prophetischen Tradition und der Gemeinschaft) festgelegt worden sind. Diese machen aber die allergrößte Mehrheit der Muslime aus. Auf diese Art und Weise haben sie den Ausbruch einer Kultur von Extremismus und Gewalt ermöglicht. M. Ezzoubeir Dahan betont, dass einige radikale Gruppen unter den Muslimen eine idealistische Vision von der Funktion des Khalifen beziehungsweise der islamischen Regierung aufgebaut haben, so als ob der Khalif ein unfehlbarer Regierender wäre und kein Mensch, der Zweifel darüber haben könnte, ob er im Recht ist oder sich irrt. Das freiwillige Ignorieren oder die faktische Unwissenheit der prophetischen Überlieferungen und ihr falsches Verständnis haben bewirkt, dass radikale Ideologien entstanden, die praktisch alle Regierenden angreifen. Die Ideologen haben einige Qur’anverse übernommen, aber die betreffenden Hadithe vollkommen ignoriert. Diese Hadithe sehen vor, dass der Herrscher im Islam nicht etwa idealisiert wird, sondern realistisch einzuschätzen ist. Die prophetische Vision entspricht nicht dem radikalen Denken und dessen Einbildung über einen Regierenden - insbesondere über einen „orthodoxen Khalifen“. weitere Beiträge

Islam und moderne Politik

Die politischen Folgen des Terrorismus sind für die islamische Gemeinschaft, aber auch für Nicht-Muslime verheerend - Von Abu Bakr Rieger, Berlin

 

 

 

Durch die Leugnung der Möglichkeit menschlicher Herrschaft ziehen - so Dr. Hasan Al-Alami - die Khawaridsch (Kharidschiten) jene Individuen, die regieren, durch ein vollkommen illusionäres politisches Projekt an. Dies führt fälschlicherweise dazu, dass der Umma und dem Volk das Recht zur Regierung und zur persönlichen Herrschaft und damit zum Idschtihad vorenthalten wird. Hier wird auch eine tiefe Arroganz zum Programm. Die extremistischen Gruppen reklamieren für sich das Recht, anstelle der Umma und ihrer ‘Ulama als einzige die islamischen Regeln zu verstehen und zu deuten. Ihr falsches Verständnis dieser Gesetzlichkeit kommt aus ihrem Extremismus und ihrem Fanatismus, bei dem sie bis zur Tötung jener gehen, die ihnen widersprechen. Die heutigen Extremisten stehen demnach, so zumindest Al-Alami, in der Nachfolge der Khawaridsch und haben das Tor der Unwissenheit, des Streits, der Ungerechtigkeit und der Gewalt geöffnet. Sie glauben, dass diese Religion nur durch Terror und Gewalt gewinnen könne und denken insoweit „typisch modern“, als dass sie mit brutalen Methoden eine Welt ohne Feinde anstreben.

 

Bezeichnend ist bei diesem Phänomen auch die verbreitete Ablehnung der Rechtsschulen und der Praxis, einer der vier rechtlich-religiösen Schulen zu folgen. Nach dem Fazit von Dr. Idriss Khalifa gehören die meisten Extremisten keiner der bekannten Schulen an und verfertigen somit ihre eigenen rechtlichen Urteile. Und so fangen sie an, nur an sich selber und ihre eigenen Einschätzungen zu glauben, die manchmal aber einfach nur private Meinungen sind, weil diese mit den ‘Ulama nichts zu tun haben. Laut Redouane Benchakroune ist die grundlegende qur’anische und prophetische Anweisung nicht Aufgabe von isolierten Kleingruppen, sondern des Staates und seiner Institutionen. In seinem Beitrag „Salafismus“ werden diese Argumente von Dr. Mohammed Boutarbouche weitergeführt. Obwohl viele Extremisten für sich selbst in Anspruch nehmen, dem Vorbild der frühen Muslime (As-Salaf) zu folgen, lehnen sie die großen Imame der frühen Zeit - Imam Malik, Imam Asch-Schafi’i, Imam Abu Hanifa, Imam Ahmad ibn Hanbal, Imam Bukhari und Imam Al-Asch’ari - de facto ab. Denn diese genannten waren zwar auch „Salaf“, standen aber für einen kompromisslosen Weg der Mitte und Ausgeglichenheit. Sie erschufen so eine Umma der Mitte - ohne Extremismus und Entfernung vom Din. Diese Umma war rein von Mythen und Aberglaube und internen Feinden, die sich über die Dogmen im Islam stritten. Mit anderen Worten: Der klassische Weg schützt vor Extremismus, vor dem Abdriften der Muslime in Ideologie oder Esoterik, ist aber gleichzeitig als Rücklauf zur ersten Gemeinschaft den Quellen des Islam nah.

 

Das es hier nicht um eine akademische Debatte geht, sondern praktisch alle Muslime vom „privaten Terror“ betroffen sind, zeigt Lyazid Arradi. Auch er sieht im Dschihad ausdrücklich ein Vorrecht des Amir Al-Muminun. Im klassischen Dschihad und seinen einschränkenden Rechtsregeln geht es um den Schutz der Religion und schlussendlich darum, das Leben, die Würde und das Eigentum zu schützen. Die Terroristen erklären aber einen „totalen“ und „unbeschränkten“ Krieg, ohne dass ein Feind sie bedroht hat. Im Dschihad, der durch das Göttliche Gesetz bestimmt wurde, so Arradi, muss es eine legitime Verteidigung geben. Dabei ist es verboten, Kinder, Frauen und Mönchen, die ihre Religion praktizieren, zu töten. Der moderne Terrorismus negiert aber diese Verbote. Die Folgen dieser Strategie bezahlen die Muslime in aller Welt: Der Terror sät neuen Hass, nährt das Auseinanderbrechen der Menschen und ermutigt den Rassismus.

 

Die vollständigen Dokumente, aus denen zitiert wird, finden sich auf der Webseite des marokkanischen Auqaf-Minsteriums: www.habous.gov.ma

 

weitere Quellen zum Nachlesen :

 

 

Erol Capan:Aus isl. Perspektive :Terror und Selbstmord ,

Al Akiti :Verbot von Tötung von Zivilisten ,

Abu Jafar al Tahawi ra : Aqida al Tahawiyya ,

Fethullah Gülen : Sufismus ,

Fethullah Gülen : Grundlagen des isl. Glaubens ,

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