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  1. Letzte Woche
  2. Bioethik im Islam – Antworten auf ethische Grenzfragen der modernen Medizin, wie Gentechnik, Organspende und Lebensverlängerung Wenn über Bioethik gesprochen wird, ist der Islam für viele kein naheliegender Gesprächspartner. Doch wer sich mit seinen Quellen, seiner Denkweise und seiner Geschichte befasst, entdeckt eine tief verwurzelte ethische Tradition, die sich mit erstaunlicher Klarheit und Tiefe auch auf moderne Fragen übertragen lässt. Der Koran und die Sunna, also die Worte und Taten des Propheten Muhammed, liefern keinen fertigen Maßnahmenkatalog. Sie eröffnen aber einen ethischen Raum, in dem sich aktuelle medizinische Herausforderungen auf spirituell durchdachte Weise verhandeln lassen. Die islamische Bioethik wächst nicht aus einem Labor, sondern aus der Frage, was es heißt, Mensch zu sein. Ein ethischer Rahmen, gewachsen aus Text und Geschichte Schon im 8. Jahrhundert begannen islamische Gelehrte, sich mit Fragen medizinischer Eingriffe auseinanderzusetzen. Sie sammelten antikes Wissen, kommentierten es, verbesserten es und stellten es in einen ethischen Rahmen. In dieser Zeit entstanden erste medizinische Werke, die nicht nur Techniken beschrieben, sondern auch deren moralische Tragweite behandelten. Der Mensch wurde nie als reines Objekt der Forschung betrachtet. Sein Körper galt als anvertrautes Gut. Diese Sichtweise zieht sich durch Jahrhunderte muslimischer Wissenschaftsgeschichte. Mit dem Aufkommen moderner Medizin verschoben sich die Fragen. Doch die Prinzipien blieben. Die Achtung vor dem Leben. Die Vorstellung, dass Heilung erlaubt ist, aber nicht um jeden Preis. Und das ständige Bemühen, neue Mittel an alten Maßstäben zu messen. Gentechnik – zwischen Hoffnung und Grenzüberschreitung In der islamischen Ethik ist der Mensch kein Schöpfer. Er ist Verwalter, nicht Eigentümer. Diese Sicht wirft bei genetischen Eingriffen heikle Fragen auf. Wenn ein Fehler im Erbgut das Leben zerstört, kann man dann eingreifen? Die meisten Gelehrten sagen ja, wenn es der Heilung dient. Eine medizinische Therapie, die einem Kind das Leben rettet, ist kein Eingriff in Gottes Schöpfung, sondern ein Akt der Fürsorge. Aber sobald das Ziel eine vermeintliche “Optimierung“ ist, etwa zur Verbesserung des Aussehens, wird die Sache heikel. Viele islamische Ethiker ziehen hier eine rote Linie. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch erlaubt. Der Mensch darf nicht zur Ware werden. Wer Gene bearbeitet, muss wissen, wo seine Verantwortung beginnt und wo sie aufhört. Und vor allem, dass sie nicht dort endet, wo der Eingriff technisch gelingt. Organspende – das Geschenk des Lebens Im Koran steht, dass wer ein Leben rettet, die ganze Menschheit gerettet hat: „Wer es (menschliches Wesen) am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält“ (Koran, 5:32). Diese Aussage bildet den Kern vieler Fatwas, also islamischer Rechtsgutachten, die sich mit Organspenden befassen. In den letzten Jahrzehnten haben viele islamisch-geprägte Länder gesetzliche Regelungen eingeführt, die Organtransplantationen unter bestimmten Bedingungen erlauben. Die Spende darf freiwillig sein. Sie darf kein Geschäft sein. Und sie darf niemanden zum Schaden bringen. Der Tod wird dabei meist durch den Hirntod definiert. Bei unwiederkehrbarem Herz- und Atemstillstand, bei Ausfall der Hirnfunktionen gilt man als verstorben. Das führt in manchen Gemeinschaften zu Unsicherheiten, weil viele Menschen den Moment des Todes anders empfinden. Hier zeigen sich Spannungen zwischen moderner Medizin und traditionellen Vorstellungen. Trotzdem wächst die Bereitschaft zur Spende. Auch weil die Vorstellung stark ist, dass der Mensch durch seinen Tod anderen das Leben schenken kann. Nicht als Verlust, sondern als letzte gute Tat. Lebensverlängerung – wo endet das Erlaubte? Im Islam ist das Leben heilig. Aber es ist nicht absolut. Passive Sterbehilfe, also die Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen, wenn dies medizinisch keinen Sinn mehr macht, ist möglich. Auch hier gilt: Das Leben gehört nicht dem Arzt, nicht dem Patienten und nicht dem Staat. Es ist anvertraut. Und diese Verantwortung bedeutet auch, den natürlichen Tod zu respektieren. Gleichzeitig ist es verboten, das Leben absichtlich zu beenden. Aktive Sterbehilfe, Euthanasie wird von islamischen Gelehrten abgelehnt. Auch assistierter Suizid gilt als unvereinbar mit dem Glauben. Der Tod soll nicht provoziert werden, aber er darf eintreten, wenn der Körper seine Kraft verliert. Hier liegt eine tiefe Weisheit: Der Mensch darf loslassen, wenn die Zeit gekommen ist. Einzelfall entscheidet In solchen komplexen Fragen gibt es keine Schablonen. Jeder Fall bringt eigene Umstände, Gefühle und Grenzen mit sich. Der Islam erkennt das an. Statt starrer Regeln entwickelt er Entscheidungsprozesse. Gelehrte, Ärzte, Betroffene und Familien beraten gemeinsam. Sie schauen, was medizinisch möglich, ethisch vertretbar und spirituell tragbar ist. Dabei orientieren sie sich an Grundprinzipien wie dem Schutz des Lebens, der Absicht hinter der Handlung und dem Maß des Zumutbaren. Es geht nicht darum, alles gleich zu entscheiden, sondern gerecht. Der Islam hat über Jahrhunderte Strukturen geschaffen, die genau das ermöglichen. Fatwas, also individuelle Rechtsgutachten, sind ein Ausdruck dieser Haltung. Sie entstehen aus Abwägung, Beratung und Verantwortung, nicht aus Automatismus. Zwischen Wissenschaft und Gewissen Die islamische Bioethik bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits akzeptiert sie medizinischen Fortschritt. Andererseits bleibt sie wachsam gegenüber seinen Schattenseiten. Sie stellt Fragen, wo andere nur Möglichkeiten sehen. Sie prüft, wo andere handeln. Und sie erkennt, dass nicht jede Antwort in einem Labor gefunden werden kann. Wer den Islam als Gesprächspartner in bioethischen Debatten ernst nimmt, findet keine einfachen Lösungen, aber eine klare Haltung. Eine, die sich nicht versteckt, aber auch nicht aufdrängt. Eine, die den Menschen sieht, mit all seiner Zerbrechlichkeit. Und eine, die an das Leben glaubt, nicht als Besitz, sondern als Vertrauen. Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Dezember 2025
  3. Modern dünyada toplumsal yapıların çok boyutlu bir dönüşüm geçirdiği bir gerçekliktir. Bu dönüşümün en belirgin görünümlerinden biri, bireylerin ve toplulukların fiziksel ve toplumsal ötekilikten, politik ve sosyal yerliliğe uzanan karmaşık yolculuklarıdır. Almanya gibi çokkültürlü bir toplumda bu süreç, gurbetçilikten göçmenliğe ve oradan da yeni yerliliğe geçişi ifade eden bir dinamik örgüyü barındırır. İşte bu karmaşık yolculuk, sadece bireysel ve toplumsal kimliklerin yeniden inşa edilmesiyle sınırlı kalmaz; aynı zamanda politik katılım ve kolektif bir gelecek inşa etme noktasında da kritik bir öneme sahiptir. Almanya'da şu an yaşayan ve Alman vatandaşlığını kazanarak politik katılım hakkına sahip olmuş 1 milyon 300 binden fazla Türk asıllı birey bulunmaktadır. Ancak, bu sayının sadece yüzde 20'ye yakın bir kesiminin sandığa gitmesi hem politik hem de sosyolojik bir problemin varlığını gözler önüne sermektedir. Bu ilgisizliğin ardında yatan nedenleri anlamak için sosyolojik ve psikolojik bir perspektiften yaklaşmak önem arz etmektedir. Toplumsal Yerellik ve Katılım: Bir Kimlik Sınavı Gurbetçilikten göçmenliğe geçişte bireyler, yabancı bir toprağa fiziksel olarak yerleşmekle kalmaz, aynı zamanda toplumsal ve kültürel özneliklerini de yeniden tanımlamak zorunda kalırlar. Bu, kimlik sürekliliği ve aidiyet duygusunu etkileyen önemli bir uyum sürecidir. Psikolojik olarak, bu bireyler kendilerini hem geldikleri kültüre hem de yerleştikleri topluma ait hissetmek için iki uçlu bir çatışma yaşarlar. Politik katılım, bu aidiyetin somut bir göstergesidir; zira bir bireyin oy kullanması, kendisini toplumsal bir aktör olarak kabul etme ve edilme beyanıdır. Ancak, Almanya'da Türk asıllı seçmenlerin düşük oranda oy kullanmaları, özellikle toplumsal yerlilik hissinin tam anlamıyla yerleşmediğini göstermektedir. Bu durum hem kültürel olarak ötekileştirilme kaygısı hem de politik sistemin yabancısı olma algısıyla ilişkilidir. Almanya'da birçok Türk kökenli birey, kendilerini bu politik arenada yetersiz ya da etkisiz hissedebilir ve bu algı, pasif bir duruş sergilemelerine neden olabilir. Psikolojik Faktörler: Aidiyet ve Motivasyon Psikolojik açıdan bakıldığında, seçmen katılım oranlarını etkileyen bir dizi bireysel ve toplumsal faktörün varlığını gözlemlemek mümkün. Aidiyet duygusu, bu faktörlerin başında gelmektedir. Oy kullanmayan bireylerin birçoğu, bulundukları topluma karşı yabancılık hissi beslemekte ya da o toplumda herhangi bir fark oluşturabileceklerine dair inanca sahip olmamaktadır. Bu durum, özellikle toplumsal ayrımcılık deneyimleriyle pek çok kez karşılaşan bireylerde daha da belirgin hale gelir. Motivasyon eksikliği ise bir başka önemli etkendir. Bireylerin politik katılımın anlam ve önemine dair bilgi eksikliği ya da bu katılımın somut bir değişim oluşturmayacağına dair yaygın inanç, seçimlere ilgisiz kalmalarına yol açabilir. Bu noktada, toplumsal bilinçlendirme kampanyalarının önemi öne çıkmakta, bireylerin hem politik hem de sosyal olarak daha etkin bir rol oynamaları için cesaretlendirilmesi gerekmektedir. Ortak Gelecek ve Politik Katılımın Rolü Bir toplumun ortak geleceği, bireylerin politik ve sosyal katılımıyla şekillenir. Almanya'da Türk asıllı bireylerin politik katılım oranlarını artırması, sadece kendi topluluklarının çıkarlarını savunmaları açısından değil, aynı zamanda çokkültürlü ve kapsayıcı bir Alman toplumunun inşa edilmesi açısından da kritik bir öneme sahiptir. Politik katılım, ayrımcılığa karşı bir direnç mekanizması olmanın ötesinde, toplumsal eşitlik ve dayanışma anlayışının yerleşmesinde de önemli bir araçtır. Sonuç olarak, gurbetçilikten göçmenliğe ve yeni yerliliğe geçiş süreci, sadece bireysel bir uyum meselesi değil, aynı zamanda toplumsal bir dönüşüm ve ortak bir geleceğin inşa edilme yolculuğudur. Bu yolculukta politik katılım hem bireysel hem de toplumsal öznelliğin belirginleştiği bir alan olarak karşımıza çıkmakta, seçimlere katılma oranlarını artırmak ise hepimizin sorumluluğu olarak görülmektedir. Dr. Cemil Şahinöz, Referans Dergisi, Mart 2025
  4. Früher
  5. Milli Görüs IGMG hat ein eigenes Halal Zertifikat: EHZ. Die Sucuk Marken Selam und Afiyet haben dieses Zertifikat.
  6. (19.11.2025) Amerika’daki Müslümanlar: Çeşitliliğin Fotoğrafı Avrupa´ya nazaran, Amerika Birleşik Devletleri’ndeki Müslüman topluluk dikkat çekici derecede heterojen. Dünyada çok az ülke ABD kadar farklı kimlikleri, kökenleri ve hikâyeleri bir arada barındırır. Buna rağmen Amerikan toplumunda Müslümanların çoğu zaman tek tip insanlar gibi sunulması, bu zengin çeşitliliği gölgeleyen bir basmakalıptır. Oysa gerçekler çok daha renkli ve katmanlıdır. Anketler, Amerika’daki Müslümanların etnik açıdan ülkenin en çeşitli gruplarından biri olduğunu gösteriyor (Khan, 2025). Kendi ifadeleriyle %25 ila %33’ü Siyah, %30 ila %33’ü Güney Asyalı, %25’i Arap dünyasından veya Kuzey Afrika’dan, %18 ila %24’ü Batılı, %5 ila %7’si ise Latin kökenli olduğunu belirtiyor. Latin Müslümanların sayısının 2025 itibarıyla 4,5 milyona ulaşacağı tahmin ediliyor. Bu da toplam nüfusun yaklaşık %1,3’ü anlamına geliyor. Bu tablo, Amerika’nın hem göç geçmişini hem de yeni dinî ve kültürel geçiş süreçlerini yansıtan geniş bir insan mozaiği ortaya koyuyor. Amerikalı Müslüman topluluk, genel ülke nüfusuna göre daha genç bir demografiye sahip. Müslümanların %15’i 18 ila 29 yaş arasında bulunuyor. Bu oran Hristiyan Amerikalılarda %14. Yalnızca 65 yaş üstü grupta Müslüman nüfus daha az temsil ediliyor. Ortalama yaş 35. Amerika genelindeki 47 yıllık ulusal ortalamanın belirgin biçimde altında. Bu genç profil hem yüksek doğum oranlarını hem de gençler arasında İslam’a yönelimin bir göstergesi. Eğitim seviyesi ülke ortalamasının üzerinde. Müslümanların %46’sı üniversite ya da daha yüksek bir diplomaya sahip. Özellikle mühendislik, tıp ve bilim alanlarında güçlü bir varlıkları var. Ülke genelinde yaklaşık 50 bin Müslüman doktor görev yapıyor. Bununla birlikte ekonomik durum etnik kökene, göç kuşağına ve yaşanılan bölgeye göre oldukça değişiyor. Topluluğun yaklaşık üçte biri düşük gelir grubunda yer alıyor. Buna karşın yıllık geliri 100 bin doların üzerinde olan Müslümanların oranı %22. Bu geniş gelir skalası tarihi göç dalgalarının, yeni ekonomik fırsatların ve topluluk içi sosyal ağların yansımaları olarak değerlendiriliyor. Özellikle New York, Kaliforniya, New Jersey ve Michigan gibi büyük şehirlerde yoğun Müslüman nüfus bulunuyor. Bu topluluk tek bir kalıba sığmıyor. Etnik köken, sınıf, mezhep ve tarihsel tecrübe gibi faktörler içinde çeşitli alt gruplar oluşturuyor. Afro Amerikalı Müslümanlar, Malcolm X ve Nation of Islam gibi hareketlerin mirasından gelen güçlü bir tarihsel hafızaya sahip. Sosyal adalet, eşitlik ve toplumsal farkındalık Amerikalı müslümanlar için temel kavramlar. Güney Asyalı Müslümanlar profesyonel alanlarda, özellikle akademi ve teknik sektörlerde yaygın. Birçok aile hem ABD içindeki başarı ağlarını hem de Güney Asya’daki akrabalarla güçlü bağlarını koruyor. Arap kökenli Müslümanlar özellikle Michigan ve Ortabatı’da yoğunlaşıyor. Orada kurulan cami ve merkezlerle hem dini hem kültürel mirası canlı tutuyorlar. Latin Müslümanlar ise Amerika’nın en hızlı büyüyen Müslüman grubu. Genişlemeleri çoğunlukla göçle değil, din değişimiyle gerçekleşiyor. İslam’ı kendi kültürel gelenekleriyle harmanlayan canlı bir topluluk oluşturuyorlar. Ortabatı ve Apalaş bölgesindeki Müslüman topluluklar ise daha Avrupaî bir yapıya sahip. Geleneksel aile değerlerini ve gençlerin yerel toplumla uyumunu önemsiyorlar. Amerikan Müslümanları, Amerika’nın kültürel çeşitliliğini en canlı biçimde yansıtan bir ayna niteliği taşıyor. Genç, dinamik, çok kültürlü ve çok katmanlı yapılarıyla hem Amerikan toplumunun parçası hem de kendi özgün kimliklerinin taşıyıcısı olarak varlıklarını sürdürüyorlar. Dr. Cemil Şahinöz, Risale Haber, 19.11.2025 https://www.risalehaber.com/cemil-sahinoz-amerikadaki-muslumanlar-cesitliligin-fotografi-28255yy.htm Kaynak: Khan M.: Das andere Amerika: In: Islamische Zeitung, Kasım 2025, S. 20
  7. Webmaster

    Faiz ve Riba

    https://youtu.be/ML7cr5GyvL4
  8. Faschismus-Experte Jason Stanley aus Synagoge in Frankfurt geworfen: Zum Schweigen gebracht Stand: frankfurter Rundschau, 11.11.2025, 16:18 Uhr Von: Michael Hesse In der Westend-Synagoge in Frankfurt kommt es bei einer Rede des Faschismus-Experten Jason Stanley zum Eklat. Es ist ein beispielloser Eklat und ein neuer Tiefpunkt in der Diskussion über Israel und Antisemitismus in Deutschland: Der Faschismus-Theoretiker Jason Stanley hat am 9. November eine Rede in der Westend-Synagoge in Frankfurt gehalten. Seine Aussagen über Israel und Gaza sowie zum Diskursklima in Deutschland passten offenbar Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt nicht, weshalb man ihn während seiner Rede aus der Synagoge hinauswarf. Auf ihrer Homepage hatte die Gemeinde den Auftritt das Gastredners aus den USA noch so angekündigt: „Der Sohn jüdischer Schoa-Überlebender zählt zu den weltweit einflussreichsten Intellektuellen im Bereich politischer Ideologien, Antisemitismus und Erinnerungskultur.“ Marc Grünbaum, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, betonte da noch: „Als Jüdische Gemeinde ist es uns ein besonderes Anliegen, diese Themen sichtbar zu machen und Stimmen wie die von Stanley Raum zu geben, die sich mit großer Klarheit für Demokratie, Verantwortung und Menschlichkeit einsetzen.“ Was Stanley dann vortrug, war offenbar nicht nach dem Geschmack von Teilen des Publikums. „Ein Teil der Anwesenden hat mich regelrecht angebrüllt“, sagt Stanley im Gespräch mit der FR zwei Tage später. Es habe Phasen gegeben, in denen nur noch geschrien worden sei. Schließlich sei ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Frankfurt auf das Podium gekommen und habe ihn aufgefordert, abzubrechen und zu gehen. Er sei dann, so schildert er es, durch einen Seitenausgang aus dem Gebäude und direkt in sein Hotel zurück. Die Situation habe er als außerordentlich bedrohlich und verstörend erlebt – in dieser Form sei ihm so etwas noch nie passiert. Die Gemeinde distanzierte sich am nächsten Tag offiziell von ihm. Seine Rede enthalte „relativierende Vergleiche“. Was damit gemeint sei, blieb unklar. Stanley hält dem entgegen, in der Erklärung fehle jeder konkrete Hinweis darauf, welcher Teil seiner Ausführungen angeblich verharmlosend oder sachlich falsch gewesen sei. Eingeladen worden sei er, um über seine Familiengeschichte und die Reichspogromnacht zu sprechen, erinnert er. Nun sei er ausgerechnet am Jahrestag dieser Nacht von der Bühne gebeten worden – eine Geste, die er als grob unhöflich und, angesichts des Anlasses, auch als bitter ironisch empfinde. Stanleys Rede war kein Angriff auf Israel, keine Verteidigung der Hamas, keine politische Provokation. Sie war ein Plädoyer für die Freiheit des Denkens – und eine Reflexion über die doppelte Herkunft seiner Familie: die polnisch-jüdische Mutter, die nach dem Holocaust in Israel Schutz suchte, und den deutsch-jüdischen Vater, der jeden Staat, der Religion privilegiert, für falsch hielt. Seine Eltern, erzählt Stanley, seien in der Frage, was Israel für Juden bedeutet, grundsätzlich unterschiedlicher Auffassung gewesen: Die Mutter habe den jüdischen Staat als Zufluchtsort erlebt, der ihr zum ersten Mal das Gefühl gegeben habe, bewaffnete Kräfte stünden auf ihrer Seite. Der Vater hingegen, ein deutsch-jüdischer Intellektueller, habe einen Staat, der eine Religion bevorzugt, immer mit Skepsis betrachtet und in der Behandlung der Palästinenser als Bürger zweiter Klasse etwas erkannt, das ihn an die eigene Familiengeschichte erinnerte. Genau solche innerjüdischen Auseinandersetzungen, so betont er, müssten möglich sein und geführt werden können. „Auch Arendt könnte nicht reden“ Das war es wohl, was dem Frankfurter Publikum zu weit ging. Stanleys Rede erinnerte an eine Tradition, die älter ist als der Staat Israel – und heute in Deutschland zunehmend vergessen wird: die deutsch-jüdische Aufklärung. Moses Mendelssohn, Leo Baeck, Hannah Arendt – sie alle verbanden das Besondere mit dem Allgemeinen, die Erfahrung des Jüdischen mit der Idee der Menschheit. „Das Judentum“, schrieb Leo Baeck 1905, „spricht vom guten Menschen, nicht vom guten Juden.“ Religion sei nicht Bekenntnis, so Stanley, sondern Verantwortung. Aus dieser Ethik erwuchs die Überzeugung, dass kein Mensch bevorzugt werden dürfe – auch nicht die eigenen Leute. Genau diese universalistische Haltung gilt heute in Deutschland als verdächtig, befand Stanley. Masha Gessen, jüdische Publizistin und Holocaust-Nachfahrin, sollte in Bremen den Hannah-Arendt-Preis erhalten. Die Preisverleihung wurde abgesagt, weil Gessen in einem Essay eine Analogie zwischen Gaza und dem Warschauer Ghetto gezogen hatte. Hannah Arendt selbst hätte Ähnliches geschrieben – und wohl denselben Skandal ausgelöst, vermutet der Faschismus-Experte in seiner Rede in Frankfurt. Stanley formuliert es so: Eine Denkerin wie Hannah Arendt hätte mit ihren Texten in der aktuellen deutschen Debatte kaum noch eine Bühne, für Albert Einstein, der sich für einen binationalen Staat einsetzte, gelte das Gleiche. Die Reaktion der jüdischen Gemeinde am 9. November zeigt es allzu klar: Wer Israels Politik kritisiert, gerät rasch in den Verdacht des Antisemitismus – selbst dann, wenn er selbst jüdisch ist. Damit nehmen sich nichtjüdische Mehrheiten faktisch das Recht heraus zu definieren, wer als „richtiger Jude“ zu gelten habe. Stanley sagt, ihm sei von Kindesbeinen an vermittelt worden, genau dieses Verhalten sei antisemitisch – und besonders schwer erträglich werde es, wenn es ausgerechnet von Deutschen komme. Neue autoritäre Empfindlichkeit Stanley gehört zu jenen Philosophen, die Widersprüche nicht glätten, sondern aushalten. Als er die USA nach Trumps Wahlsieg verließ, warnte er vor einem Rückfall in bekannte faschistische Muster: die Konstruktion von Feindbildern, der Opfermythos, die Sehnsucht nach ethnischer Homogenität. Dieselben Mechanismen seien heute weltweit zu beobachten – auch in Deutschland. Besorgniserregend sei, so formuliert er es, dass jüdische Stimmen offenkundig nicht mehr selbstverständlich kontrovers diskutieren könnten, ohne zum Schweigen gebracht zu werden. Zur Meinungsfreiheit gehöre, dass eine Rede überhaupt gehalten und zu Ende gebracht werden dürfe. Der Liberalismus, den Stanley verteidigt, ist nicht bequem. Er verlangt, die eigenen Ängste nicht zum moralischen Maßstab zu erheben. Er verlangt, zwischen Antisemitismus und Kritik zu unterscheiden. „Das, was am 9 November in der Synagoge passiert ist, macht mich traurig und wütend! Jason Stanley so zu behandeln, ist einer liberalen jüdischen Gemeinde nicht würdig!“, sagte Daniel Cohn-Bendit der FR. Der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz bezeichnete den Vorgang als „unglaublich“. Er sagte der FR: „Der Vorfall in der Frankfurter Synagoge steht nicht für sich allein. Er markiert vielmehr den vorläufigen Höhepunkt einer schleichenden Verschärfung des öffentlichen Klimas, in dem über Israel, Gaza und Antisemitismus kaum noch frei gesprochen werden kann. Immer häufiger werden Redner ausgeladen, Debatten abgebrochen, Veranstaltungen gesprengt – mit der Begründung, Kritik an der israelischen Regierung könne antisemitisch verstanden werden.“ Benz verwies im Gespräch mit der FR auf den Fall des israelischen Philosophen Omri Böhm, „der auf Betreiben des israelischen Botschafters von einem Weimarer Podium ausgeladen wurde, noch bevor er überhaupt das Wort ergriffen hatte. Die frühere Präsidentin der Freien Universität Berlin, die zum 75. Jahrestag der christlich-jüdischen Gesellschaft sprechen sollte, kündigte an, sie werde den Gaza-Krieg erwähnen. Man versicherte ihr, das sei in Ordnung. Als sie dies dann tatsächlich tat, verließen einige Funktionäre demonstrativ den Saal.“ Formularbeginn Formularende All dies seien Symptome einer neuen, autoritären Empfindlichkeit, so Benz. „In der deutschen Debatte über Israel scheint sich ein Monopol herauszubilden: Richtig ist, was der Zentralrat, was offizielle Repräsentanten der Gemeinden für richtig erklären. Alles andere, jede Abweichung, gilt als verdächtig, als ,Relativierung‘, als latent antisemitisch“, erklärte Benz. „Wer in diesem Klima Differenz wagt, riskiert nicht nur Widerspruch, sondern soziale Ächtung. Viele, auch jüdische Intellektuelle, ziehen sich deshalb aus öffentlichen Debatten zurück, um nicht zum Gegenstand moralischer Verdächtigungen zu werden. Unter sich wird dann leise und mit bitterer Klarheit gesprochen – über den Krieg in Gaza, über die Eskalation, über das, was unaussprechlich scheint. Doch in der Öffentlichkeit herrscht Schweigen.“ Gerade darin liege die eigentliche Gefahr. Denn wenn eine Gesellschaft abweichende Meinungen nicht mehr erträgt, wächst das Ressentiment im Verborgenen. Der alte Mechanismus, den schon Theodor W. Adorno und Gordon Allport beschrieben: Unterdrückte Gedanken verschwinden nicht, sie verwandeln sich in Abneigung – in diesem Fall in latenten Antisemitismus, genährt durch das Gefühl, man dürfe ,über die Juden nichts sagen‘“. Das sei die paradoxe Dynamik unserer Gegenwart: „Aus Angst vor Antisemitismus droht Deutschland ein Diskursklima zu entwickeln, das selbst Ressentiments befördert. Und ausgerechnet jene, die im Namen der Erinnerung reden, verengen den Raum der Rede.“ Der Eklat um Jason Stanley sei nur das sichtbar gewordene Symptom.
  9. Die Psychologie des Sündigens – Warum wir das Falsche tun, obwohl wir es besser wissen Wenn der Mensch auf sein Herz und sein Gewissen hört, weiß er oft, was richtig und was falsch ist. So sagte eins der Prophet Muhammed: „Höre auf dein Herz. Das Gute ist das, was dir unbeschreibliche Erleichterung und Glücksgefühle verschafft, wenn du es tust. Das Böse hingegen ist etwas, das etwas in dir zerstört und ruiniert, auch wenn die Leute hierfür eine Fatwa geben (und sagen, es sei das Richtige)“ (Darimi, Büyü, 2). Trotzdem entscheidet sich der Mensch manchmal bewusst für das Falsche. Diese Spannung zwischen Erkenntnis und Handlung ist alt. Sie zieht sich durch alle Religionen, Philosophien und psychologischen Modelle. Besonders im Glaubensleben wiegt sie aber schwer. Hier stellt sich nämlich die Frage, warum ein Gläubiger bewusst sündigt, obwohl er an eine jenseitige Strafe glaubt und das Paradies ersehnt? Warum entscheidet er sich also für etwas, das ihm langfristig schadet? Um diese Fragen zu verstehen, müssen wir uns mit der Psychologie des Menschen selbst beschäftigen. Mit seinen Widersprüchen, seiner Schwäche, seinen Trieben und seinem Verstand. Und mit der Tatsache, dass der Mensch nicht immer ein rationales Wesen ist. Die Trägheit der Seele Said Nursi, ein islamischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, bringt es auf den Punkt. In einem seiner zentralen Werke beschreibt er das menschliche Innenleben so: „Da die menschliche Triebseele einen winzigen Augenblick des Vergnügens dem vielfachen Lohn eines zukünftigen Vergnügens vorzieht, so fürchtet sie sich auch vor einem unmittelbar drohenden Schlag mehr als vor einem Jahr einer künftigen Strafe. Und wenn zudem den Menschen seine Gefühle überwältigen, hört er nicht mehr auf die Erwägungen seines Verstandes. Seine Begierden und Illusionen beherrschen ihn und so zieht er das kleinste und bedeutungsloseste gegenwärtige Vergnügen selbst noch einer außerordentlich großen Belohnung in der Zukunft vor. Und er flieht vor einer geringen gegenwärtigen Unbequemlichkeit mehr als vor einer fürchterlichen künftig drohenden Qual. Denn Begierden, Illusionen und Emotionen kennen keine Zukunft, vielmehr leugnen sie diese. Und wenn die Triebseele sie auch noch unterstützt, schweigen das Herz als Sitz des Glaubenslebens und auch der Verstand und erklären sich für besiegt“ (Nursi, k.A., S. 148). Nursi beschreibt hier ein psychologisches Phänomen, das heute als “Belohnungsaufschub“ bekannt ist. Es meint die Fähigkeit, eine sofortige kleine Belohnung aufzuschieben, um später eine größere zu bekommen. Genau diese Fähigkeit fehlt oft in Momenten der Schwäche. Das erklärt, warum Menschen sich für das Falsche entscheiden, auch wenn sie wissen, dass es ihnen langfristig schadet. Studien belegen die Schwäche gegenüber der sofortigen Belohnung Die berühmteste Studie zum Thema ist das “Marshmallow-Experiment“ an der Stanford University aus den 1970er-Jahren. Kinder bekamen die Wahl: einen Marshmallow jetzt oder zwei, wenn sie etwas warten. Viele konnten nicht warten. Sie aßen sofort. Nur rund 30 % der Kinder schafften es, zu warten (Mischel, Ebbesen, 1970). Spätere Studien zeigten, dass diejenigen, die warten konnten, als Erwachsene erfolgreicher und stabiler waren (Shoda, Mischel, Peake, 1990). Auch in der Neuropsychologie ist bekannt, dass das limbische System, zuständig für Emotionen und kurzfristige Reize, sofort aktiviert wird, wenn eine Versuchung auftritt. Der präfrontale Kortex, der für langfristige Planung zuständig ist, braucht länger. In der Zeit, in der das Gehirn noch abwägt, hat der Mensch sich oft schon entschieden. Daher erscheinen die Bestrafung im Jenseits und die Belohnung im Paradies dem Menschen zu fern. Sie sind wie Zukunftsversprechen, die keine Wirkung mehr entfalten, wenn die Versuchung direkt vor ihm steht. Ein Klick, ein Blick, ein Wort, das reicht, um Vernunft und Glauben zu übertönen. Es ist leichter zu zerstören als zu bauen Eine zweite Komponente bei der Wahl des Falschen ist, dass dies immer leichter ist, als das Gute zu tun. Hierzu schreibt Nursi, „dass der Weg allen Übels und aller Leidenschaften, da er die Zerstörung ist, auch besonders einfach ist. […] (Versuchungen) leiten die Menschen rasch auf diesen Weg“ (Nursi, k.A., S. 148). Es ist in der Tat viel einfacher das Falsche zu tun, als das Gute zu tun. Das Böse braucht keine Anstrengung. Es fließt aus dem Menschen, wenn er loslässt. Gutes hingegen verlangt Disziplin, Bewusstsein, Opferbereitschaft. Eine gute Tat braucht Planung, Kraft, Geduld. Eine Sünde passiert beiläufig. Dazu kommt die zerstörerische Rolle der Gesellschaft, wenn schlechte oder kriminelle Taten verharmlost oder normalisiert werden. Dadurch wird der Mensch ständig in Versuchung geführt. Wenn er nicht wachsam ist, driftet er ab, ohne es zu merken. Die Niederlage des Verstandes Wichtig ist hier jedoch auch, dass „Sünden nicht aus einem Mangel an Glauben, sondern infolge einer Niederlage von Herz und Verstand, weil die Gefühle, Begierden und Illusionen die Oberhand gewonnen haben“, entstehen (Nursi, k.A., S. 148). Der Glaube ist also da, aber er schweigt. Die Gefühle haben gesiegt. Diese Erkenntnis ist wichtig. Sie zeigt, dass Sünde nicht immer ein Ausdruck von Leugnung ist. Oft ist sie Ausdruck von menschlicher Schwäche, von einem kurzen Moment der Überforderung. Wer das versteht, kann barmherziger mit sich selbst und anderen sein. Aber auch entschlossener in der Bekämpfung der eigenen Neigungen. Denn die Triebseele will nicht warten. Sie will jetzt. Fazit Ein Gläubiger sündigt, obwohl er glaubt. Das liegt nicht an fehlender Überzeugung, sondern an der Natur seiner Psyche. Der Mensch zieht das Jetzt dem Später vor. Er fürchtet sich mehr vor dem Schmerz im Moment als vor der Strafe in ferner Zukunft. Er lässt sich überwältigen von Trieben, die keinen Morgen kennen. Daher zieht er das augenblickliche und vergängliche Vergnügen dem ewigen und unendlichen Vergnügen in der Zukunft vor. Die Religion zeigt diesen Mechanismus. Sie warnt nicht nur vor der Sünde, sondern erklärt auch, warum wir zu ihr neigen. Wer dies versteht, kann bewusster leben. Und vielleicht beim nächsten Mal standhalten. Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, November 2025 Quellen: · Darimi: Sünen-i Darimi. Madve: Istanbul, 1994 · Mischel, W., Ebbesen, E.: Attention in delay of gratification. Journal of Personality and Social Psychology, 1970, 16 (2), S. 329–337 · Nursi S.: Blitze. VFJH: Köln, k.A. · Shoda, Y., Mischel, W., Peake, P. K.: Predicting adolescent cognitive and self-regulatory competencies from preschool delay of gratification. Identifying diagnostic conditions. Developmental Psychology, 1990, 26 (6), S. 978–986
  10. Seelsorge ist eine Menschenwürde Ein soziologisch und religionspsychologisch fundierter Beitrag Inmitten einer Gesellschaft, die sich zunehmend an Effizienz, Funktionalität und Selbstoptimierung orientiert, gerät etwas zutiefst Menschliches immer mehr in Vergessenheit: die Seelsorge. Nicht im institutionellen oder dogmatisch reduzierten Sinne, sondern als existenzieller Akt der Zuwendung zu einer Seele, die nicht mehr weiterweiß. Seelsorge ist keine Zusatzleistung oder kein spirituelles “Wellnessprogramm“, sondern ein Ausdruck von Menschenwürde und vielleicht eine der letzten Bastionen gegen die völlige Technisierung und Entseelung des Daseins. Die Soziologie der inneren Not Die moderne Gesellschaft scheint immer mehr ihre Rituale zu verlieren. Das zeigt sich nicht nur in der Entleerung von Gotteshäusern oder in der Vereinzelung des Individuums, sondern vor allem in den diffusen Formen des Leids, das sich heute äußert. Depressionen, Sinnkrisen, Burnout oder der Verlust von Selbstverortung, sie alle sind Symptome eines tieferliegenden soziologischen Problems, nämlich der Zersplitterung der Lebenswelten. Der französische Soziologe Émile Durkheim sprach bereits im 19. Jahrhundert von “Anomie“ (Durkheim, 1983), einem Zustand der Normlosigkeit, in dem das Individuum den Halt verliert, weil die gesellschaftlichen Werte nicht mehr orientierend wirken. Diese Diagnose hat heute nichts an Aktualität verloren. Doch während Durkheim noch auf kollektive Institutionen wie Religion oder Familie hoffte, die stabilisierend wirken könnten, erleben wir heute ihren fortschreitenden Zerfall. In dieser Leere bleibt das Individuum zurück, fragmentiert, überfordert, überinformiert und doch innerlich leer. Die Soziologie hat dabei lange einen Bogen um das gemacht, was sie selbst kaum fassen konnte: das spirituell existenzielle Bedürfnis des Menschen. Dabei wäre genau das ihre Aufgabe. Die Gesellschaft nicht nur als Funktionseinheit, sondern als Beziehungsgewebe zu begreifen, in dem auch das Unsichtbare seinen Platz hat und dazu gehört auch die Seele. Die Psychologie der Religion und die Wunde der Entwurzelung Die religionspsychologische Perspektive ermöglicht einen tieferen Blick auf jene innere Wunde, die viele Menschen heute mit sich tragen. Der Mensch ist nicht nur ein denkendes und handelndes Wesen, sondern auch ein deutendes. Und dort, wo Sinn fehlt, beginnt die Seele zu bluten. In der Sinnsuche ist nicht nur eine psychologische Frage (Frankl, 1946), sondern auch eine existentielle. Menschen, die im Leiden keinen Sinn finden, zerbrechen daran. Die Seele verdurstet nicht nur an fehlender Zuwendung, sondern vor allem an fehlender Deutung, denn der Mensch ist auf Sinn hin geschaffen. Wenn jedoch alle Antworten fehlen, wenn Philosophie spekuliert und Psychologie nur Verhalten regulieren will, dann entsteht ein leerer Raum, in dem das Ich nicht mehr antwortfähig ist. Seelsorge ist genau in diesem Moment notwendig. Nicht als Moralisierung oder als therapeutische Optimierung, sondern als ehrliche, mitfühlende und hörende Begleitung. Der Seelsorger ist weder Arzt noch Guru, sondern ein Mensch, der den Mut hat, beim anderen stehenzubleiben. Der den Schmerz nicht analysiert, sondern aushält. Der nicht fragt: „Wie kann ich dich reparieren?“, sondern: „Wie kann ich bei dir sein?“ Der Verlust der Transzendenz Dabei ist ein zentrales Problem unserer Zeit der Verlust der Transzendenz. Die Vorstellung, dass es etwas Größeres gibt als das eigene Selbst, ist in der postmodernen Kultur verdächtig geworden. Die Ich-Zentrierung, verkleidet als Selbstverwirklichung, hat die Fähigkeit zur Hingabe untergraben. Dabei ist es gerade das Gefühl, Teil eines größeren Zusammenhangs zu sein, das dem Menschen Trost, Halt und Hoffnung gibt. Seelsorge, verstanden im religionspsychologischen Sinne, ist daher mehr als Zuwendung, sie ist ein Ort der Transzendenzöffnung. Wer in der Not begleitet wird, spürt durch das Gegenüber nicht nur Trost, sondern manchmal auch das stille Wirken einer größeren Wirklichkeit. In diesem Sinne ist Seelsorge nicht einfach nur Beziehung. Es ist bemerkenswert, dass fast alle Religionen der Welt, vor allem das Judentum, das Christentum und der Islam, Formen der Seelsorge kennen. Diese Vielfalt zeigt, dass Seelsorge keine konfessionelle Praxis ist, sondern ein anthropologisches Grundbedürfnis. Seelsorge als Widerstand gegen die Entmenschlichung Die Gesellschaft der Zukunft wird sich daran messen lassen müssen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht, nicht nur materiell, sondern auch seelisch. Seelsorge ist hier kein Luxus, sondern ein Menschenrecht. Wer einem anderen zuhört, ohne ihn zu bewerten, wer sich an seine Seite stellt, ohne ihn zu benutzen, wer seine Tränen nicht mit Ratschlägen erstickt, sondern mit Schweigen begleitet, der handelt im tiefsten Sinne menschenwürdig. In einer Zeit, in der Maschinen Gefühle simulieren, Menschen nach Algorithmen funktionieren sollen und das Soziale in Netzwerken zu Likes verkommt, ist echte Seelsorge ein Akt der Rebellion. Sie verweigert sich der Logik des Nutzens und bleibt der Logik der Würde verpflichtet. Der Mensch ist daher kein Problem, das gelöst werden muss. Er ist ein Geheimnis, das begleitet werden darf. Seelsorge erkennt das an. Sie glaubt nicht, dass alles wieder gut wird. Aber sie glaubt, dass niemand allein gehen muss. Fazit Seelsorge ist eine Haltung, eine Form von Ethik, die nicht in Lehrbüchern steht, sondern in der Begegnung lebendig wird. Sie ist auch kein Privileg der Gläubigen, sondern ein Grundrecht jedes Menschen, gläubig oder nicht. Wer in der Tiefe seiner Not wahrgenommen, begleitet und gehalten wird, erfährt etwas, was keine App und kein Algorithmus je leisten können: die Erfahrung, dass seine Würde unantastbar ist. Genau darin liegt das Besondere der Seelsorge und ihre unersetzliche Bedeutung für unsere Zeit. Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, November 2025 Literatur Durkheim E: Der Selbstmord. Suhrkamp: Berlin, 1983 Frankl V.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Deuticke: Wien, 1946
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