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Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig

 

09. Februar 2010 Die bisherige Berechnung der Hartz-IV-Sätze verstößt gegen das Grundgesetz. In einem Grundsatzurteil verlangte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag eine gesetzliche Neuregelung bis zum 1. Januar nächsten Jahres. Die Karlsruher Richter ließen in ihrer Entscheidung aber ausdrücklich offen, ob das Arbeitslosengeld II erhöht werden muss oder nicht. Die Richter kamen zu dem Schluss, dass nicht nur die Berechnungsmethode der Hartz-IV-Sätze für Kinder, sondern auch die der Erwachsenen gegen das Grundgesetz verstößt.

 

Nach dem von Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier verkündeten Urteil erfüllen sie nicht den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Zudem verstoßen sie gegen das in der Verfassung garantierte Sozialstaatsprinzip. Die Berechnung sei nicht transparent genug. Die Richter gaben dem Gesetzgeber auf, die Vorschriften neu zu fassen. Der Entscheidung zufolge bleiben die bisherigen gesetzlichen Vorschriften aber noch bis zum Jahresende in Kraft. Der Gesetzgeber hat also mehrere Monate Zeit, eine neue Berechnungsmethode zu suchen, die dann zum Jahresanfang 2011 in Kraft treten muss.

 

Der Erste Senat ordnete jedoch an, dass Hartz-IV-Empfänger ab sofort in Ausnahmefällen Zusatzleistungen erhalten müssen. Das gilt etwa bei Krankheiten, für die Kranken- und Sozialkassen keine Kosten übernehmen. Sozialverbände, Kinderschutzbund und Gewerkschaften begrüßten das Urteil.

Richter schlagen kein konkretes Verfahren zur Berechnung vor

 

Ein konkretes Verfahren zur Neuberechnung der Regelsätze schlug das oberste Gericht nicht vor. Die Höhe der Leistungen sei aus dem Grundgesetz nicht direkt abzuleiten, sagte Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier in der mündlichen Urteilsbegründung. Sie seien gegenwärtig auch weder für Kinder noch für Erwachsene „offensichtlich unzureichend“. Die gegenwärtigen Sätze seien aber „nicht in verfassungsmäßiger Weise ermittelt worden“. So seien bei Erwachsenen von dem ermittelten Bedarf unzulässige Abschläge gemacht worden. Die Leistungen für Kinder seien nicht eigenständig ermittelt, sondern pauschal vom Bedarf Erwachsener abgeleitet worden, rügte das Bundesverfassungsgericht weiter. Der Gesetzgeber müsse sie daher „in einem transparenten und sachgerechten Verfahren“ neu berechnen. Schätzungen „ins Blaue hinein“ seien verfassungswidrig, sagte Papier.

 

Das Bundesverfassungsgericht sah sich nicht dazubefugt, selbst bestimmte Sätze festzusetzen und begründete dies mit dem „Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers. Die Achtung der Würde jedes Einzelnen verlange aber neben der „physischen Existenz“ auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat über die Klagen von drei Familien aus Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen entschieden. Diese haben das Bundessozialgericht in Kassel und das hessische Sozialgericht in Karlsruhe vorgelegt. Sie hielten die aktuellen Regelsätze für Kinder für verfassungswidrig, weil sie lediglich durch einen pauschalen Abschlag auf die Hartz-IV-Beträge für Erwachsene festgelegt wurden.

 

Unter anderem argumentieren sie, dass die Leistungen das Existenzminimum nicht abdeckten. Derzeit stehen Mädchen und Jungen unter sechs Jahren 215 Euro zu, im Alter bis zu 13 Jahren gibt es 251 Euro. Jugendliche erhalten bis zur Volljährigkeit 287 Euro. Insgesamt leben 6,7 Millionen Menschen in Deutschland von Hartz IV.

Für ein menschenwürdiges Leben

 

Laut Gesetz soll die Regelleistung es den Bedürftigen ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Der nötige Bedarf wurde früher mit einem Warenkorb ermittelt, der eine unterstellte Menge an täglich benötigten Gütern und Dienstleistungen enthielt. Als sich die Fachpolitiker nicht mehr über die Zusammenstellung einigen konnten, stieg man auf das Statistikmodell um. Grundlage ist seitdem der tatsächliche Verbrauch in der Bevölkerung, genauer gesagt, des einkommensschwächsten Fünftels - ohne Sozialhilfeempfänger. Die Daten liefert das Statistische Bundesamt mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), eine Umfrage unter 60.000 Haushalten, die alle fünf Jahre stattfindet. Der Konsum dieser Gruppe wird in verschiedene Kategorien wie Nahrungsmittel, Freizeit, Bekleidung oder Verkehr unterteilt. Die Verbrauchswerte werden dann für den Regelsatz zu einem bestimmten Prozentsatz übernommen (Rasche Anhebung der Hartz-Sätze nicht in Sicht).

 

Sozialverbände und Betroffene hatten große Hoffnungen auf die Karlsruher Richter gesetzt. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte vor der Urteilsverkündung, Deutschland sei das einzige Land der Welt, das Kinder aus reichen Familien stärker fördere als Kinder aus armen Familien. Er sprach sich für eine allgemeine Grundsicherung für alle Kinder aus. Der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, forderte, ein bedarfsorientierter Satz für Kinder müsse um 25 bis 30 Prozent höher ausfallen als bisher.

 

Aus der Wirtschaft kam dagegen die Forderung, die Hartz-IV-Regelsätze abzusenken. „In vielen Branchen stellen sich Bezieher von Transferleistungen deutlich besser als regulär Beschäftigte. Arbeit lohnt sich nicht mehr“, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Mittelständischen Wirtschaft (BVMW), Mario Ohoven. „Deshalb sollten die Regelsätze tendenziell gesenkt, gleichzeitig aber die Zuverdienstgrenzen angehoben werden.“

Text: FAZ.NET

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Urteil zu Hartz IV

Innenminister rüffelt Richter

 

10.02.2010 - Innenminister de Maizière erkennt "problematische Tendenzen", die Unions-Arbeitnehmer verlangen eine Kürzung des Hartz-IV-Regelsatzes.

 

Nach anfänglicher Zustimmung hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Berechnung der Hartz-IV-Sätze nun auch Kritik in der Politik ausgelöst. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) kritisierte die Karlsruher Entscheidung. "Das Urteil zeigt eine problematische Tendenz hin zu einer übertriebenen Einzelfallbetrachtung statt zu einer vernünftigen Pauschalierung", sagte de Maizière der Bild-Zeitung.

Die Karlsruher Richter hatten die bisherige Berechnungsmethode am Dienstag für verfassungswidrig erklärt und die Bundesregierung zur Neuregelung bis Ende des Jahres aufgefordert. Die Höhe der Regelsätze wurden nicht beanstandet. Jedoch sei die Kalkulation intransparent und orientiere sich zu wenig an der Realität, so die Richter.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen* verteidigte die Hartz-Reform. Die Ziele seien im Grunde richtig gewesen, sagte sie im Deutschlandradio Kultur. Allerdings sei vieles "hastig, schlampig und im Detail nicht sehr fair und gerecht gemacht" worden. Das werde die Regierung nun korrigieren. "Der Zeitdruck ist exorbitant hoch", sagte die Ministerin mit Blick auf die von Karlsruhe gesetzte Frist bis zum Jahresende. Von der Leyen sprach sich erneut dafür aus, zur Deckung der Bildungsausgaben für Kinder aus Hartz-IV-Familien nicht nur über mehr Geld, sondern auch Sach- und Dienstleistungen nachzudenken.

In der Union wird nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes der Ruf nach einer Kürzung des Hartz-IV-Regelsatzes laut. "Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind", sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe in der Unions-Bundestagsfraktion, Peter Weiß (CDU), der Frankfurter Rundschau. "Eine Reform sollte aus meiner Sicht zu niedrigeren Regelsätzen führen."

 

Mit dem Urteil verlange das Verfassungsgericht, den konkreten Einzelfallbedarf etwa für Kühlschränke oder Wintermäntel wieder stärker zu berücksichtigen, so Weiß weiter. Dieser werde derzeit durch einen pauschalierten Aufschlag im Hartz-IV-Regelsatz berücksichtigt. Das müsse nun korrigiert werden. Unterm Strich dürften die Ausgaben für den Staat in etwa gleich bleiben.

 

Die FDP nutzte das Urteil, um ihre alte Forderung zu erneuern, alle staatlichen Leistungen in einem Bürgergeld zusammenzufassen. Das Karlsruher Hartz-IV-Urteil sei ein guter Anlass, "um über die Reform des Sozialtransfersystems als Ganzes zu sprechen", sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Andreas Pinkwart der Passauer Neuen Presse. "Eilige Reparaturen helfen uns nicht weiter." Durch ein Bürgergeld würden "die vielen verschiedenen Sozialleistungen, die wir heute haben, viel unbürokratischer, transparenter und leistungsgerechter".

 

Auch FDP-Generalsekretär Christian Lindner warnte davor, die Hartz-IV-Regelsätze zu erhöhen. "Es ist völlig richtig, dass der Staat bei den Kindern ansetzt, aber bitte nicht in Form von Barzuwendungen für die Eltern", sagte er dem Fernsehsender n-tv. "Ich möchte nicht, dass wir über ein neues System Anreize schaffen, dass man übers Kinderkriegen Geld verdienen kann. Sonst gehen wir als Gesellschaft vor die Hunde."

Der Deutsche Gewerkschaftsbund will das Urteil als Startschuss für eine Neuausrichtung der Sozialpolitik nutzen und fordert eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze.

 

Es habe in den vergangenen Jahren "massive Fehlentwicklungen gegeben", sagte DGB-Chef Michael Sommer dem Bonner General-Anzeiger. "Ich sehe in unserer Gesellschaft eine bedenkliche Entwicklung in oben und unten, in Menschen mit sozialer Teilhabe und solche, die für sich und ihre Kinder keine Chancen sehen. Die soziale Balance in unserem Land ist in Gefahr und die Bundesregierung wäre gut beraten, die Kluft in unserem Land nicht größer werden zu lassen."

 

Sommer verlangte außerdem, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Ähnlich äußerte sich der designierte Vorsitzende der Linken, Klaus Ernst. Wenn die Menschenwürde Maßstab für die Höhe der Hartz-IV-Leistungen sei, dann müsse dasselbe auch für die Löhne von Arbeitnehmern gelten.

(sueddeutsche.de/dpa/AP/juwe/woja)

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* ehemalige Familienministerin von 2005 bis 2009, die dafür plädierte, dass man ein Haushalt mit vielen, vielen, vielen (deutschen) Kindern braucht und dass das doch ginge! Sie selber habe doch 7! (die Hausangestellten nicht dazu gerechnet, eine 9-köpfige Familie - friede-freude-eierkuchen...!)

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ein Auszug aus einem Interview mit Seehofer (CSU)

 

 

Seehofer nennt Hartz IV ''absoluten Murks''

11.02.2010

Interview: K. Stroh

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verlangt CSU-Chef Horst Seehofer eine Revision der Sozialgesetze. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung erklärt der CSU-Chef, warum die bisherige Hartz-IV-Regelung dem Grundgedanken eines Sozialstaats widerspricht.

 

SZ:

    Freut sich der Sozialpolitiker Horst Seehofer über das Urteil?

Horst Seehofer:

    Es unterstreicht, was ich seit Jahren sage: Die Hartz-Gesetze waren Ausdruck des gescheiterten Denkens, alles zu liberalisieren und marktradikal zu gestalten. Dieses Denken hat im Übrigen 2003 auch zur Idee der Kopfpauschale geführt. Deshalb bin ich damals als Fraktionsvize zurückgetreten. Die Hauptkritik der Richter ist doch, dass man alles pauschaliert und sich rein an Finanzfragen ausgerichtet hat, statt Maßstäbe zu entwickeln, die zu gerechten Einzelfallergebnissen führen. Deshalb hat in der Bevölkerung, bis weit ins bürgerliche Lager hinein, kein Gesetz eine geringere Akzeptanz als Hartz IV. Wir brauchen nachvollziehbare Maßstäbe bei der Sozialgesetzgebung und keinen Fiskalismus.

 

[...]

SZ:

    Was muss sich denn jetzt ändern?

 

Seehofer:

    Wir müssen neue Maßstäbe für die Bedarfsermittlung entwickeln und dürfen da nicht nur nach Kassenlage entscheiden. Aber wir müssen Hartz IV auch generell einer Revision unterziehen. So brauchen wir zum Beispiel wieder die Möglichkeit, einmalige Beihilfen zu zahlen. Es kann doch nicht sein, dass eine Familie eine neue Waschmaschine, wenn die alte kaputt ist, aus den Regelsätzen finanzieren muss. Es geht nicht, dass für solche Situationen gesammelt werden muss oder die Sozialverbände helfen. Das ist eines Sozialstaats* unwürdig.

 

[...]

 

SZ:

    Und das wollen Sie im Ernst alles bis Ende des Jahres schaffen, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert?

Seehofer:

    Wenn man will, kann man es schaffen. Diese Dinge werden schließlich seit Jahren diskutiert, da fangen wir nicht bei null an. In jedem Fall brauchen wir jetzt endlich eine professionelle Sozialgesetzgebung.

(SZ vom 11.02.2010/odg)

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* zum Sozialstaat: Helmut Kohl sprach mal von der sog. "soz. Hängematte" - in so mancher seine Nische findet und sich einnistet - diese Hängematte hat inzwischen ein Loch; von Motten zerfressen...?

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