Webmaster Geschrieben 11. Juni 2007 Teilen Geschrieben 11. Juni 2007 Militarisierung im Inneren: „Wichtige Lehren aus der deutschen Geschichte werden entsorgt“ Interview mit ROLF GÖSSNER (Präsident der „Internationalen Liga für Menschenrechte“) FriedensJournal: Herr Gössner, in einem Beitrag, der vor fast drei Jahren im Friedensjournal erschienen ist, haben Sie – nach dem Terroranschlag von Madrid geschrieben: „Insgesamt bietet die neuerliche Sicherheitsdebatte zwar Erschreckendes, aber wenig Neues. Alles wurde bereits einmal gefordert oder geplant. Es bedurfte offenbar nur eines neuen Terroranschlages, um die Pläne zu befördern“. Soweit das Zitat. Was gibt es denn aktuell für konkrete Anlässe zugunsten eines totalen Überwachungsstaates? Rolf Gössner: Der „konkrete Anlass“ für weitere Nachrüstungsmaßnahmen und Gesetzesverschärfungen ist die allgemeine Bedrohungskulisse nach 9/11, London und Madrid, die immer wieder aufs Neue beschworen wird. Schließlich gilt auch Deutschland als Teil eines globalen Gefahrenraums, wobei es hierzulande keinerlei konkrete Bedrohungen durch den „islamistischen Terrorismus“ gibt, lediglich eine abstrakte Gefährdung. Die Gefahrenlage verschlechtert sich allerdings immer dann, wenn die Politik wieder mal ihren Teil dazu beiträgt – etwa durch den jüngsten Beschluss, mit dem Einsatz von Tornados der Bundeswehr in Afghanistan einen aktiven Kriegsbeitrag zu leisten. Das erhöht die Anschlagsgefahr auch hierzulande. Und dagegen will man sich wappnen: mit „more of the same“, wie dem „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ von Ende 2006, aber auch mit heiklen strukturellen Veränderungen im System der Inneren Sicherheit. FriedensJournal: Was daran ist heute gegenüber früheren Plänen als neu bzw. als neue Qualität anzusehen? Rolf Gössner: Da sind gerade die fatalen Strukturveränderungen in der „Sicherheitsarchitektur“ zu nennen: Etwa die neue „Antiterrordatei“, die sowohl von der Polizei als auch von allen Geheimdiensten bestückt und gemeinsam genutzt wird. Damit ist eine Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten verbunden und in letzter Konsequenz die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten – immerhin eine bedeutsame Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit, die sowohl geheimdienstlich als auch exekutiv tätig war. Mit dem „Trennungsgebot“ sollte ursprünglich in Westdeutschland eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate sowie eine neue Geheim-Polizei verhindert werden. Mit der Antiterrordatei wächst zumindest partiell zusammen, was nicht zusammen gehört, wird eine wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt. Auch die neuesten digitalen Horrorpläne des Bundesinnenministers bedeuten eine neue „Qualität“: etwa die heimliche Online-Durchsuchung von Computern via Internet mit Hilfe von polizeilichen „Bundestrojanern“ – eine kaum kontrollierbare Maßnahme mithöchster Eingriffsintensität; die längerfristige Speicherung von Telekommunikationsdaten aller Nutzer auf Vorrat, um sie für Ermittlungsbehörden zugänglich zu halten; des Weiteren die Einrichtung von zentralen Referenzdateien mit Gesichtsbildern und Fingerabdrücken, Dateien, die sich aus den biometrischen Ausweisdaten speisen und die für Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung genutzt werden sollen, möglicherweise sogar zur Prävention. Mit dieser Vorratsdatenspeicherung werden praktisch alle Bürger/innen unter Generalverdacht gestellt. Hier werden schwere Schläge gegen die informationelle Selbstbestimmung mit systemsprengender Wirkung geplant. FriedensJournal: Nun hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich das Abschießen ziviler Passagierflugzeuge verboten. Ebenso ausdrücklich hat der Bundesgerichtshof die Online-Durchsuchung von Computern für illegal erklärt. Für jemanden, der den Glauben an unsere Verfassung noch nicht verloren hat, ist es deshalb kaum vorstellbar, dass Schäuble unverdrossen seine Pläne weiterverfolgt. Die beängstigende Frage stellt sich doch: Werden wir von einer Großen Koalition aus Verfassungsfeinden regiert? Rolf Gössner: Manchmal hat es den Eindruck – wobei wir wahrlich nicht verwöhnt sind, denken wir nur an Otto Schily und die rotgrüne Vorgängerregierung zurück. Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mussten jedenfalls in den letzten Jahren mehrfach Gesetze und Maßnahmen für verfassungs- oder gesetzeswidrig erklären - erinnert sei nur an den Großen Lauschangriff mit elektronischen Wanzen in und aus Wohnungen, an die Überwachungsbefugnisse des Zollkriminalamtes (beide 2004), die präventive Telekommunikationsüberwachung, den Europäischen Haftbefehl (beide 2005), den Fluggast-Datentransfer an US-Sicherheitsbehörden, die Befugnis zum präventiven Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs durch das Militär im Luftsicherheitsgesetz (beide 2006) – eine staatliche Lizenz zur gezielten Tötung von unschuldigen Menschen. Auch die exzessiven Rasterfahndungen nach „islamistischen Schläfern“ sind für unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig erklärt worden (2006) und heimliche Online-Durchsuchungen von Computern für illegal (2007). Trotz dieser beeindruckenden Anzahl verfassungswidriger Gesetze und Maßnahmen hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Chuzpe, zu behaupten: „Sie können sicher sein, dass wir uns immer im Rahmen der geltenden Rechtsordnung halten.“ Dieser „Verfassungsminister“ hat schon länger den Boden des Grundgesetzes verlassen. Die hohe Anzahl verfassungswidriger Gesetze und Maßnahmen, aber auch der seinerzeit von Deutschland mitgeführte völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien und die deutsche Beihilfe zum Völkerrechtsverbrechen gegen den Irak, verweisen auf ein Verfassungs- und Völkerrechtsbewusstsein in der politischen Klasse und in mancher Sicherheitsbehörde, das im Zuge der Terrorismusbekämpfung immer mehr zu schwinden scheint – strenggenommen ein Fall für den „Verfassungsschutz“. Eine höchst beunruhigende Entwicklung, zumal die verantwortlichen Politiker nicht selten unverhohlene Verachtung gegenüber solchen Gerichtsentscheidungen zeigen und ankündigen, die Urteile etwa mit Gesetzesnovellierungen oder Grundgesetzänderungen unterlaufen zu wollen. FriedensJournal: Aktuell werden wir daran gewöhnt, dass die Bundeswehr zunehmend grundgesetzwidrig an Angriffskriegen beteiligt und dieses zum Normalzustand deklariert wird. Wie sieht es parallel dazu mit Bundeswehreinsätzen im Inneren aus – mit oder ohne Grundgesetzänderung? Rolf Gössner: Seit Jahren erleben wir nicht allein eine Militarisierung der Außenpolitik, sondern auch der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland steht – obwohl hierzulande Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind. Doch Innenminister Schäuble und Verteidigungsminister Franz Josef Jung sind wild entschlossen, die Bundeswehr nicht etwa nur im Notstandsfall nach den Notstandsgesetzen, sondern regulär als nationale Sicherheitsreserve im Inland einzusetzen, um damit die Polizei zu stärken – wobei es nicht etwa nur um Objektschutz gehen soll, sondern um den „Schutz der Bevölkerung vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen“. Zu diesem Zweck soll die verfassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei per Grundgesetzänderung vollends aufgehoben werden. Und es gibt bereits Pläne – so etwa im neuen „Weißbuch“ des Verteidigungsministeriums -, den „Verteidigungsfall“ nach Art. 87a GG per Definition vor zu verlagern, um ihn auch im Fall drohender Terroranschläge ausrufen zu können, die damit kriegerischen Angriffen von feindlichen Armeen im Sinne des Kriegsvölkerrechts gleichgesetzt würden. So will sich die Bundesregierung gegen mögliche Reaktionen auf ihre eigene, anschlagsrelevante Außen- und Kriegspolitik auch mit dem Einsatz der Bundeswehr im Innern wappnen. Kollateralschäden an der Heimatfront inbegriffen... FriedensJournal: Die letzte und wohl schwierigste Frage: Wo sehen Sie am ehesten Ansatzpunkte zur erfolgreichen Verteidigung demokratischer Rechte? Man kann schließlich nicht an allen Fronten kämpfen. Rolf Gössner: In starken politisch-sozialen Bewegungen ist die Bürgerrechtsfrage in der Regel gut verankert, denn dort geht es ja um die Inanspruchnahme dieser Rechte und um den Erhalt erfolgversprechender Aktionsbedingungen. Das heißt: Je stärker diese Bewegungen, desto stärker auch der Kampf um demokratische Rechte. In Zeiten, in denen Menschenrechte weltweit mehr und mehr als Hindernis auf dem Weg zur (vermeintlichen) Sicherheit begriffen werden, in Zeiten, in denen Menschenrechte missbraucht werden als Begründung für „humanitäre Interventionen“ – sprich für Menschenrechtsverletzungen im Namen der Menschenrechte, in solchen Zeiten sind friedens- und menschenrechtsorientierte Kräfte besonders gefordert, sich verstärkt zusammenzuschließen, um global planen und konfliktlösend intervenieren zu können – etwa im Rahmen eines europäischen oder globalen Netzwerkes für Menschenrechte und Frieden, für soziale Intervention und Deeskalation sowie für nachhaltige zivile Entwicklungsstrategien und Aufbauhilfen, für menschliche Sicherheit durch Entwicklung und demokratische Partizipation. Vielversprechende Ansätze dafür gibt es ja schon. Dabei geht es, wie gesagt, nicht zuletzt auch um die Verteidigung elementarer Freiheits- und Bürgerrechte, mit dem Ziel, die Aktionsbedingungen von nationalen und internationalen Protest- und Widerstandsbewegungen zu sichern, die für eine andere, für eine friedlichere Welt und eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung kämpfen – also für eine Welt ohne Ausbeutung, Armut und Krieg. Und nur eine solche Welt kann sowohl dem internationalen Terror als auch dem staatlichen Gegenterror den Nährboden entziehen. Das Interview führte Karl-Heinz Peil. Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist seit 2003 Präsident der „Internationalen Liga für Menschenrechte“. Mitherausgeber von „Ossietzky“ - Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft sowie des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports“ (Fischer-TB). Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“. aus: FriedensJournal Mai 2007 / Nr. 3, S. 10 ff.: Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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