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Ein alles andere als wissenschaftliche Kreuzzug

- Kerem Kaan -

 

In jüngster Zeit erfreuen sich anti-religiöse Wissenschaftler zunehmender Popularität. Ihre Stimmen sind immer lauter zu vernehmen, und Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins1 und Neurowissenschaftsforscher wie Samuel Harris2 sonnen sich inzwischen in einem Ruhm, von dem ihre Vorgänger nur träumen konnten. Das verdanken sie zum Großteil ihrem unnachgiebigen Kreuzzug gegen die Religionen. An der Aufdringlichkeit und Grobschlächtigkeit dieses Kreuzzugs stören sich viele Menschen, auch manche Atheisten. Noch problematischer aber erscheint mir, dass die Methoden, mit denen diese Wissenschaftler die Religionen zu erfassen und kritisieren versuchen, kaum wissenschaftlichen Anforderungen genügen. Harris selbst unterscheidet zwischen wissenschaftlichem und religiösem Denken: „So zu tun, als wisse man Dinge, die man in Wirklichkeit nicht weiß, ist in der Wissenschaft eine schwere Bürde. In der auf dem Glauben basierenden Religion jedoch ist es die Conditio sine qua non [eine absolute Notwendigkeit].“3 Ironischerweise stützt sich aber ausgerechnet dieser neue Kreuzzug gegen die auf dem Glauben basierenden Religionen erheblich stärker auf ‚Glauben‘ als auf Tatsachen oder logische Schlussfolgerungen. Denn diese Wissenschaftler tun so, als würden sie die Religion und die Gläubigen genau kennen, was absolut nicht stimmt. Und so lassen sich die ‚Kreuzritter der Wissenschaft‘ von eben jenem dogmatischen Denken verführen, dem sie doch selbst den Krieg erklärt haben.

 

Macht man sich die Mühe, die Vorgehensweise der anti-religiösen Wissenschaftler im Detail zu studieren, so kristallisieren sich mindestens vier problematische Punkte in ihrem Umgang mit der Religion heraus: Literalismus, Verstöße gegen die Empirik, Analyse ohne Belege und unfairer Umgang mit der Religion.

 

Punkt 1: Literalismus

 

Der erste problematische Punkt in der Argumentation der Kreuzritter der Wissenschaft besteht darin, dass ihr Religionsverständnis auf der primitivsten Methode beruht, sich einem Text zu nähern: nämlich auf dem Literalismus. Das heißt, dass sie alles, was sie in den Heiligen Schriften lesen, wortwörtlich nehmen. Jede ernsthafte und ‚wissenschaftliche‘ Analyse eines Textes muss bestimmte Fragen stellen, wie zum Beispiel: Wer ist der Autor dieses Textes? An wen richtet sich der Text? In welchem Kontext wurde er verfasst? Zu welchem Zweck wurde er geschrieben? Doch wenn die oben genannten Wissenschaftler religiöse Texte ‚analysieren‘, gehen sie ganz anders vor: Harris etwa reißt bestimmte Verse aus dem Koran, die sich mit dem Thema Töten von Nichtmuslimen befassen, aus dem Zusammenhang und schert sich nicht weiter darum, in welchem Kontext sie offenbart wurden. Auch die umfangreiche islamische Literatur zur Exegese dieser Verse interessiert ihn scheinbar nicht. Ganz bewusst verschließt er die Augen vor allen Entwicklungen in der Hermeneutik. Stattdessen geht es ihm einzig und allein darum, die entsprechenden Textpassagen in sein vorgefertigtes Schema zu pressen. Der berühmte deutsche Philosoph Hans Georg Gadamer (1900-2002) würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er erführe, dass die Wissenschaft so bald nach seinem Tod so tief gesunken ist Denn sein großes Anliegen war die denkende und einfühlende Erschließung von Texten aus einer philosophischen und dichterischen Tradition heraus.

 

Harris dürfte kaum daran gelegen sein herauszufinden, wie muslimische Gelehrte über das Töten unschuldiger Menschen gedacht haben. Andererseits muss er sich einfach der Tatsache bewusst sein, dass die Standpunkte und Denkweisen der muslimischen Völker nicht durch die Interpretationen einzelner Individuen geprägt wurden, sondern zum überwiegenden Teil durch die Interpretationen der Gelehrten. Und im traditionellen Islam hat es vor Ende des 20. Jahrhunderts keinen einzigen Präzedenzfall für Selbstmordattentate gegeben, im Gegenteil: 14 Jahrhunderte lang haben muslimische Gelehrte übereinstimmend darauf verwiesen, dass das menschliche Leben unantastbar ist. Denn der Koran erklärt unmissverständlich, dass jemand, der einen unschuldigen Menschen ungerechtfertigt tötet, bewertet wird, als hätte er die ganze Menschheit getötet.4 Die entscheidende Frage lautet also: Wenn irgendetwas (in diesem Fall: der Terrorismus) doch angeblich zum Wesen einer Religion (in diesem Fall: der Islam) gehört, wie kann es dann sein, dass die Religion dieses ‚etwas‘ 14 Jahrhunderte lang verurteilt hat und es nun plötzlich von ihren Anhängern verlangt? Leider scheinen sich die Kreuzritter der Wissenschaft mit diesem Widerspruch nicht weiter auseinanderzusetzen.

 

Punkt 2: Verstöße gegen die Empirik

 

Der zweite problematische Punkt in der Argumentation der Kreuzritter der Wissenschaft liegt in der Tatsache, dass ihr Verständnis vom Einfluss der Religion auf die Gesellschaft fast ausschließlich auf ihren eigenen Eindrücken basiert. Es mangelt ihm an glaubwürdiger wissenschaftlicher Analyse und Einsicht. Harris‘ Behauptung, muslimische Jugendliche seien grundsätzlich gewalttätig, und Dawkins‘ Behauptung, Frauen würden in islamischen Gesellschaften generell unterdrückt, sind nichts anderes als rein persönliche Einschätzungen. Andere Faktoren, die sich auf Jugendgewalt und Geschlechterdiskriminierung auswirken können, fließen in ihre Betrachtungen nicht mit ein. Dass die muslimischen Jugendlichen in Europa im Vergleich zur übrigen Bevölkerung unverhältnismäßig arm und ungebildet sind, übersieht Harris offensichtlich aus Bequemlichkeit. Dabei weiß doch jeder, der auch sich nur ein wenig mit den quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung auskennt, dass der Einfluss eines beliebigen Faktors auf eine abhängige Variable nicht korrekt bestimmt werden kann, wenn man die anderen Faktoren unbeachtet lässt. Die Statistik verrät uns, dass Analysen dieser Art zwangsläufig tendenziöse Resultate erbringen müssen. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, als Harris und Dawkins uns weismachen möchten. So liegt zum Beispiel eine Studie vor, die belegt, dass eine stärkere Betonung der religiösen Erziehung die Zahl der Muslime in europäischen Gefängnissen sinken lässt.5 Demzufolge ist die Religion ein friedfertiges Element. Wenn aber ein Muslim, der sich verstärkt seiner Religion zuwendet, nicht so schnell gewalttätig wird, dann darf man wohl davon ausgehen, dass die wahren Ursachen von Gewalt unter jenen Faktoren zu suchen sind, die Harris so fahrlässig vernachlässigt.

 

Dawkins behauptet ganz pauschal, die Frauen in islamischen Gesellschaften würden gnadenlos unterdrückt. Doch leider macht er den gleichen methodischen Fehler wie Harris. Auch er klammert zahlreiche Faktoren aus seiner Analyse aus, die ihm wichtige Informationen liefern und seine Argumentation stützen (oder widerlegen) könnten. Deshalb ist auch seine Studie wenig aussagekräftig. Ob es der Islam ist oder irgendetwas anderes (z.B. Traditionen, Armut, Erziehung), das muslimische Gesellschaften im Hinblick auf die Unterdrückung der Frau von den christlich westlichen Gesellschaften unterscheidet, wird nicht aus ihr ersichtlich.

 

Glücklicherweise aber verfügen wir über andere Quellen, die uns tiefere Einblicke in dieses Thema gewähren. Ein Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF aus dem Jahr 2000 kommt zu dem Ergebnis, dass sich christliche und muslimische Gesellschaften in Punkto häuslicher Gewalt kaum voneinander unterscheiden. Die Tabelle unten verdeutlicht dies. Den Ergebnissen dieser Studie zufolge sind in christlich westlichen Gesellschaften (Kanada, Neuseeland, Großbritannien, USA) im Durchschnitt 25,5% aller Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt. In muslimischen Gesellschaften (Ägypten, Araber in Israel, Tadschikistan) sind es 30% und in afrikanisch christlichen Gesellschaften (Kenia, Uganda, Simbabwe) 38.3%. Der Anteil häuslicher Gewalt in muslimischen Gesellschaften liegt damit weder grundsätzlich höher als in christlichen Gesellschaften noch grundsätzlich tiefer. Diese Zahlen widerlegen also eindeutig Dawkins‘ pseudowissenschaftliche These und beweisen stattdessen, dass der Islam nicht für häusliche Gewalt in muslimischen Gesellschaften verantwortlich gemacht werden kann. Die Schuld daran ist vielmehr bei einem jener Faktoren zu suchen, die die afrikanischen Christen von den westlichen Christen unterscheiden.

 

 

 

Nun könnte Dawkins vielleicht einwenden: „Diese Zahlen widerlegen meine These nicht in jeder Hinsicht, sondern nur in dem Punkt, dass der Islam häusliche Gewalt eher begünstigt als das Christentum. Die These, dass beide Religionen häusliche Gewalt fördern, bleibt aber gültig und richtig.“ Doch stimmt das wirklich? Wenn man Dawkins‘ Argumenten folgt, dann müsste man doch eigentlich auch davon ausgehen, dass die häusliche Gewalt zunimmt, je religiöser sich ein verheirateter muslimischer oder christlicher Mann zuhause gebiert. Ob diese Behauptung den Tatsachen entspricht, lässt sich relativ leicht herausfinden: nämlich indem man zunächst einmal eine nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Gruppe verheirateter muslimischer und christlicher Frauen darum bittet, die Religiosität ihrer Ehemänner auf einer Skala von 0-10 zu bewerten; und indem man sie anschließend danach fragt, wie oft ihre Ehemänner zuhause gewalttätig werden. Zwar liegt eine solche Studie für Muslime nicht vor, wohl aber - zu unserer eigenen Überraschung (und zu Dawkins‘ Schande) - für Christen. Eine Studie unter fast 1.000 neuseeländischen Familien kam zu dem Ergebnis, dass die von den Teilnehmern geschilderte Religiosität der Eltern (sowohl von Vätern als auch von Müttern) in umgekehrtproportionalem Verhältniszurgeschilderten häuslichen Gewalt stand. Der Studie zufolge greifen Männer und Frauen, die einmal im Monat oder öfter einen Gottesdienst besuchen, am seltensten zu häuslicher Gewalt, gefolgt von jenen, die seltener als einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen. Bei Männern und Frauen hingegen, die nie einen Gottesdienst besuchen, liegt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie zuhause gewalttätig werden, wesentlich höher.6 Die Ergebnisse dieser Studie werden von einer weiteren Studie gestützt, die amerikanische Paare untersuchte und einen objektiveren Maßstab zur Bewertung der Religiosität wählte.7 (Obwohl der Beweis noch zu erbringen ist, dürfte diese Verknüpfung zwischen Religiosität und häuslicher Gewalt ebenso auch auf muslimische Männer zu übertragen sein. Immerhin sagte der Prophet Muhammad einmal: Der Beste von euch ist der, der seine Ehefrau am besten behandelt.8 Und so stellt sich auch hier - entgegen der von Dawkins und Harris geäußerten Behauptung - heraus, dass die Religion nicht Gewalt sät, sondern Frieden stiftet.

 

Punkt 3: Analyse ohne Belege

 

Einen dritten groben Fehler begehen die Kreuzritter der Wissenschaft dadurch, dass sie die Literatur zu den Hauptursachen für Konflikt und Gewalt völlig ignorieren. Keine der seriösen Theorien zu nationalen und internationalen Konflikten bezeichnet die Religion als einen zentralen Faktor von Gewalt, geschweige denn als die Ursache schlechthin. Der Realismus erklärt Gewaltausbrüche mit der Machtgier der Menschen. Der Liberalismus macht die Unvermeidbarkeit von Interessenkonflikten und das Unvermögen der Menschen, sie auf kooperative Weise zu lösen, dafür verantwortlich, und der Marxismus beharrt darauf, dass Klassenkonflikte ausschlaggebend sind.

 

Die Verfechter dieser Theorien halten das Argument, dass wir Gewalt eindämmen oder sogar ganz aus der Welt schaffen können, indem wir religiöse Überzeugungen durch wissenschaftliche Forschung ersetzen, für geradezu lächerlich. Denn für sie ist die Religion höchstens ein zweitrangiger Faktor, dessen Eliminierung sich kaum auf die Ausbreitung von Gewalt auswirken wird. Insofern ist es irreführend und unverhältnismäßig, wenn die Kreuzritter der Wissenschaft die Religion als Hauptursache von Gewalt anführen. Denn es lenkt unsere Aufmerksamkeit von anderen wesentlich wirkungsvolleren Faktoren ab. In dieser Hinsicht ähneln anti-religiöse Argumente von Harris, Dawkins und dergleichen dem Wunschdenken der Positivisten des 19. Jahrhunderts.

 

Das Ignorieren der wahren Ursachen von Gewalt macht die Welt nicht friedlicher, und es dient auch nicht dem Ziel dieser Wissenschaftler, die Menschen zum ‚Szientismus‘ zu bekehren. Die neuerliche Blüte des religiösen Glaubens seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt ja ganz deutlich, dass Wissenschaft und Vernunft allein weder zufriedenstellende Antworten auf die drängenden metaphysischen Fragen der Menschen zu bieten haben noch Lösungen für moralische Probleme. Daher die Rückkehr zur Religion!

 

Punkt 4: Unfairer Umgang mit der Religion

 

Schon in der Grundschule wurde uns beigebracht, dass wir nie ein Urteil fällen sollten, bevor wir nicht pro und contra sorgfältig gegeneinander abgewogen haben. Was uns allerdings in den Büchern von Dawkins und Harris begegnet, sind ausschließlich fragwürdige negative Aspekte von Religionen und religiösen Menschen. Die Tugenden der Religionen und ihre positiven Einflüsse auf ihre Anhänger finden keinerlei Wertschätzung. Obwohl er ein Bewunderer Darwin’s ist, findet es Dawkins offenbar unnötig zu fragen, was die muslimischen Mauren in Spanien einst davon abhielt, der Regel vom Überleben des Stärkeren zu gehorchen und die Juden und Christen der Iberischen Halbinsel einfach auszulöschen? Und wie wissenschaftlich ist es denn, Studien zu ignorieren, in denen herausgefunden wurde,

 

dass bei Jugendlichen aus intakten Familien, die oft an Gottesdiensten teilnehmen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie Ladendiebstähle begehen, am geringsten liegt;9

dass Heranwachsende umso seltener straffällig werden, je religiöser sie sind;10

dass eine stärkere individuelle Religiosität die Akzeptanz von Steuerbetrug senkt;11 und

dass ein regelmäßiger Gottesdienstbesuch die Anwendung häuslicher Gewalt eindämmt?12

 

 

All dies sind nur wenige Fakten von vielen. Doch in den Büchern der Kreuzritter der Wissenschaft ist kein Platz für solche segensreichen Resultate des Glaubens an Gott. Dabei heißt es doch so oft, dass nur religiöse Menschen Dogmen haben!

 

Fazit

 

Den Argumenten bestimmter Wissenschaftler gegen die Religionen im Allgemeinen und den Islam im Besonderen fehlt jede wissenschaftliche Grundlage. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und vor allem auch der Gelehrten sollte sich also besser wieder wichtigeren Themen zuwenden. Es mag ja durchaus gute Gründe geben, um Religionen und ihre Anhänger zu kritisieren. Aber: Einschätzungen, die in der Öffentlichkeit als letztgültige Wahrheit propagiert werden, müssen ergiebiger und wissenschaftlicher sein als die hier zitierten. Außerdem sollten sie weniger reißerisch vorgetragen werden als von Wissenschaftlern wie Harris und Dawkins. Wenn diese Leute unbedingt einen Kreuzzug gegen Dogmen führen wollen, dann sollten sie diesen am besten bei sich selbst beginnen.

 

Fußnoten

 

1. Autor des Buches Der Gotteswahn, 2007

2. Autor des Buches Das Endes des Glaubens, 2007

3. http://www.edge.org/discourse/bb.html#harris

4. Der Koran, 5:32

5. http://www.edge.org/discourse/bb.html#atran

6. Ferguson, David M., L. John Horwood, Kathryn L. Kershaw & Frederick T. Shannon; “Factors Associated with Reports of Wife Assault in New Zealand”, in: Journal of Marriage and the Family, 46: 663-70; 1986

7. Ellison, Christopher G. & Kristin L. Anderson; “Religious Involvement and Domestic Violence among U.S. Couples”, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 40(2):269-86; 2001

8. Ibn Madscha, Nikah, Hadith 50

9. Fagan, Patrick; A Portrait of Family and Religion in America: Key Outcomes for the Common Good; Washington, D.C. 2006

10. Regnerus, Mark D.; “Linked Lives, Faith and Behavior: Intergenerational Religious Influence on Adolescent Delinquency; in: Journal for the Scientific Study of Religion, 42(2): 189-203; 2003

11. Steven Stack and Augustine Kposowa; “The Effect of Religiosity on Tax Fraud Acceptability: A Cross-National Analysis; in: Journal for the Scientific Study of Religion, 45(3):325-51; 2006

12. Siehe Endnote 7.

 

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