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10. Mai 2009

Von Iris Gutiérrez

 

Manchmal ist simple Marktforschung erhellender als ein Dutzend Integrationsgipfel. Besonders, wenn es dabei ums Essen geht. Als kürzlich in Hannover auf einem „Halal-Symposion“ ein Redner behauptete, „für die jüngere Generation der Deutschtürken“ sei „die Einhaltung religiöser Gebote nicht so wichtig wie für die erste Generation“, meldete sich ein Zuhörer: Das könne so nicht stimmen, denn „der Absatz mit Halal-Lebensmitteln steigt“. Beifälliges Nicken im Saal.

 

Halal-Symposion? Halal-Lebensmittel? Der arabische Begriff „halal“ oder „helal“ im Türkischen bedeutet „das Zulässige, das Erlaubte“ und bezieht sich auf die ganze Lebensweise eines Muslims. Je mehr er nach der im Koran vorgeschriebenen Art lebt, desto eher kommt er im Jenseits ins Paradies. Dazu gehört auch eine entsprechende Ernährung. Das Schlachten von Tieren obliegt bestimmten Vorschriften, ähnlich wie im orthodoxen Judentum. Das Gegenstück von halal ist haram und bedeutet „das Unzulässige, das Verbotene“. Haram sind beispielsweise Alkohol und Schweinefleisch.

 

Was erlaubt ist, und was nicht

 

„Die Speisevorschriften sollen eine gesunde Ernährung fördern und das Leben der Muslime auf dem Wege Gottes erleichtern“, sagt Djavad Mohagheghi von der Islamischen Akademie Deutschland. In der Praxis allerdings ist die Sache kompliziert. So herrschte unter den etwa 90 Vertretern der Lebensmittelbranche und Wissenschaftlern, die auf Einladung der Marketinggesellschaft der Niedersächsischen Land- und Ernährungswirtschaft nach Hannover gekommen waren, um dort über die „Marktpotentiale muslimkonformer Lebensmittel“ zu diskutieren, keineswegs Einigkeit darüber, was denn nun genau unter halal zu verstehen ist - und wie man „das Erlaubte“ unter den Bedingungen der Diaspora an die Rechtgläubigen bringt.

 

Das fängt schon mit dem Schächten an. Ursprünglich sah die Halal-Vorschrift vor, dass dabei ein Muslim unter Anrufung Allahs dem nach Mekka gerichteten Tier ohne Betäubung Halsblutgefäße, Speise- und Luftröhre mit einem Schnitt durchtrennt. Betäubungsloses Schlachten ist in Deutschland aber verboten. Ausnahmeregelungen für religiöse Gruppierungen werden in den wenigsten Fällen erteilt. Grundsätzlich ist die Befürchtung islamischer Vertreter, das Tier würde durch eine Betäubung zwangsläufig sterben. Ein bereits verstorbenes Tier zu schlachten gilt aber als haram - also auch der Bolzenschuss, der in Deutschland vor der Schlachtung ins Gehirn des Tieres abgegeben wird. Als Ausweg wurde in Hannover diskutiert, ob man nicht auf andere Betäubungsarten mittels Strom oder Gas zurückgreifen solle.

 

Schweine-DNA im Traubensaft

 

Doch nicht nur bei der Schlachtung steckt der Teufel im Detail. Produkte vom Schwein sind verboten, aber in mehr Lebensmitteln zu finden, als die Liste der Inhaltsstoffe verrät. Schweinegelatine findet nicht nur Verwendung in Gummibärchen, sondern auch in Bereichen, in denen man sie nicht vermutet: Sie wird beispielsweise als Filtrierhilfsmittel zur Klärung von Apfel- und Traubensäften eingesetzt, so dass sich Spuren von Schweine-DNA im Saft wiederfinden können. Enzyme und Nährmedien, die in der Lebensmittelindustrie gebräuchlich sind, können tierischen Ursprungs sein. So sollten Nährmedien keine Schweineproteine enthalten, und Enzyme etwa für die Käseherstellung sollten nur aus den Mägen von halal geschlachteten Kälbern stammen. Produktionsanlagen dürfen nicht mit Ethanol, dem Trinkalkohol, desinfiziert werden. Und so weiter.

 

Die Liste der Halal-Vorschriften für die Lebensmittelindustrie lässt sich munter fortführen. Für Zulieferer und Hersteller ist das mitunter lästig - besonders wenn ihre Kunden einen verbrieften Nachweis darüber verlangen, dass die Produkte auch wirklich halalgerecht entstanden sind. Auch Anita Bénech, Pressesprecherin einer Hamburger Firma, die natürliche pflanzliche Lebensmittelzutaten wie Gummiarabikum oder Agar-Agar herstellt, kann ein Lied von diesen Forderungen singen. Ihre Firma kommt ihnen selbstverständlich nach - obwohl sich Bénech eine Kontamination ihres aus einer afrikanischen Akazienart gewonnenen Gummiarabikums nur vorstellen kann, „wenn sich ein Schwein an der Baumrinde in der Sahel-Zone kratzt“.

 

Hohe Kosten für Halal-Zertifizierung

 

Solche Halal-Zertifizierungen führt seit 2001 das Kleinunternehmen Halal Control aus Rüsselsheim durch. Der Geschäftsführer Mahmoud Tatari sagt, der Halal-Standard seiner Firma basiere auf Lehrmeinungen der vier existierenden sunnitischen Rechtsschulen. In seinem Team befinden unter anderen zwölf Professoren der Islamwissenschaft darüber, ob ein Produkt halal oder haram ist. Techniker, Biologen, Pharmazeuten, Lebensmitteltechnologen und -chemiker prüfen die Vorgaben vor Ort. Halal Control geht bei der Zertifizierung die gesamte Rohstoffliste durch, prüft Zulieferer, Reinigungs- und Herstellungsprozesse. Gegebenenfalls muss das geprüfte Unternehmen ganze Produktionslinien für die Halal-Lebensmittel vom restlichen Prozessgeschehen abtrennen, um Kreuzkontaminationen auszuschließen - also Spuren von Ethanol oder Schweine-DNA in der Halal-Ware.

 

Eine solche Zertifizierung kann bei Erzeugern, die mit vielen Zusätzen arbeiten, wie zum Beispiel Gewürzmischern, richtig ins Geld gehen. Die Kosten bewegen sich dann insgesamt „im unteren fünfstelligen Bereich“, sagt Tatari. Denn wo eine eigene Produktionslinie aufgebaut wird, müssen sich die Mitarbeiter in einem Vorraum komplett umziehen: Überschuhe oder neue Schuhe, neue Haube, neuer Kittel. Gerätschaften wie Rohstoffschaufeln brauchen eine „Halal“-Gravur, damit es zu keiner Verwechslung kommt. Die Kosten schlägt der Hersteller auf seine gesamte Produktpalette oder nur auf die Halal-Produkte auf.

 

Diffamierungen unter den Zertifizierern

 

Auch andere Firmen führen solche Zertifizierungen durch. Wie teuer und wie streng sie im Einzelfall erfolgen, hängt letztlich von der Zertifizierungsstelle und deren Halal-Standard ab. Gerade im Fleischbereich herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Massentierhaltung der islamischen Ethik entspricht. Manchem Zertifizierer reicht es schon aus, wenn morgens ein Muslim das Schlachtband, das nach Mekka ausgerichtet ist, unter Anrufung Allahs startet und das Geflügel im Schnellverfahren per Knopfdruck tötet. Der nächste lehnt es gänzlich ab, Schlachtereien zu zertifizieren. Denn in ihrer Ablehnung von Massentierhaltung haben „Bio“ und „Halal“ eine gemeinsame Schnittmenge, glauben manche muslimische Vertreter. Ein Händler von Produkten, die gleichzeitig bio und halal waren, musste allerdings sein Geschäft aufgeben - diese Kombination ist besonders teuer, und Kunden dafür sind rar.

 

Da der Islam in Deutschland keine Körperschaft ist, gibt es keine höhere Stelle, die die Halal-Zertifizierer offiziell anerkennen kann. Es herrscht also Wildwuchs unter den Halal-Standardgebern. Teilweise vergeben Imame in ehrenamtlicher Tätigkeit Halal-Zertifikate. Das dürfte den etwa 15 kommerziell arbeitenden Zertifizierern in Deutschland nicht passen. Auch untereinander mögen sie sich nicht besonders, das wurde auf dem Hannoveraner Halal-Symposion deutlich. Argwöhnisch wird etwa ein deutscher Halal-Standardgeber beäugt, der zusammen mit einem unabhängigen Prüfinstitut auf den Markt drängt. Offen oder hinter vorgehaltener Hand gab es persönliche Anfeindungen und Diffamierungen, die Konkurrenz wurde bezichtigt, „falsche Zertifikate“ auszustellen, „um den Absatz zu erhöhen“. Das trifft sogar zu: Tatsächlich kam es in der Vergangenheit zu Falschzertifizierungen, vor allem im Fleischbereich. Auf Verbraucherwunsch ließ Halal Control zwischen 2005 und 2007 knapp 80 Fleischprodukte, die mit „halal“ gekennzeichnet waren, auf Schweine-DNA untersuchen. Das Ergebnis, laut Tatari: 30 Prozent davon war damit kontaminiert.

 

Mehr Umsatz mit „Halal“ als mit „Bio“

 

Dass ein Wachstumsmarkt auch Betrüger anzieht, erstaunt nicht weiter. Das World Halal Forum mit Sitz in Malaysia schätzt den weltweiten Umsatz mit islamisch unbedenklichen Lebensmitteln für das laufende Jahr auf 634 Milliarden Dollar - nach 580 Milliarden Dollar im Jahr 2005. Multinationale Firmen haben den Trend längst erkannt. Von 456 Nestlé-Fabriken weltweit haben 75 eine Halal-Zertifizierung. Der Konzern verdient mit Halal-Ware mittlerweile mehr als mit Bioprodukten - im vergangenen Jahr waren das vier Milliarden Franken. Deutsche Lebensmittelhersteller, die ihre Produkte in Länder mit muslimischer Mehrheit exportieren wollen, sind besonders an einer Halal-Zertifizierung interessiert.

 

So sah man in Hannover Vertreter von Schokoladen- und Suppenwürfel-Herstellern, von Supermarktketten oder Keksfabriken. Kein Wunder: Neben dem Exportgeschäft scheint auch Deutschland mit drei Millionen Muslimen für Lebensmittel mit Halal-Stempel vielversprechend. Einige Hersteller haben das bereits erkannt. Seit vergangenem Jahr finden sich hierzulande Halal-Gummibärchen in den Regalen von knapp 4000 türkischen Kiosken, Vereinen, Internetcafés und türkischen und arabischen Supermärkten. Diese Gummibärchen enthalten statt Schweinegelatine Rindergelatine, gewonnen aus halal geschlachteten Rindern in Brasilien.

 

Keine Halal-Label auf Produkten in Deutschland: Islamphobie?

 

Nicht nur Fruchtgummi-Hersteller springen auf das „Halal-Pferd“ auf, bevor es davonreitet. Ein Kartoffelprodukthersteller stellte seine Produktion auf halal um, indem er seine Pommes frites in einem speziellen Öl frittiert. Verschiedene Joghurt-Hersteller ließen sich bescheinigen, dass ihre Produkte halal sind. Ebenso ein Kaffeeproduzent und noch einige andere Hersteller, deren Waren in deutschen und türkischen Supermärkten zu finden sind.

 

Aber im Gegensatz zu Ländern wie Malaysia, Indonesien oder den Arabischen Emiraten tragen die wenigsten Produkte in Deutschland ein Halal-Label, obwohl sie zertifiziert sind. Warum? Während Tatari hinter dieser Zurückhaltung der Unternehmen eine „gewisse Islamphobie“ vermutet, glaubt ein Nestlé-Sprecher eher, dass „zu viele Produktinformationen den Verbraucher in Deutschland verwirren“.

 

Da könnte etwas dran sein. Mancher wird gern darauf verzichten, dass seinem Joghurt neben „light“, „fettarm“, „ohne Zucker“, „fördert die Darmflora“ noch ein „halal“ aufgeklebt wird. Für andere entscheidet genau dieses Label über Kaufen oder Stehenlassen.

 

Text: F.A.S.

Bildmaterial: Daniel Nauck

 

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